Alexander Dumas
Zwanzig Jahre nachher
Alexander Dumas

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Herr Porthos du Vallon de Bracieux de Pierrefonds

D'Artagnan, der es bereits gewußt hatte, daß Porthos mit seinem Familiennamen du Vallon hieß, erfuhr durch die Erkundigungen, die er bei Aramis einholte, daß er sich nach dem Namen seines Landgutes de Bracieux nenne und daß er eben dieses Gutes wegen einen Prozeß mit dem Bischof von Noyon führe. Sonach mußte er dieses Landgut in der Umgebung von Noyon aufsuchen, nämlich an der Grenze von Isle-de-France und der Pikardie.

Um Mitternacht trafen die zwei Reisenden in Dammartin ein und setzten nach kurzer Rast und Stärkung den Ritt fort.

Als es zu tagen begann, hatten sie den größten Teil des Weges bereits hinter sich gebracht. Es war ein schöner Lenzmorgen, die Vögel sangen auf den hohen Bäumen, breite Sonnenstrahlen schimmerten durch die Lichtungen und erschienen wie Vorhänge von vergoldeter Gaze. An andern Stellen drangen die Strahlen kaum durch das dichte Laubwerk, und die Stämme der alten Eichen, auf die sich beim Anblick der Reisenden die behenden Eichhörnchen flüchteten, waren in Schatten versenkt; die ganze Luft schwamm von den Wohlgerüchen der Kräuter, Blumen und Blätter und erquickte das Herz. D'Artagnan, welcher der üblen Ausdünstungen von Paris überdrüssig war, sagte bei sich: »Führte man drei Namen von aneinander stoßenden Landgütern, so müßte man sich in einem solchen Paradiese recht glücklich fühlen.« Dann schüttelte er den Kopf und sprach: »Wäre ich Porthos, und es machte mir d'Artagnan den Antrag, welchen ich Porthos machen will, so wüßte ich schon, was ich d'Artagnan erwidern würde.« Planchet dachte an gar nichts und verdaute nur.

Nach Verlauf von zehn Minuten gelangte d'Artagnan zum Eingang einer regelmäßigen, mit hübschen Pappeln bepflanzten Allee, die zu einem eisernen Gitter fühlte, an dem die Spitzen und Querstangen vergoldet waren. Mitten in dieser Allee zeigte sich ein dem Anschein nach vornehmer Herr, der grün gekleidet, wie das Gitter vergoldet war und auf einem dicken Hengste saß. Rechts und links von ihm waren zwei Diener, an allen Nähten mit Borten besetzt, ein Haufen Gesindel brachte ihm sehr ehrfurchtsvolle Huldigungen dar. Dieser Mann entpuppte sich wenige Augenblicke später als Mousqueton, der so feist geworden war, daß seine munteren Äuglein zwischen Fettpolstern begraben zu sein schienen. Er war über d'Artagnans und Planchets Ankunft vor Freude schier außer sich und führte sie strahlend seinem Herrn zu, der seinerseits von dem unvermuteten Wiedersehen tief geruht war. D'Artagnan war angenehm überrascht, in Porthos noch den strammen, kraftvollen Kavalier wiederzufinden und war überdies froh, in der Hoffnung, diesen Mann für seine und Mazarins Pläne gewinnen zu können. Er erfuhr zu seinem Bedauern, daß Porthos' Gattin gestorben war, und wunderte sich im stillen, daß der muntere Freund so einsam lebe.

D'Artagnan rückte bald mit seinen Vorschlägen heraus und war hocherfreut, Porthos bereit zu finden, der seiner Begeisterung für den Beginn eines neuen Abenteurerlebens mit ungebundener Fröhlichkeit Ausdruck gab. Er fragte sogleich, ob Aramis und Athos auch mittun wollten, und erfuhr, daß ersterer wegen seines Priesterberufes abgelehnt hätte, während d'Artagnan Athos' Wohnort bisher unbekannt geblieben wäre. Hier konnte Porthos aus der Verlegenheit helfen, da er wußte, daß Athos auf seinem gräflichen Besitz Bragelonne bei Blois hauste. Was übrigens Porthos für d'Artagnans Vorschlag besonders begeisterte, war das Versprechen, daß Mazarin seine künftigen Verdienste durch Verleihung der Baronie belohnen wolle, was ihm, der ein bißchen ruhmsüchtig war, sehr verlockend schien. Mousqueton war, im Gegensatz zu seinem Herrn, über diese Ruhestörung sehr entsetzt und schien nun d'Artagnan nicht mehr gewogen, als Bazin, der Diener Aramis', es gewesen war.

D'Artagnan und Planchet waren nach nicht unbeschwerlicher Reise in die Nähe des Schlosses la Vallière gekommen, das man ihm als den Sitz Athos' bezeichnet hatte. Von dem Waldweg, auf dem sich die beiden befanden, sah man bereits das schwere Gittertor, das zu dem gesuchten Schloß zu führen schien. Der Musketier ritt noch einige Schritte weiter, bis er sich dem Gittertor gegenüber befand, das dem Geschmacke der damaligen Gießerei Ehre machte. Man erblickte durch dieses Gitter sorgsam bestellte Küchengärten, einen geräumigen Hof, auf dem mehrere Bediente in verschiedenen Livreen stampfende Reitpferde hielten, und wo eine mit zwei Rossen bespannte Kutsche stand.

»Wir irren, oder dieser Mann hat uns getäuscht,« sagte d'Artagnan, »hier kann Athos nicht wohnen. Mein Gott! er ist etwa gestorben und es gehört dieses Besitztum irgendeinem seines Namens? Steige doch ab, Planchet, und frage, denn ich bekenne, daß ich hierzu nicht den Mut habe.« Planchet stieg vom Pferde. »Setze bei,« sagte d'Artagnan, »ein reisender Edelmann wünsche die Ehre zu haben, dem Herrn Grafen de la Fère seine Aufwartung zu machen, und bist du mit der Auskunft zufrieden, dann – magst du meinen Namen nennen.«

Planchet führte sein Pferd am Zügel, näherte sich dem Tore, läutete die Glocke am Gitter, und allsogleich kam ein Bedienter mit Weißen Haaren, von gerader Gestalt ungeachtet seines hohen Alters, und empfing Planchet. »Wohnt hier der Herr Graf de la Fère?« fragte Planchet. »Ja, mein Herr, er wohnt hier,« gab der Diener, der keine Livree trug, Planchet zur Antwort. »Ist es ein Herr, der sich vom Dienste zurückgezogen hat?« »Es ist derselbe.« »Und der einen Bedienten hatte namens Grimaud?« fragte Planchet weiter, der bei seiner gewohnten Vorsicht nicht genug Erkundigungen einziehen zu können glaubte. »Herr Grimaud ist eben vom Schlosse entfernt,« entgegnete der Bediente, der an solche Ausforschungen nicht gewohnt war und anfing, Planchet vom Kopf bis zu den Füßen zu beschauen. »Nun sehe ich,« rief Planchet freudestrahlend aus, »es ist wirklich derselbe Graf de la Fère, welchen wir suchen. Wollt Ihr so gefällig sein und das Tor aufschließen, da ich dem Herrn Grafen zu melden wünsche, mein Herr, ein ihm befreundeter Edelmann sei hier und wünsche ihn zu begrüßen.« »Weshalb habt Ihr mir das nicht früher gesagt?« entgegnete der Diener und öffnete das Tor. »Doch wo ist Euer Herr?« »Hinter mir, er kommt nach.«

Der Bediente schloß auch das Gitter auf; Planchet ging voraus und gab d'Artagnan einen Wink, der dann, mit höher klopfendem Herzen in den Hofraum ritt. Als Planchet auf der Freitreppe stand, vernahm er eine Stimme, die aus einem Zimmer des Erdgeschosses hallte und fragte: »Nun, wo ist dieser Edelmann und warum wird er nicht hierhergeführt?«

Diese Stimme, welche bis zu d'Artagnan drang, erweckte in seinem Herzen tausend Gefühle, tausend Erinnerungen, die er schon vergessen hatte. Er sprang rasch vom Pferde, indes Planchet mit einem Lächeln auf den Lippen zu dem Herrn des Hauses hinging. »Nun, ich kenne ja diesen Mann,« rief Athos, indem er an der Schwelle erschien. »O ja, Herr Graf! Sie kennen mich und auch ich kenne Sie recht gut. Ich bin Planchet, Herr Graf, Planchet – Sie wissen wohl noch – –« allein der wackere Diener konnte nicht mehr sprechen, da ihn das unerwartete Aussehen des Edelmanns so sehr angegriffen hatte. »Wie doch, Planchet!« rief Athos; »also ist Herr d'Artagnan hier?« »Hier bin ich, Freund, hier bin ich, liebster Athos!« rief d'Artagnan mit stammelnder Stimme und beinahe wankend.

Bei diesen Worten malte sich auch auf Athos' schönem Antlitz und in seinen ruhigen Zügen sichtbar eine Gemütsbewegung. Er machte schnell zwei Schritte gegen d'Artagnan, von dem er den Blick nicht mehr abwandte, und schloß ihn zärtlich an seine Brust. D'Artagnan erholte sich von seiner Verwirrung und umschlang ihn gleichfalls mit einer Innigkeit, die sich in seinen Augen in Tränen auflöste. Athos faßte ihn bei der Hand, preßte sie in die seinige und führte ihn in den Salon, wo schon mehrere Personen waren, die sogleich alle aufstanden. »Ich stelle Ihnen den Herrn Chevalier d'Artagnan, Leutnant bei den Musketieren, vor,« sprach Athos, »einen sehr treuen Freund und einen der liebenswürdigsten Kavaliere, die ich jemals kennen gelernt.«

D'Artagnan nahm Platz im Kreise und fing an, Athos zu mustern, während die auf einen Augenblick unterbrochene Konversation wieder allgemein wurde. Es war seltsam. Athos war kaum älter geworden, seine schönen Augen, frei von dem dunklen Ringe, der sich durch Nachtwachen oder Schwelgereien erzeugt, schienen weit größer und von einem viel reineren Glanze als jemals; sein etwas länger gewordenes Antlitz hatte das an Würde gewonnen, was es an fieberhafter Aufregung verlor, seine immer noch schöne, und ungeachtet der Geschmeidigkeit kräftige Hand glänzte unter einer Spitzenmanschette wie gewisse Hände Tizians und Van Dyks; er war viel schlanker als vormals; seine sehr zurücktretenden breiten Schultern zeigten von ungewöhnlicher Stärke; seine langen und schwarzen Haare, die sich nur hier und da mit grauen untermengten, fielen wie in natürlichen Locken anmutig und wallend auf die Schultern nieder; seine Stimme klang immer noch so frisch, als zählte er erst zwanzig Jahre, und seine prachtvollen Zähne, die er weiß und unverletzt bewahrt, verliehen seinem Lächeln einen unaussprechlichen Reiz.

Mittlerweile begannen die Gäste des Grafen, die es an der leisen Kälte des Gesprächs bemerkten, daß die zwei Freunde vor Sehnsucht glühten, allein zu sein, mit all der Kunst und Artigkeit von damals, sich zum Aufbruch anzuschicken, zu dieser wichtigen Angelegenheit für Leute von Welt, da es noch Leute von Welt gab; doch jetzt erschallte im Hofraum auf einmal ein lautes Hundegebell und mehrere Personen riefen zugleich: »Ah, das ist Rudolf, der nach Hause kehrt!« Athos wandte sich fast unwillkürlich um, als ein schöner Jüngling von fünfzehn Jahren, einfach, doch vollkommen geschmackvoll angezogen, in den Saal trat und auf anmutige Weise seinen Filzhut zog, der mit einer roten Feder geschmückt war.

»Schon zurückgekehrt, Rudolf?« sprach der Graf. »Ja, gnädiger Herr,« erwiderte der junge Mann ehrerbietig, »und ich richtete den Auftrag aus, den Sie mir erteilten.« »Und was hast du, Rudolf?« fragte Athos bekümmert, »du siehst bleich und aufgeregt aus.« »Die Ursache liegt darin, gnädiger Herr,« entgegnete der Jüngling, »weil unsere kleine Nachbarin ein Unglück getroffen hat.« »Fräulein de la Vallière?« rief Athos schnell. »Was denn?« fragten mehrere Stimmen. »Sie lustwandelte mit ihrer guten Marcelline in dem Gehege, wo die Holzhauer ihre Bäume spalten und aufschichten, als ich vorüberritt und bei ihrem Anblicke anhielt. Auch sie gewahrte mich, und da sie von der Höhe eines Holzstoßes herabspringen wollte, auf den sie gestiegen war, tat das arme Kind einen Fehltritt und konnte nicht mehr aufstehen. Ich glaube, sie verrenkte den Knöchel am Fuße.« »O mein Gott!« rief Athos; »und ist ihre Mutter davon in Kenntnis gesetzt?« »Nein, gnädiger Herr, Frau von Saint-Rémy befindet sich in Blois, bei der Frau Herzogin von Orléans. Ich war in Besorgnis, der erste Verband möchte ungeschickt angebracht sein, und eilte hierher, gnädiger Herr, um mir Ihren Rat zu erbitten.« »Schicke allsogleich nach Blois, Rudolf, oder reite vielmehr selbst in Eile dahin.« Rudolf verneigte sich. »Doch wo ist Louise?« fragte der Graf. »Ich führte sie hierher, gnädiger Herr, und brachte sie zu Charlots Frau, die ihr indes den Fuß in Eißwasser stellen ließ.«

Nach dieser Erklärung, welche zum Vorwande diente aufzustehen, nahmen die Gäste von Athos Abschied, bloß der alte Herzog von Barbé, der ob einer zwanzigjährigen Freundschaft mit dem Hause de la Vallière sich zu den näher Befreundeten rechnete, besuchte die kleine Louise, welche in Tränen schwamm, die aber sogleich, als sie Rudolf erblickte, ihre Augen trocknete und wieder zu lächeln anfing. Er tat nun den Vorschlag, die kleine Louise in der Kutsche nach Blois zu führen.

»Allerdings,« bemerkte Athos, »wird sie viel lieber bei ihrer Mutter sein; aber was dich betrifft, Rudolf, so bin ich überzeugt, daß du unbesonnen warst und Schuld daran trägst.« »Nein, o Herr, nein, ich versichere Sie,« rief das junge Mädchen, indes der Jüngling bei dem Gedanken erblaßte, er möchte Schuld an diesem Unfalle sein. »O gnädiger Herr,« stammelte Rudolf – »ich beteuere Ihnen –« »Du wirst aber jedenfalls nach Blois gehen,« sprach der Graf, »und dich wie mich bei Frau von Saint-Rémy entschuldigen, wonach du wieder zurückkehren wirst.«

Als Athos und d'Artagnan wieder allein waren, kam das Gespräch sofort auf Rudolf. D'Artagnan erkundigte sich eingehend nach dem so sympathischen jungen Manne und Athos berichtete, daß dieser verwaist sei und er ihn adoptiert habe, außerdem habe er ihm die Grafschaft Bragelonne zugeschrieben, wodurch Rudolf den Namen eines Vicomte de Bragelonne führe. Da d'Artagnan fühlte, daß dieses Thema dem Freund nicht lieb sei, begann er sogleich, vorsichtig von seinen Zukunftsplänen zu sprechen. Er erinnerte auch hier wieder an die schöne Vergangenheit und fragte Athos, ob er nicht etwa daran denke, wieder zum aktiven Dienst zurückzukehren. Da bekam er die deutliche und nicht ohne Anzüglichkeit gegebene Antwort zu hören: »Wenn es der Sache des Königs gilt, ohne einen Augenblick zu zögern! Vorausgesetzt allerdings, daß Mazarin die Hände nicht im Spiele hat.«

So mußte d'Artagnan also auch auf diesen Freund verzichten, was ihm um so schwerer fiel, als ihm Athos innerlich am nächsten stand. Als man bei der Tafel saß, erhielt Athos einen Brief Mazarins, der ihn dringend nach Paris berief. D'Artagnan entschuldigte sich bei Athos, ließ die Pferde satteln und machte sich, nach schmerzlichem Abschied von seinem väterlichen Freund und dessen Pflegesohn, der eben im Begriffe war, nach Blois zurückzukehren, mit Planchet auf den Weg nach Paris.

Der Graf folgte ihm mit den Augen nach, indem er die Hand auf die Schulter des jungen Mannes stützte, dessen Größe schon fast der seinigen gleich kam; als sie aber hinter der Mauer verschwunden waren, sprach der Graf: »Wir gehen diesen Abend nach Paris ab.« »Du magst in meinem Namen für dich selbst Abschied bei Frau von Saint-Rémy nehmen. Ich erwarte dich hier um sieben Uhr.« Der junge Mann verneigte sich mit einer Miene voll Schmerz und voll Dankbarkeit, und ging fort, um sein Pferd zu satteln.

Was d'Artagnan betrifft, so hatte auch er, als er ihnen kaum aus dem Gesichte gekommen war, den Brief aus der Tasche gezogen und abermals durchgelesen.

»Kehrt alsogleich nach Paris zurück! J. M. . . .«

»Dieser Brief ist trocken,« murmelte d'Artagnan, »und stände nicht eine ›Nachschrift‹ dabei, so hätte ich ihn vielleicht gar nicht verstanden; doch zum Glücke befindet sich auch eine Nachschrift dabei.« Er las nun diese merkwürdige Nachschrift, derentwegen er sich über die Trockenheit des Briefes hinaussetzte.

»N. S. Geht in Blois zu dem königlichen Schatzmeister, nennt Euren Namen und zeigt ihm diesen Brief, Ihr werdet zweihundert Pistolen bekommen.«

»In Wahrheit,« sagte d'Artagnan, »ich liebe diese Prosa, und der Kardinal schreibt besser, als ich mir dachte. Vorwärts, Planchet, machen wir dem königlichen Schatzmeister unsern Besuch, und eilen wir sodann weiter.« »Nach Paris, gnädiger Herr?« »Nach Paris.« Und beide ritten nun im schnellsten Trab ihrer Pferde.

 


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