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V.

Am andern Morgen, nachdem ich mir ein kärgliches Frühstück bereitet, überdachte ich, was ich tun wollte. Daß ich meinen Aufenthalt in der Höhle abbrach, war sicher. Nachdem ich eine Woche lang hier Gesellschaft gehabt hatte, war mir der fernere Aufenthalt hier allein unerträglich.

Der Farmer, der meine Ausrüstung hierhergebracht hatte, sollte freilich, unserer Verabredung gemäß, erst in einer Woche kommen, um sie nach Rocanville zurückzuschaffen. Das störte mich aber nicht. Ich konnte ihm leicht genug von der Station aus Nachricht geben, sie abzuholen und mir nach Winnipeg nachzusenden.

Sollte ich aber schon nach Winnipeg zurückkehren?

Farewell for ever, hatte Minnehaha geschrieben.

Sollte ich es dabei bewenden lassen? Sollte ich sie ihrem Schicksal, was immer es sein mochte, ruhig entgegentreiben lassen?

Vor einem wenigstens, vor der ihr verhaßten Verbindung mit Regen-ins-Gesicht, konnte ich sie bewahren, indem ich den unlauteren Schlichen des Burschen und seines nicht weniger schuftigen Kumpans nachspürte und beide für eine Anzahl Jahre hinter den Mauern der Strafanstalt in Prince Albert unschädlich machte.

Und wo hatte sich Minnehaha hingewandt?

Hatte sie ihren ursprünglichen Plan, Dead Body aufzusuchen, ausgeführt, oder war sie nach ihrer Reserve zurückgekehrt? Die Abschiedsworte, die sie mir zurückgelassen, schienen auf das letztere zu deuten. Sie klangen wie das Aufgeben aller persönlichen Wünsche, wie der Entschluß, sich selbst zu opfern, wenn es sein mußte, für die Sache der Wiedergeburt ihres Volkes, von der sie geträumt hatte.

Mein Entschluß stand fest.

Ich wollte nach der Reserve gehen und feststellen, ob sie dort eingetroffen war. Was ich dann weiter tun würde, mußten die Umstände entscheiden.

Mit diesem Entschluß im reinen, wollte ich auch nicht länger zögern. Die Reservation lag nur ungefähr sieben Meilen entfernt, und die konnte ich zur Not zu Fuß zurücklegen. Auf keinen Fall lohnte es sich, erst ein Pferd aus einer der Niederlassungen an der fast ebenso weit entfernten Eisenbahnlinie zu holen.

Ich packte meine Felle und sonstigen Gerätschaften zusammen, da mir noch unklar war, ob ich nach der Höhle zurückkehren würde, füllte meine Taschen für alle Fälle mit Biskuit, und meine Schneeschuhe anlegend, begann ich meine Wanderung.

Die Richtung war mir bekannt. Ich hatte nur darauf zu achten, sie zwischen den Hügeln und in dem vielen Gebüsch nicht zu verlieren. Den Trail aufzusuchen, auf dem ich den Stelzfuß bei seiner brutalen Behandlung des stummen Indianerknaben überrascht hatte, wäre wohl das sicherste gewesen. Ich hätte mich dann aber erst zwei oder drei Meilen westlich halten müssen, während, wenn es mir gelang, eine einigermaßen gerade Richtung einzuhalten, der direkte Weg von der Höhle aus so viel näher war.

Der Weg war ermüdend, denn er führte bergauf und bergab. Nirgends ein Zeichen, daß der Fuß eines menschlichen Wesens diese Gegend schon einmal betreten hatte.

Im Anfang konnte ich meinen Weg mit Hilfe meiner Taschenuhr, die mir als Kompaß diente, ziemlich gut verfolgen. Wenn man nämlich die Uhr wagrecht hält und den Stundenzeiger nach der Sonne richtet, so braucht man nur die Differenz zwischen dem Stundenzeiger und der Zahl zwölf abzuschätzen. Eine Linie vom Mittelpunkt des Zifferblattes durch die Mitte dieser Differenz deutet immer nach Süden. Wenn also beispielsweise der nach der Sonne weisende Stundenzeiger auf der Zahl sechs steht, so würde eine Linie vom Mittelpunkte durch die Zahl drei nach Süden deuten. Bald war mir dieses Hilfsmittel aber nicht mehr zugänglich, denn die Luft wurde dick und die Sonne unsichtbar, nachdem sie noch eine Zeitlang wie ein fahler Lichtfleck durch den über der Landschaft liegenden Frosthauch geschienen hatte.

Gegen Mittag machte ich in einer Talsenkung, wo ich etwas vor dem schneidenden Winde geschützt war, eine kurze Rast. Ich hatte sicher verschiedene Meilen zurückgelegt und mußte der Reserve beträchtlich, näher gekommen sein. Trotzdem hatte ich aber weder die Fußspuren eines indianischen Trappers, noch irgendwelche sonstigen Anzeichen der Nähe von Menschen bemerkt, und ich begann mich, nicht ohne ein Gefühl der Beunruhigung, zu fragen, ob ich nicht etwa doch während des letzten Teiles meiner Wanderung, bei dem ich mich ausschließlich auf meinen Ortssinn hatte verlassen müssen, vom rechten Wege abgekommen war. Das würde bedeuten, daß ich mich auf eine Nacht im Freien gefaßt zu machen hätte, und was das während eines kanadischen Winters bedeutet, darüber hatte ich bereits einige Erfahrung.

Der scharfe Wind, der mich hin und wieder auf einer Bodenerhöhung traf, hatte mir jetzt schon das Wasser aus den Augen gepreßt, und es war zu kleinen Eiszäpfchen gefroren, die mir von den Wimpern über die Augen herabhingen und die ich nur auftauen konnte, indem ich mein Gesicht für einige Zeit in meinem glücklicherweise genügend geräumigen Pelze verbarg.

Auf jeden Fall hatte ich aber noch drei bis vier Stunden vor mir, bevor die Dunkelheit hereinbrach, und in dieser Zeit hoffte ich auf eine Spur zu stoßen, die mich nach dem Siouxdorfe leitete.

Nach einer Mahlzeit, die aus einigen Biskuits und einem Schluck Whisky bestand, und einer kurzen Rast setzte ich meinen Weg fort. Zu längerem Ausruhen konnte ich mich trotz meiner Neigung dazu nicht entschließen, denn nichts wirkt auf einer anstrengenden Wanderung so ermüdend und macht zu weiteren Leistungen so unfähig wie eine längere Rast. Es war genügend Zeit zu einer solchen, wenn ich erst das Indianerlager gefunden und mich, die Gastfreundschaft irgendeines Tepees in Anspruch nehmend, an dem in der Mitte desselben freundlich knisternden Feuer niedergelassen hatte.

Irgendeine Schätzung der Richtung nach der Sonne blieb auch weiter unmöglich, und ich konnte daher nichts weiter tun, als darauf zu achten, daß ich möglichst in gerader Linie fortschritt und nicht etwa im Kreise herum. Ob diese Linie mich dann nach der Reservation führte oder nicht, mußte sich in den nächsten Stunden herausstellen. Auf jeden Fall war aber eine Wanderung in gerader Richtung eher geeignet, mich in die Nähe von Menschenspuren zu bringen, als etwa ein Umherirren im Kreise.

Ich bedauerte, daß ich mich nicht an das elementarste Gesetz eines Trappers gehalten hatte, stets lieber einen bekannten längeren Weg, als einen unbekannten, anscheinend kürzeren zu wählen. Denn gerade, wenn Eile am nötigsten ist, kann man sicher sein, auf dem letzteren sein Ziel zu verfehlen oder es zu spät zu erreichen.

Hätte ich den Trail gewählt, so säße ich jetzt schon längst in einem warmen Tepee. Es war aber meine Gewohnheit, immer das Unbekannte vorzuziehen, und diese Gewohnheit hatte mich schon in recht arge Klemmen gebracht.

Ich war unter diesen Gedanken weiter in die Wildnis, an die sich die sonst schon ziemlich lebhafte Kultur der Provinz noch nicht herangewagt hatte, weil sie keinerlei landwirtschaftliche Möglichkeiten bot, hineingeschritten, als ich plötzlich vor einem riesigen Haufen aufgetürmter Schneemassen zu einem Halt kam.

Ich blickte auf.

Vor mir sah ich über den Schneehügel hinweg einen Berg, in dessen Mitte sich ein vom Gipfel nach dem Fuße verlaufender breiter schwarzer Streifen scharf von der Schneebedeckung der Seitenhänge abhob.

Hier hatte ein Schneerutsch stattgefunden, wie ich sie in den Felsengebirgen verschiedentlich beobachtet hatte. Der Schnee dort ist infolge der großen Kälte viel zu trocken, um Lawinen zu formen, aber an kahlen Berghängen, wo ihnen der Stützpunkt des Waldes fehlt, kommen die schweren Schneemassen oft ins Rutschen, und manche blühende Ortschaft am Fuße solcher Berge, deren Bewohner sich weit genug von einer solchen Gefahr glaubten, ist bereits unter den treibenden und alles vor sich niederreißenden Schneefeldern begraben worden.

Auch hier hatte der gleitende Schnee den Bergabhang glatt rasiert. Was etwa an Bäumen und Gesträuch vorhanden gewesen war, existierte nicht mehr, und der gefrorene Moos- und Rasenboden war bis auf die schwarze Erde abgeschoren. Der Vorgang mußte sich auch erst vor kurzem ereignet haben, da die fast niemals ruhenden scharfen Winterwinde die Bahn des Rutsches sonst wieder mit Schnee bestreut haben würden.

Die gerade Richtung des von mir eingeschlagenen Weges führte aber direkt über diesen keineswegs sehr steilen Berg, der nach einer Art Hochplateau zu führen schien, hinweg, und ich stand vor der Wahl, entweder den Berg zu umgehen oder die Schneemassen zu überschreiten und den Berg hinaufzusteigen. Eins schien so wenig ratsam wie das andere. Die aufgeschichteten Massen von losem Schnee als Übergang zu benutzen, war selbst mit Hilfe von Schneeschuhen eine gewagte Sache. Wenn ich irgendwo an einer weichen Stelle versank, war ich verloren.

Anderseits war ich aber so gut wie sicher, meine Richtung zu verlieren, wenn ich versuchte, den Berg zu umgehen oder an einer anderen Stelle zu ersteigen. Von zwei gleich schlechten Dingen wähle ich immer das nächstliegende – wenn ich mir die Wahl nicht überhaupt ersparen kann. So begann ich ohne weiteres Zögern, aber jeden Schritt sorgfältig kontrollierend, die Schneemassen zu erklimmen. Mehr als einmal versank ich beängstigend tief an weichen Stellen, da ich mich aber nur ganz langsam und mit größter Vorsicht voranwagte, gelang es mir jedesmal wieder, meinen Fuß auf festeren Grund zu setzen. Die gefährlicheren Stellen nach links oder nach rechts umgehend, wobei mir die schwarze Bahn des Schneerutsches stets als Landmarke diente, gelang es mir endlich doch, über die Schneehöhe hinwegzukommen.

Die Arbeit hatte mir in meiner schweren Pelzbekleidung warm gemacht. Der Schweiß trat mir aus allen Poren, während ich das Gesicht, soweit es der Pelzkragen nicht verdeckte, kaum vor dem Erfrieren schützen konnte und der Schnurrbart mit festem Eis überdeckt war. Bevor ich meinen Weg fortsetzte, mußte ich erst ein wenig ruhen.

Ich hatte mich, am Fuße des Berges, der gerade hier sehr flach abfiel, niedergesetzt und versuchte, mir durch zeitweiliges vorsichtiges Öffnen meiner Pelzbekleidung die nötige Ventilation zu schaffen. Ich überlegte eben, ob es mir leichter sein würde, die Höhe an einem der schneebedeckten Seitenhänge oder auf der reichlich glatten schneefreien Spur des Rutsches zu ersteigen, als meine Augen zur Seite kaum zwei oder drei Schritte von mir auf eine Figur fielen, die sich auf dem schwarzen Erdboden abzeichnete.

Was war das?

Ich trat überrascht näher und untersuchte die in dem Erdboden festgefrorenen Teile der Figur. Mein erster Blick, dem ich nicht hatte trauen wollen, hatte mich nicht getäuscht – es war ein ziemlich gut erhaltenes menschliches Skelett. Es lag so dicht an der Oberfläche, daß es sicher war, der Tote, wer immer er sein mochte, war nicht vergraben gewesen. Allmählich war das Skelett dann wohl in den Boden eingesunken und mit Vegetation, die es unsichtbar machte, überwuchert gewesen. Diese hatten aber die talwärts treibenden Schneemassen zusammen mit der dünnen Erdschicht, die Wind und Regen im Laufe der Zeit darüber gelegt haben mußten, fortgeführt. Es lag mit dem Rücken nach oben und schon dieser Umstand war ungewöhnlich und deutete darauf hin, daß der Tote hier nicht auf natürliche Weise, durch Krankheit vielleicht oder infolge Verschmachtung, sein Leben verloren habe, denn dann hätte das Skelett sicher mit dem Gesicht nach oben dagelegen.

Mir fiel aber ein weiterer, noch viel merkwürdigerer Umstand auf.

Das Skelett lag nicht ausgestreckt in seiner gewöhnlichen Form, sondern die Arme und Beine lagen auseinandergespreizt in der Form eines Andreaskreuzes. Der Unterschenkel des rechten Beines fehlte zwar, aber alles übrige war erhalten, und die Form des Andreaskreuzes nicht zu verkennen. Niemand stirbt in dieser Lage auf natürliche Weise, und sie war zu künstlich und zu symmetrisch, als daß der Körper sie nach dem Tode infolge irgendwelcher Ursachen hätte einnehmen können.

Es war sicher, daß ich hier vor den Spuren eines grauenhaften Verbrechens stand. Das war die qualvolle Art, in der früher die Indianer ihre Feinde unter fürchterlichen Schmerzen zu Tode marterten und die auch ein so schwarzes Blatt in der Geschichte des letzten Aufstandes in Indien unter dem berüchtigten Nena Sahib gebildet hatte. Man band das unglückliche Opfer mit Händen und Füßen an zwei junge kräftige zur Erde gebeugte Bäume, die man dann wieder emporschnellen ließ, wobei sie die Glieder in unmenschlicher Weise auseinander rissen, bis das arme Opfer unter unbeschreiblichen Qualen seinen Geist aufgab.

Ich blickte mich unwillkürlich nach Bäumen um. Wenn solche hier gestanden, so waren sie jetzt nicht mehr vorhanden. Das Skelett nahm übrigens diese Form auf der Erde ein. Der Tote mußte also auf der Erde in dieser Weise festgebunden gewesen sein.

Vor welcher grauenvollen Entdeckung stand ich hier?

Mir war heiß gewesen, jetzt aber schien mir das Blut in den Adern zu gerinnen, wenn ich mir vorstellte, welche unsäglichen, fürchterlichen Qualen ein Mensch hier hatte ausstehen müssen, bevor der mitleidige Tod ihn davon erlöste.

Dann setzte ich die Untersuchung meines schrecklichen Fundes fort.

Meiner Rechnung nach konnte das Skelett drei bis vier Jahre hier gelegen haben. Die Knochen waren schon ziemlich mürbe, aber der Verwesungsprozeß war natürlich beschleunigt worden durch den Umstand, daß der Leichnam nicht vergraben gewesen war. Das Fleisch hatten die Wölfe wohl gleich nach dem Tode von den Knochen abgenagt – der Gedanke, daß sie mit ihrer unheimlichen Arbeit vielleicht schon vorher begonnen haben könnten, war nur zu entsetzlich, um ihn auszudenken. Und das erklärte wohl auch das Fehlen des Unterschenkels.

Reste von Kleidungsstücken konnte ich nicht entdecken, und das war wieder auffällig. Sollte der Körper nackt in diese Lage gebracht worden sein?

Auch irgendwelche Überbleibsel von Stricken, mit denen der Unglückliche gebunden gewesen sein mußte, konnte ich nicht mehr entdecken. Ich fand wohl in der Nähe der Gelenke Fasern, die in der Erde festgefroren waren, aber es ließ sich nicht entscheiden, ob sie von abgestorbenem zähem Präriegras herrührten oder vermoderte Hanffasern waren.

Noch ein anderer Umstand fiel mir auf.

Beide Hände waren zur Faust geballt und in die Erde gedrückt. An der rechten Hand aber stand der Zeigefinger geradeaus ungefähr in der Richtung, die ich im Begriff gewesen war, weiterzuverfolgen. Was bedeutete das? Hatte irgendein Tier daran genagt und ihm diese Stellung gegeben? Das schien die natürliche Erklärung – und doch wollte sie mich nicht zufriedenstellen. Es mochte wohl die ganze Naturstimmung sein, die mich hier in der frosttrüben Atmosphäre, durch die bereits langsam das Dunkel der frühen Winternacht zu sickern begann, auf meine Seele legte, daß ich mehr geneigt war, an das Ungewöhnliche, Wunderbare, als an das nüchtern Einfache zu glauben.

Wie, wenn der Unbekannte in den letzten Augenblicken seines Todeskampfes versucht hätte, der Welt eine Mitteilung zu hinterlassen, auf etwas hinzuweisen, das man in der Richtung des ausgestreckten Zeigefingers finden würde?

Die Annahme erschien phantastisch, und ich wollte mich von ihr freimachen, aber es gelang mir nicht. Die ganze Kette der Ereignisse, die mir der schauerliche Fund vorgestellt hatte, erschien im Zusammenhange und in ihrer logischen Aufeinanderfolge phantastisch. Die einzelnen Glieder waren in sich selbst real genug.

Daß ich Minnehaha, nachdem sie meine Teilnahme so lebhaft geweckt hatte, nicht einfach fallen lassen, sondern mich in der Reservation nach ihr erkundigen wollte, war erklärlich. Daß ich nicht den Weg über den Trail von Rocanville wählte, ebenfalls. Daß ich meine Richtung verlor und in einen Teil dieses Hügellandes kam, den augenscheinlich seit Jahren kein Mensch betreten hatte, war an sich ebenso natürlich wie der Schneerutsch, der sich hatte ereignen müssen, um mich das Skelett des Gemordeten entdecken zu lassen. Und daß ich mich entschlossen hatte, lieber die Schneemassen zu übersteigen, als um den Berg herumzuwandern, war gleichfalls durchaus nichts Wunderbares. Phantastisch wurde das alles erst durch seinen Zusammenhang, der mir in diesem Augenblicke fast zu logisch erschien, um als reiner Zufall ausgelegt zu werden.

Im Rahmen dieser Ereignisse erschien es mir nicht im geringsten unglaublich, daß der Unbekannte, wenn er der Welt nach seinem Tode eine Botschaft hinterlassen wollte, den Zeigefinger nach der Richtung gestreckt, in der man die Entdeckung machen würde, und die andern Finger in die Erde gedrückt hatte, so daß die eintretende Todesstarre sie nicht verschieben konnte.

Und was konnte es sein, auf das er verweisen wollte?

Welcher Gedanke konnte das unter den unmenschlichen Qualen erstarrende Gehirn wohl beherrscht haben?

Zweifellos, an seinen Mördern gerächt zu werden. Dort, in der Richtung des ausgestreckten Fingers, mußten sie zu finden sein.

Aber das war vor Jahren gewesen. Was immer er auch mit seiner stummen Botschaft anzeigen wollte, würde es jetzt noch vorhanden sein?

Ich war fest überzeugt davon. Wenn ich jemals daran gezweifelt hatte, daß den Toten Macht verliehen sei, in unser irdisches Leben hineinzuwirken, – in diesem Augenblicke kam mir solcher Zweifel nicht. Die Botschaft des Toten, auf deren Erfüllung er so lange gewartet hatte, würde ihre Enträtselung finden.

Der heisere Schrei eines Nachtvogels, der mit schweren Flügelschlägen durch die Dämmerung schoß, ließ mich erschrocken zusammenfahren. Es war mir gewesen, als hörte ich die Stimme des Toten, der mich aufforderte, sein Rächer zu sein.

Er sollte nicht vergeblich gemahnt haben.

Einen letzten Blick auf die Gebeine werfend, begann ich meine weitere Wanderung über die durch den Schneerutsch geschaffene Straße. Meine Schneeschuhe hatte ich abgelegt, und da der Hügel nicht übermäßig steil war, verursachte mir der Aufstieg trotz der Glätte der Bahn keine allzu große Mühe. Auf dem Kamme angelangt, sah ich, daß ich mich nicht getäuscht hatte. Das Hügelland schien hier sein Ende zu erreichen, denn soweit ich bei dem unsicheren Lichte des mehr und mehr voranschreitenden Winternachmittages sehen konnte, dehnte sich ein mit Gebüsch ziemlich stark bewachsenes Hochplateau aus. Wenn ich aber erwartet hatte, hier eine menschliche Behausung oder auch nur die Überreste einer solchen zu erblicken – denn so hatte ich die Botschaft des Toten unwillkürlich ausgelegt – so sah ich mich getäuscht. Durch das laublose Gebüsch hindurch hätte ich eine solche trotz der beginnenden Dämmerung auf eine ziemliche Entfernung hin bemerken müssen.

Meine erste Vermutung war also falsch gewesen, und ich hielt mich nicht auf, weitere, die wahrscheinlich ebenso falsch sein würden, aufzustellen, sondern schritt rüstig weiter. Das war der einzige Weg, die Lösung des Rätsels zu finden, wenn sie vorhanden war.

Nach einer weiteren halben Meile nahm auch das Hochplateau ein Ende. Es fiel in schroffen Wänden nach einem Tale ab, auf dessen Grunde ein flacher, schneebedeckter Streifen, der sich in dem Tale entlang schlängelte und auf dem sich deutliche Schlittenspuren abzeichneten, einen Fluß anzeigte.

Das konnte nur der Qu'Appelle-River sein, und ich atmete erleichtert auf, denn hatte mir Minnehaha nicht erzählt, daß ihre Reservation an den Ufern dieses Flusses läge?

Das reduzierte meine Zweifel über die Richtung auf die Frage, ob ich mich östlich oder westlich wenden sollte, was bei den vielen Krümmungen des Flusses übrigens gar nicht so leicht zu entscheiden war.

Bevor ich einen Abstieg nach dem Flußbett suchte, wollte ich aber noch etwas rasten, und es war wohl auch Zeit für eine weitere Mahlzeit.

Ich stand vor einem alten dicken Baume, der sich augenscheinlich überlebt hatte, denn eine Anzahl seiner Äste und Zweige sahen nicht aus, als ob sie im Frühjahr Neigung hätten, sich einen frischen grünen Laubschmuck anzulegen. Das ist etwas für junge Bäume, denen der Wind hier oben noch nicht zwei- und dreihundert Jahre lang um die Nase geweht hat. Ein alter Baum, der sich das Leben so lang mit angeschaut, will seine Ruhe haben.

Ich ließ mich auf einer der aus der Erde hervorstehenden dicken Wurzeln nieder und begann, einige Biskuits zu verzehren. Als Getränk – denn ich war reichlich durstig – mischte ich etwas Schnee mit Whisky, was seinen Zweck wenigstens einigermaßen erfüllte.

Der Baum stand in der genauen Richtung, nach welcher der Finger des Skelettes zeigte, und da ich den Rand des Hochplateaus mit den Blicken erreichen konnte und nichts irgendwie Auffälliges wahrnahm, so kam mein Suchen hier zu Ende, denn es war nicht anzunehmen, daß der Gemordete auf irgend etwas auf dem jenseitigen Flußufer hatte aufmerksam machen wollen.

Wenn also wirklich hier etwas vorhanden gewesen war, so war es in den Jahren, die seit dem Morde verstrichen waren, verschwunden. Wahrscheinlich war aber gar nichts vorhanden gewesen, und ich hatte mich nur durch die Stimmung des Augenblicks und den Eindruck der ganzen Umgebung verleiten lassen, etwas so Phantastisches anzunehmen.

Jetzt, nachdem mein Suchen sich als erfolglos erwiesen hatte, dachte ich viel nüchterner darüber.

Plötzlich fuhr ich herum.

Jemand hatte ganz in meiner Nähe gesprochen.

Ich strengte meine Augen an und blickte im Kreise umher, denn ich konnte nicht entscheiden, ob es vor mir oder hinter mir gewesen war, wo ich die Stimme gehört hatte.

Und jetzt klang sie wieder – es schien fast unter mir zu sein. Die gesprochenen Worte konnte ich nicht verstehen, die Stimme aber war deutlich genug. Sicher war es, daß sie nicht vom Flußbett herkam, denn die Entfernung war zu groß dafür. Hier waren Menschen in der Nähe. Obwohl die Dunkelheit schon ziemlich weit vorgeschritten war, konnte ich doch noch in einem weiteren Umkreise um mich blicken, als die Distanz betrug, aus der ich die Stimme, oder vielleicht auch Stimmen, denn so genau hatte ich es nicht entscheiden können, gehört hatte.

Niemand war zu sehen.

Ich wußte nicht, was ich daraus machen sollte. Getäuscht konnte ich mich nicht haben, dafür waren die Stimmen zu deutlich gewesen, und ich hatte sie auch zweimal gehört. Ebenso war kein Zweifel, daß es sich um Menschenstimmen handelte. Daß man mich bemerkt und sich im Gebüsch verborgen hatte, weil man aus irgendeinem Grunde unentdeckt bleiben wollte, war ebenso ausgeschlossen, denn das Gebüsch war nicht dicht genug, und der Baum, an dessen Fuße ich Rast gemacht, der einzige dicke Baum in der Runde.

Die Sache war merkwürdig, und ich fand keine Erklärung dafür. Nur das eine stand fest, es war keine Sinnestäuschung gewesen.

Ich hatte meinen Sitz wieder eingenommen und ließ meine Augen fortwährend umherschweifen. Alles blieb still. Nicht eine Spur der Nähe von Menschen. Einmal richtete ich meine Augen empor, und meine Blicke wurden gefesselt durch eine eigentümliche Naturerscheinung. Über dem Wipfel des Baumes schwebte ein leuchtender Schein, der sich von dem Nachtdunkel, das jetzt mit Gewalt hereinbrach, scharf abhob. Wie lange er dort bereits geschwebt haben mochte, konnte ich nicht entscheiden, während ich aber noch erstaunt darauf hinsah, wurde er dunkler und verschwand dann gänzlich.

Von dieser Naturerscheinung hatte ich bereits in Deutschland gehört. Man bezeichnet sie als St. Elmsfeuer, und sie entsteht in gewitterschwülen Nächten, wenn die Atmosphäre mit Elektrizität geladen ist, durch den Erdmagnetismus, der aus hohen Bäumen, Schiffsmasten und anderen hohen und spitzen Gegenständen ausstrahlt. Ich hatte dieses Phänomen nie vorher beobachtet und auch angenommen, daß es sich dabei mehr um eine blaue, phosphoreszierende Lichterscheinung handle, während der Schein hier rot wie ein Feuerabglanz erschien. Und es war auch eigentümlich, daß er sich hier mitten im Winter einstellte und bei einer Atmosphäre, von der man glauben sollte, daß die brausenden, schneidendkalten Winde sie von jeder Spur statischer Elektrizität gereinigt hätten.

Daß es etwa in Wirklichkeit der Abglanz eines Feuers war, schien aus mehreren Gründen ausgeschlossen. Irgendein Feuer hätte ich in der Dunkelheit auf eine weite Entfernung hin erkennen müssen, und dann hätte es sich auch um einen wagerechten oder wenigstens schräg strahlenden Lichtreflex gehandelt, der außerdem nicht vollständig isoliert nur gerade über dem Baumwipfel zu sehen gewesen wäre. Ich hatte den Schein dagegen als einen aufrechtstehenden Lichtkegel beobachtet, dessen Quelle hätte von unten kommen müssen, wenn man die Feuertheorie aufrechterhalten wollte.

Augenscheinlich befand ich mich hier in einer Gegend, die voll von allen möglichen rätselhaften Erscheinungen war.

Ich verweilte noch eine Zeitlang auf meinem Sitze, aber weder wiederholte sich die Lichterscheinung, noch ließen sich die Stimmen wieder vernehmen. Längeres Warten war augenscheinlich zwecklos, und da es außerdem geraten war, den Abstieg nach dem Flußbett zu machen, bevor die dicke greifbare Dunkelheit einsetzte und das Unternehmen gefährlich machte, erhob ich mich und setzte meine Wanderung fort.

Ich hatte eine Richtung gewählt, die mich nach meiner Schätzung westlich führte. Wenigstens eine halbe Meile fiel die Uferböschung steil ab, und ich schritt am Rande des Plateaus entlang, bis ich einen Einschnitt fand, der mir das Hinabsteigen gestattete. Das dichte Himbeer- und Haselnußgestrüpp, das die Wände der Einsenkung bedeckte und dessen Dornen meinen Händen durch die dicken Pelzhandschuhe nichts anhaben konnten, diente mir dabei als ein willkommener Halt.

Nach wenigen Minuten hatte ich den Talboden erreicht, und jetzt hatte ich wenigstens geraden und bequemen Weg vor mir. In dem Augenblicke aber, als ich hinaustreten wollte auf die freie Schneebahn, hielt ich meinen Fuß wieder zurück. In nicht weiter Entfernung hörte ich Pferdestampfen und das Knarren eines Schlittens. Mein erster Gedanke war, mich durch einen lauten Anruf den Näherkommenden bemerkbar zu machen. Noch bevor ich aber den Ruf ausstoßen konnte, klang eine Stimme an mein Ohr, die ich als diejenige des Stelzbeinigen erkannte:

»Hier reite ich ab. 's ist ebenso richtig, daß man uns nicht so oft beisammen sieht, obwohl ich es niemand raten möchte – –«

Die weiteren Worte wurden vom Winde verweht, bis ich zuletzt nur noch: »Also vergiß nicht!« vernahm.

Ein Schlitten mit zwei Pferden bespannt und daneben ein Reiter waren inzwischen auch in meinen Gesichtskreis gelangt. Die Figur des Reiters löste sich jetzt ab und bewegte sich nach dem gegenüberliegenden Flußufer zu, wo sie in einem Taleinschnitt verschwand.

Ich war rasch einige Schritte in die tiefe Dunkelheit der Uferböschung zurückgetreten, wo ich für jeden Vorübergehenden völlig unsichtbar sein mußte, während ich noch recht gut beobachten konnte, was draußen auf dem Flußbett, wo der blinkende Schnee die Finsternis etwas weniger dicht machte, vorging.

Gleich darauf glitt der Schlitten an meinem Versteck vorüber. Wenn ich einen Zweifel daran gehabt hätte, daß Regen-ins-Gesicht der Insasse sei, so wäre der durch die Pferde behoben worden. Es waren der Schimmel und der Braune, die ich in Esterhazy gesehen.

Einen Augenblick lang hatte ich den Gedanken, dem Schlitten nachzueilen, mich ungesehen hinten auf die Kufen zu stellen und so in recht bequemer Weise nach dem Indianerdorfe zu gelangen. Ich drängte ihn aber sofort wieder zurück. Es war zu gefährlich. Wenn Regen-ins-Gesicht mich entdeckte, dann wußte er, daß ich auf seiner Fährte war, noch ehe ich etwas Greifbares entdeckt hatte, und es war sicher, daß er seine Maßregeln danach treffen würde.

Unwillkürlich mußte ich wieder an die Stimmen denken, die ich oben auf der Höhe gehört. Waren es etwa die des Indianers und des Stelzfußes gewesen?

Es war unmöglich. Ich hatte sie dicht neben mir und sicher nicht mehr als drei oder vier Schritt entfernt von mir gehört. Die Lichterscheinung über dem Baume etwa mit einem Feuer in Verbindung zu bringen, das die beiden Burschen irgendwo hier im Tale angezündet hatten, fiel mir gar nicht ein, denn es fehlte ihr der strahlende Lichtschweif, der sie mit einer solchen Lichtquelle hätte verbinden müssen.

Und wo kam Regen-ins-Gesicht her? Daß er sich auf dem Wege nach der Reservation und nicht etwa von dort befand, machte nicht nur die späte Abendstunde wahrscheinlich, sondern auch die Bemerkung des Stelzfußes, die nur besagen konnte, daß er es ablehne, seinen Freund in die Reserve zu begleiten, damit sie »nicht so oft zusammen gesehen würden«.

Regen-ins-Gesicht hatte Esterhazy am vergangenen Morgen verlassen, davon hatte ich mich überzeugt, denn sein Schlitten war verschwunden, als ich gestern morgen von meinem Hotelzimmer aus nach dem Hofe schaute. Wann der Stelzfuß Esterhazy verlassen, war mir unbekannt. Zu Gesicht bekommen hatte ich ihn nach den Ereignissen der Nacht nicht mehr.

In seiner Unterhaltung mit dem Hotelbesitzer hatte Regen-ins-Gesicht erklärt, daß er den Whisky aus einer Entfernung von zwanzig Meilen nach Esterhazy bringe. Das konnte das Indianerdorf bedeuten, das meiner Schätzung nach ungefähr soweit von Esterhazy entfernt war, oder auch den Ort, wo er seinen Mondscheinwhisky herstellte. Eine Strecke von zwanzig Meilen hatte er, Weg und Gegend in Betracht gezogen, ohne die Pferde übermäßig anzustrengen, bis gestern nachmittag zurücklegen können. Es handelte sich jetzt darum, ob er gestern in der Reservation eingetroffen war. In diesem Falle konnte sein heutiger Ausflug, von dem ich ihn eben hatte zurückkehren sehen, einen ganz unverfänglichen Zweck haben. Oder befand er sich erst jetzt auf dem Wege nach der Reservation? Dann war zehn gegen eins zu wetten, daß er mit den leeren Fässern, die er in Esterhazy aufgeladen, sich nach seiner geheimen Whiskydestillation begeben und dort auch die Nacht zugebracht hatte – und damit war die Richtung entschieden, in der ich nach dieser zu suchen hatte.

Die letztere Annahme war die wahrscheinlichere. Darauf deutete schon die Anwesenheit des Stelzfußes hin, der seinen Freund und Genossen dahin begleitet hatte. Eine sichere Beantwortung dieser Fragen konnte ich aber erst in der Reservation erhalten.


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