Max Dreyer
Die Siedler von Hohenmoor
Max Dreyer

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Orgelklänge

Lona machte sich zum Heimweg fertig. Auch Horst wollte gehen. Heute widerstrebte sie seiner Begleitung nicht.

Erst sprachen sie von dem Alten. Sie hatten Scheu, den neutralen Boden zu verlassen, den einzigen wohl, den es für sie gab. Dann aber wurde Horst mutiger. Er wollte von ihrem Leben wissen. Er fragte.

Sie hatte erst die großen Augen, erstaunt, unwillig. Dann aber – er war ihr nun doch schon in größere Nähe gerückt – dann hörte er von ihr. Daß sie als Schwester im Felde gewesen war, all die Jahre. Hinausgegangen mit dem flammenden deutschen Herzen – heimgekehrt in der Seele den Haß und den Fluch auf den Krieg, auf das nationale Wüten, den nationalen Frevel, daran die Menschheit sich zerreißt und zerfleischt und verblutet.

In wieviel brechende Augen hab ich gesehen, wieviel letzte Worte hab ich gehört! Unwahr ist, was in Euern Büchern steht! Von der Verklärung in Opferwilligkeit! Von dem letzten Licht, dem letzten Gedanken: fürs Vaterland! Nichts hab ich gefunden als Klage, Groll, als Verzweiflung und Verwünschung!

Sie rief es in Ekstase.

Wie hast Du Dich selbst betrogen, dachte Horst. Nur, was Du sehen wolltest, hast Du gesehen! Ich weiß auch von brechenden Augen! Ich weiß auch, wie deutsche Männer gestorben sind! Daß der Tod vorm Feinde ihnen des Lebens Erfüllung war!

Das große Sterben – es war zuviel für Deine Frauenseele. So bist Du verstört, so ist sie irre geworden. Und in Horst schwang das alte Mitleid.

Sie selbst wollte auch jetzt keinen Kampf der Meinungen. Von ihrer eigenen inneren Wandlung sprach sie nun, offen und mitteilsam. Daß alles, was sie an 116 Gottesglauben mit herausgetragen habe, ihr im Felde zertrümmert worden.

Ich konnte einmal beten – ich hatte meine Zweifel und kehrte zur Andacht zurück – dann aber hatte ich nur noch ein Lachen für mein Gebet.

Es war an der Aisne, in der Osterzeit. Unser Feldlazarett war überfüllt – wir betteten eine große Anzahl weniger schwer Verwundeter in der Dorfkirche. Ein paar Operationen waren gemacht. Alle schienen gerettet, alle, die hier lagen, hofften und träumten sich ins volle Leben hinein. Der Ostersonntag. Draußen ein geradezu jubelnder Frühling. Da baten sie mich, ich möchte ihnen doch die Orgel spielen. Ich tat es freudig, ich selbst war dankbar und fromm. Das Auferstehen war in meinen Klängen. Und voll Dankbarkeit und Frömmigkeit war das Gotteshaus. Nie ist reinere Andacht gen Himmel gestiegen. Und plötzlich – in die innigste Feier der Seelen hinein – das Grausigste, das Grausamste an wilder Vernichtung. Ein Volltreffer aus schwerstem Geschütz. Die Decke stürzt ein. Die Hilflosen, Schmerzensreichen, ans Kreuz Geschlagenen werden zerschmettert, verschüttet, zermalmt. Hosianna in der Höhe! Ich mit der Orgel hänge in dem Gebälk. Ich kann mich nicht rühren, kann nicht hinunter. Kann nicht helfen. Und niemand kommt. Die Zeit erstarrt in Grauen. Abenddunkel. Die letzten Schreie sterben, das letzte Röcheln der Gemarterten erlischt. Ich – allein. Und – eine andere geworden –

Sie schwiegen. Worte hatten hier nichts zu sagen.

Verstehen! Das war es, um was Horst im Innersten rang. Und die Frau, die zerwühlte, zerquälte, wurde ihm vertrauter. Ihrer Welt, der fremden, feindlichen, verschloß er sich nicht mehr in eigenem Glauben, eigenem Willen, eigenem Werk.

Sie aber fühlte, daß hier Schranken fielen. Daß es für sie beide, über ihre Gegnerschaft und ihre 117 Gegensätze hinaus, ein Schwingen gab, dem sie nicht mehr widerstrebte. Einen Klang, auf den etwas in ihr lauschen mußte. Also doch etwas Gemeinsames?

Und wohl blinkte es in ihr auf: sind hier nicht die Keime einer Macht? Einer Macht über den Feind? Ihn immer mehr lösen aus dem Selbstgefühl, der Sicherheit seiner feindlichen Überzeugung! Ihn herüber ziehen – ihn gewinnen – ihn bezwingen –

Ein fernes Licht, am fernen Horizont. Aber doch ein Ausblick, ein Ziel – ein Träumen noch – und doch ein ahnungsvolles Hintasten nach der Wirklichkeit, der Erfüllung –

Und wieder ein trotziges Sichzurückziehen. Nichts gibt es zwischen uns! Nichts als den Kampf auf Leben und Tod. Der Du auf der Seite meines Todfeindes stehst. Sein Schützling – und sein Beschützer. Und darum gehaßt von mir, Du wie er!

Und doch wieder das Hinneigen. Und das hingegebene Horchen auf das, was schwang.

Wieder schwieg alles, was streitbar gegen ihn sich regen wollte. Sie vergrub sich wieder in sich selbst, in die eigene Wandlung. Sprach mit einer wehen Offenheit von ihren Kindertagen. Daß sie mit der Orgel groß geworden sei. Wie sie mit der Orgel Gott gefunden habe – den sie mit der Orgel verloren.

Sie wollte heraus, aber sie sank zurück. Und das Entsetzen wühlte sich wieder durch sie hin. »Orgelklänge – des Ewigen Ehre zu loben hat man sie beflügelt – ich hab ihm so meinen Fluch ins Gesicht geschrien! Den Fluch und die Vernichtung! Die Gottesflucherin! Die Gottesmörderin! Nur, wenn ich Dich glaube, lebst Du! Ich glaube Dich nicht, ich glaube Dich nicht! Und damit töte ich Dich! Langsam – quälend – und mit Bedacht –«

Über ihrem Auge lag es wie eine blinde Haut, es flogen ihre Glieder, so fror ihr das Grauen im Gebein. 118 So schüttelte sie der Wahnsinn. So sank sie in die tiefe kalte Nacht.

Horst nahm ihre eisigen Hände. Da wachte sie auf. Und ihn traf ein fast dankbarer Blick. Als wollte ihr einer Hilfe bringen in ihrer furchtbaren Erstorbenheit – als gäbe es für sie Hilfe.

Dann strich sie das Haar so straff aus der Stirn, daß sie schmerzhaft zuckte. Klopfte die beiden Schläfen mit beiden Zeigefingern und blickte jetzt klarer und sprach jetzt still. Mit dämpfender Ironie. »Warum soviel stilistische Erregung! Wenn man innerlich mit sich im reinen ist!«

»Wer ist das! Wann sind wir das! Dies im reinen halte ich meinerseits nun – Verzeihung – für reine Stilistik.«

Sie sieht ihn fest an. »Und doch, der große Gotteskünder, auf den Ihre Welt eingeschworen ist, fordert nicht gerade er das Unbedingte? Immer hat mich dieses »Ja, ja – nein, nein« erschreckt. Das Grausamste, was es gibt. Haben wir nicht im Grunde ein Recht auf Zweifel, auf Abwege, auf Umwege, auf Irrtümer und Kämpfe?«

»Wir habens! Und darum gibt es, solange Sie leben, auch für Sie keine religiöse Totenstarre.«

Zu dem Wort hob sie die Lippen wie zu einem Heiltrank. Aber dann verschloß sie sich wieder, lehnte Horst ab, ging zu ihrer Musik und fand eine müde Ruhe. »Wer hat die Musik die Kunst der Erinnerung genannt? Und soll die Erinnerung selbst nicht Kunst sein? Erhaben ob dem Geschehenen? Jenseits der Erschütterungen? So hab ich doch auch längst wieder die Orgel spielen können. Es war zuletzt ganz Spiel um des Spieles willen. Und die Töne waren über dem Leben.«

Horst mußte denken, ob Du nicht so wieder heimfindest? 119

Er sprach dann von sich selbst, was ihm das Orgelspiel immer gewesen war. Im Schatten der mächtigsten Kirche einer alten Hansestadt steht das Wohnhaus seiner Kindheit. Gedämpfte Orgelklänge begleiteten seine ersten Träume. Was seine Jugend ersehnte, was durch seine junge Seele stürmte und brauste, jeder Brand, jede Inbrunst seines Herzens – alles zitterte und lebte von dem Orgelklang, alles war von ihm durchwebt, von ihm gehalten und geweiht von ihm.

»Für mich ist das Orgelspiel Heimat. Und Heimweh.« Da sah sie ihn groß an, und ihre Augen verstanden ihn.

Und es bebte in Horst, als er sie bat: »Darf ich Sie nicht einmal Orgel spielen hören?«

Sie zuckte zusammen, von der persönlichen Berührung in diesem Wunsche. Er und sie – zu meiden hatten sie sich, sich zu bekämpfen, sich zu vernichten.

Ein Waffenstillstand? Mit Orgelmusik?

War nicht die Fremdheit, die Feindschaft von ihnen abgefallen? Wo sie so miteinander sprachen, hatte sich nicht fast ein Vertrautes eingestellt?

Und sie gab die Antwort auf seine Bitte. »Ja, wenn sie mich hier noch in die Kirche ließen!« Dann erzählte sie: mit dem alten weißhaarigen Organisten von Sankt Nikolai wäre sie gut Freund. Er hätte ihr mehrmals die Schlüssel zur Kirche gegeben. Die Orgel wäre ein vorzügliches Werk von dem alten Zacharias Hildebrand.

»Und jetzt?«

»Jetzt hat die Geistlichkeit Einspruch erhoben. Sie verteidigt, der Zeit zum Trotz, mit achtbarem Mut ihre Gotteshäuser. Ich darf mit meinen umstürzlerischen Händen das heilige Instrument nicht mehr berühren.«

»Sie sollen diese Ihre hohen Stunden wiederhaben. Ich werde mich dafür einsetzen, daß Sie wieder Orgel spielen können. Und zur Belohnung darf ich Ihnen zuhören, nicht wahr?« 120

Er hielt ihr die Hand hin, sie schlug ein. Und so trennten sie sich.

Was war geschehen? Zwei Menschen, die das Leben zum Kampfe aufgeboten hatte, die ein Vernichtungskrieg gegeneinander entflammte, die beiden hatten eine Stunde des Friedens, der Gemeinschaft gefunden. Sie hatten ausgeruht ineinander. Sie hatten sich beide beschenken können. Und jetzt?

Jeder ging wieder zurück in seine Schlachtreihe. Jeder nahm wieder den Platz ein in seiner Front. Nur, daß sie beide das stille Übereinkommen geleitete, dieses Beisammensein würde sich wiederholen. Wieder würden sie denselben stillen Weg gehen und aufsteigen zu derselben sanft belichteten Anhöhe, die über den Wolken des Tages lag.

Den Feind verstehen, heißt die Welt begreifen.

Wie lange aber, wie lange war ihnen die Nähe beschieden? Würde der Krieg ihnen nicht bald genug diesen friedlichen Hang verwüsten?

Oder – gab es hier etwas zu retten für sie beide? Etwas, was mehr war als die Zwietracht ihrer Gedanken, was über ihrer Feindschaft war und ihrem Kampf?

Sie trugen beide an dem Druck ihrer Hände, mit dem sie voneinander geschieden waren. –

Zwei Einsame saßen in der Baracke und hüteten das Haus. Dankwart Hamerslag arbeitete an seinen Modellen, Gust Elbenfried forschte in der Schrift. Auch hier war im Schaffen, im Suchen, im Sehnen ein Auferstehen.

Einsam auch, ein Schwebender, zog Gisbert durch die Frühlingsheiligkeit. Gen Osten pilgerte er – da lag Mönkhov. Die Rhythmen der schönen, tönenden See begleiteten seine Schritte. In den Dünen machte er Rast, auf dem höchsten Gipfel schlug er seinen Thron auf, den Thron seiner Sehnsucht. 121

Unverwandt schauten seine Blicke nach Osten. Ganz unkörperlich seine Sehnsucht, nicht einmal das Bild der Ersehnten nahm Gestalt an. Jenseits von der Form blieb alles. Ein Lichtnebel die Welt, ein webender Glanz. Und in ihm atmete das Glück.

Daß Du lebst! Und daß ich weiß von Deinem Leben! Was will ich mehr? Was brauche ich mehr? Ich fühle Deine Nähe, durchleuchtet bin ich von der seligen Sicherheit meiner Habe. Wer kann mir von ihr etwas rauben? Wie reich bin ich und wie stark!

Du bist die Geliebte meiner Seele. Nicht treibt es mich, mit den Blicken Dich zu fassen, das Auge in Dein Auge zu legen, mit Deiner Stimme mein Ohr zu füllen, Deine Finger mit der Hand zu umspannen. Nur wissen will ich Dich, nur wissen, daß Du bist, nur das Glück fühlen, daß Du lebst!

Rühren Worte an die Herrlichkeit dieses Besitzes? Nicht einmal Gedanken. Über allem Sagen und Fragen, wortlos, gedankenlos ein sinnenfreies Schwimmen im Himmelsraum, ein Ertrinken in Licht –

So saß Gisbert in starrer Entrücktheit ein göttlich Entschlafener auf der Dünenhöhe, dieweil über die Meerflut hin der junge Frühling schauerte.

Erst die flüsternde Dämmerung weckte ihn aus seinem seligen Schlaf. Und nun schlich es doch von Frühlingsangst in seine Jugend, seine junge Jugend. Was fing so an zu singen in seinem Blut – leise, leise und sang doch immerfort.

Und ein Taumeln, da er sich erhoben hatte, ward sein Schreiten, das nach Osten ging – wo er doch westwärts wollte, nach seiner Arbeitsstatt, der Baracke. Wie er sich umwandte, keuchte er, beladen auch er von der Süße und Schwere des Frühlings. 122

Die Arbeit! Die Arbeit auch seine Zuflucht. Ihr mußte alles zum besten dienen, alles Fühlen, alle Andacht, aller Kult, auch von Frühling und Frau – alles mußte einmünden und aufgehen in den Gottesdienst der deutschen Arbeit.

 


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