Max Dreyer
Die Siedler von Hohenmoor
Max Dreyer

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Der Torfmeister

Ein spärliches Licht aus einem der Fenster grüßte mühsam durch den Abendnebel. Horst öffnete die Pforte des Heckenzaunes, der einen kleinen Vorgarten einhegte, und trat dann durch die Haustür auf die dunkle Diele. Links war das Licht, er klopfte, eine Stimme, die wie Donner rollte, rief einladend: »Jawoll!«

In dem niedrigen verräucherten Zimmer hockte ein grauhaarbuschiger Riese, der Leib war in einen mächtigen schwarzen Wachstuchlehnstuhl versunken, die Beine durchquerten den ganzen Raum, auf daß die Füße, in ungeheueren Filzstiefeln, mit dem offenen Ofenfeuer treuliche Nachbarschaft hielten.

»Guten Abend!« grüßte Horst.

»'n Abend«, polterte der Alte mit unglaublich gemütlichem Grollen zurück. Und dann stöhnte er: »Wollen Sie sich setzen. Eh ich aufgestanden bin, haben Sie längst vergessen, was Sie von mir wollen.«

Horst holte sich einen von den schweren eichenen Holzstühlen. Er sagte, daß er von der Siedlung käme.

»Hab ich mir gedacht. Und wissen Sie, daß wir Feinde sind!«

»Feinde?«

»Über 'n Zehntel von meinem Moor haben Sie mir genommen! Aus meinem Leben ist das rausgeschnitten. Denn mein Moor ist mein Leben.«

Jetzt stöhnte er wirklich und aus der Tiefe. Die Hausbalken ächzten. »Seit der Zeit hat es mich 61 gepackt. Und nun ist nichts mehr mit mir los. Haben Sie 'ne Ahnung, was Moorpodagra ist?«

»Nein.«

»Danken Sie Ihrem Schöpfer. Aber –« jetzt rieb er sich die unermeßlichen Vorderflossen – »vielleicht erleb ich's noch, daß Ihr Siedler das auch abkriegt! Wär das – wär das ein Schützenfest! Hahahaha!« Das Haus lachte mit, die Wände, die Dielen, die Möbel.

Mit dieser Verwünschung hatte seine Galle sich entgiftet. Die Augen, große Spitzbuben von Natur und jung trotz der roten wimperlosen Lider, waren schon wieder geneigt, das ganze Leben als eine erkleckliche Schalksnarrheit halb ausgelassen, halb wehmütig zu betrachten. Er rührte sein Fußwerk, sehr behutsam, es ging besser als er dachte. »Torfwasser! Fünfzig Jahre Torfwasser! Torfwasser ist 'ne eigne Mixtur, kann ich Ihnen sagen. Leichen erhält's. Lebendiges frißt es an.«

Er hatte die Kniee krumm. »Na wollt ihr raus?« sprach er zu seinen Stiefeln hinunter. Und da sah Horst aus jedem Schaft ein Köpfchen lugen – die grellen Augen stachen nach ihm.

»Was haben Sie da?« fragte er überrascht.

»Die fressen den Gichtwurm«, gab ihm der Alte zu wissen. »Werden selbst aber nicht satt davon. Meine Wiesel sind das. Na lauft!« Die fadenschlanken Tierchen schlüpften aus dem Fußgehäuse, liefen an dem Riesen in die Höhe, umkreisten spielend seinen Nacken und schlängelten sich dann hintereinander in ein Loch der Diele.

Nun stand der Alte, reckte sich, nüsterte und schnob, fegte mit seinem Haarschopf die Decke, hinkte zu einem Wandschapp und holte eine Schnapsflasche mit zwei Gläsern. 62

Sie saßen an dem klobigen Eichentisch. »Selbst gebrannt. Wacholder«, erklärte der Alte.

»Hüt' dich vor sünd'gem Wandel,
vermeide den Machandel!

Na Prost!«

Er stöhnte wie ein Ur.

Horst sagte ihm, daß die Siedler seinen Rat und seine Hilfe brauchten.

Wirklich! Erst nähmen sie ihm das Beste weg, und zum Lohn dafür sollte er helfen! Christenlehre! Reißt dir einer die Tabakspfeife aus der Hand – gib du ihm Feuer, daß er sie sich auch anrauchen kann! Hahahaha!

Die Stube schüttelte sich, der Eichentisch tanzte Ballett.

Dann schimpfte er auf die ganze Moorwirtschaft hier. Nie hätte er gekonnt, wie er wollte. Der Besitzer, Herr von Borkhus, hätte nun mal keinen Sinn fürs Moor. Was ein Gemütsfehler wäre. Seine Tochter, Frau von Mönkhov, hätte diesen Sinn – und wäre die nicht, gäb es hier den Torfmeister Lud Uhlenbrook längst nicht mehr.

Das Zwanzigfache hätte sich allein aus dem Torfstich herausholen lassen. Aber keine Unternehmungslust, kein Blick, kein Verstand. Selbst für die kümmerlichsten Abfuhrstraßen hätte er bis aufs Blut kämpfen müssen.

Und das Moor ist so brav, so fleißig im Nachwachsen, im Nachschaffen, es gibt und schenkt so gern. So treu ist es gegen die, die es kennen und liebhaben – böse nur gegen die, die nichts von ihm wissen und nichts von ihm wissen wollen. Ob er etwas von ihm wisse?

Nein.

Dann solle er sich nur nicht einfallen lassen, in einer Sturmnacht übers Moor zu wandern. Wenn ihn die Schlünde und Gründe nicht verschluckten, all das, was dann aufgeschreckt wäre aus den Tiefen – heillos würde es ihm die Sinne verstören. 63

Arm und zu bedauern sei er, daß er nichts vom Moore wisse. Nichts vom schlafenden Moor – nichts von seinen Träumen – nichts von seinem Erwachen. Von den Moornebeln nichts, nichts von dem Moorleuchten. Von seiner Frühlingspracht nichts, wenn die unzähligen goldenen Blumen es bestirnten – nichts von all dem Summen und Zirpen und Tirilieren, von seiner Musik, so vielstimmig und so abgetönt wie keine auf der Welt.

Und die Abenddämmer, die an das Geschwundene rührten – die hellen Nächte, da der Mond die Elfen ruft – die schwarzgrollenden Unwetternächte, in denen die geizigen Zwerge und Gnome mit ihren Irrlichtern nachsuchen, wohin die Blitze ihr Gold gestreut.

Was ruht alles im Schoß des Moores! Kämpfer und Helden, die das Gewoge der Schlacht hier hineinstieß. Könige, die der Ruhm hier im Grabe bettete. Selige selbstvergessene Frauen, die im Traumschritt hinüberwandelten, und die der Tod hinabzog, selbst wie ein Traum – Unselige, die der Gram hier versenkte.

Das Meer, das grausame, zerstört. Alles, was es hinabschlingt, gibt es der Verwesung preis, den Zähnen seiner Bewohner, und wirft und speit die eklen Reste wieder von sich – das Moor sorgsam und sanft, balsamiert alles ein, bewahrt dem Toten die Schönheit des Lebens, hat Freude an der Form und Lust am Erhalten.

So ist das Moor, denn das Moor hat ein Herz!

Dies war der Klang, in dem der Alte sich vernehmen ließ, auf seine Art. Und diese Art stieg über ihn selbst hinaus, da er dem, was ihm ans Leben gewachsen war, seine Hymnen sang.

Horst hatte seine Freude an dem Alten. Er wußte, daß sie beide auch jenseits vom Moor sich nahe kommen würden. »Ich will mich bemühen,« sagte er, »Ihren 64 Freund zu verstehen. Und womöglich auch Freundschaft mit ihm zu schließen.«

Sie sprachen dann über die Torflieferung für den Ziegeleibetrieb. Dem Siedlungswerk an sich war der Torfmeister zugetan, und er versprach ihm seine Förderung.

Und dann strömte auch ihr Fühlen und ihr Gespräch in die große deutsche Not. Der Torfmeister hatte seine festen Gedanken. Dies war kein grader Krieg – schief kam er und aus der Ecke! Was ging uns um Haut und Haar das an, was da unten bei den Mausefallenhändlern passierte! Ich war 66 und 70 dabei – da wußten wir, was wir wollten! Aber hier wußten wir nicht mal, was die anderen wollten. Und darum, es war krumm und dumm von vornherein. Und doch krümmer und dümmer, was wir all die Jahre vorher angestellt haben, uns all die vielen Feinde aufzuhalsen.

Hierüber brauchten die beiden sich nun nicht weiter zu verständigen. Sie landeten jetzt bei dem Heute, bei dem, was diesem Landstrich beschieden war.

Hier hat es schon vor dem Kriege gezuckt und getuckt, sagte der Alte. Gewiß, vieles, was so von Leuteschinderei geredet werde, sei Hetze und Geschwätze. Aber mancher Gutsherr habe doch sein Teil auf dem Kerbholz. Das Volk wäre ducknackig und trüge viel, aber es fräße alles in sich hinein, und vergäße nie. Da hätte sich also schon was angesammelt. Und jetzt, wo die Funken durchs Land flögen –!

Wie es in Moorhof aussehe?

Herr von Borkhus gehöre nun gewiß nicht zu den Gewaltherrn. Er habe ein Herz für die Arbeiter. Aber er behandele sie nicht gleichmäßig. Leicht risse sein heißes Herrenblut ihn fort – hinterher täte es ihm leid, und überschwenglich verwöhnte er dann die Leute. So aber bekäme man sie nicht in die Hand. 65

»Sie meinen also auch, uns steht hier noch verschiedenes bevor?«

»Ganz gewiß. Wo jetzt die heftigen Brüder von auswärts kommen und das, was hier glimmt, mit vollen Backen anblasen.«

»In der Stadt hat sich ja jetzt was zusammengetan.«

»Ja. Seit da nun noch der rote Magistrat die Fuchtel schwingt.«

Und nun ist Horst wieder bei seiner Revolutionärin. »Sagen Sie mal, Sie sind doch auch der Friedhofswärter?«

»Ja – und?«

»Wissen Sie, daß da eben eine Dame eingesperrt war?«

»Nein. Wer?«

Horst beschreibt sie. Und jetzt kommt eine fliegende Erregung über den grauen Riesen. Das sei Lona Grahl gewesen! Seine kleine Freundin! Die habe das Grab ihres Geliebten besucht! Und nun müßte er, der Alte, mit seinem kranken Beinwerk gerade den Schlüssel nicht haben! Die Küsterdirn, die dumme, die sich vor Gespenstern fürchte, habe natürlich in dem Nebel vor Abend schon blindlings zugeschlossen und danach spornstreichs Reißaus genommen. »Aber sonst pflegte Lona doch immer nach ihrem Kirchhofsbesuch bei mir einzusehen! Sollten Sie sie mir vergrämt haben!«

Fast zornig flammte es aus den alten jungen Augen gegen Horst.

Der erhebt sich. »Es tut mir leid. Sie weiß, daß ich politisch ihr Todfeind bin. Sie weiß auch um meine freundschaftliche Gesinnung für Herrn von Borkhus.«

Die schwere Pranke des Alten legt sich auf den Arm seines Gastes. Die Aufwallung reut ihn.

»Bleiben Sie noch sitzen. Die Kleine steht mir nahe. Ich hab sie als Kind auf dem Arm gehabt. Sie stammt aus unserer Gegend. Ihr Vater war Pastor in Unkvitz. 66 – Sie sehen die Kirche südwärts vom Moor. Das war ein Mann – was haben wir den geliebt! Zu dem gingen wir alle und nicht zu unserem Pastor hier. Jung war er und fröhlich – und wenn man ihn bloß ansah, wurde man schon ein besserer Mensch. Und was konnte er die Orgel spielen! Jeden zweiten Sonntag gab er ein Kirchenkonzert. Was Beine hatte und Ohren drängte sich dazu. Und seine Frau sang, wie ein Engel aus dem Himmel sang sie. Die war eine berühmte Sängerin gewesen, aber ihren Mann hatte sie lieber als all ihren Ruhm. Und ganz plötzlich – ich weiß nicht, was der Herrgott sich dabei gedacht hat – plötzlich stirbt dieser Mann. Hatte an einem Krankenbett sich angesteckt. Die Frau wurde wahnsinnig. Verwandte holten das Kind. Es war damals zwei Jahr. Ich ging auch gerade zur Bahn. Da habe ich das Wurm den ganzen Tag getragen. Und das war der Anfang unserer Freundschaft. Dann habe ich die ganze Zeit nichts von ihr gesehen und gehört. Jetzt ist sie wieder aufgetaucht. Und schlimm genug ist das, was sie wieder in die Heimat geführt hat.«

Der Alte stöhnte und schwieg eine Weile.

»Als wir ihren Freund hier begruben – sie war sein einziges Gefolge. Der Geistliche, der hier damals amtierte – unser Pastor Wärmann lag noch verwundet im Lazarett – na ja, er gab wohl her, was er konnte, aber schließlich – der Tote ein Revolutionär. Und sie die Geliebte eines Revolutionärs. Die wahre Liebe und der wahre Trost war es nicht. Ich hab dann die Kleine mit nach Hause genommen. Und an meiner Brust hat sie sich ausgeweint.«

Horst hörte hingegeben zu. Und nun sah er sie hilfsbedürftig in den Armen dieses alten Mannes. Hilfsbedürftig – das reimte sich ihm so wenig zu ihrer Art. Und ihre Augen in Tränen – diese Augen mit ihren wilden Bränden und ihrer schaurigen Erloschenheit. 67

Er wollte mehr wissen, aber er brauchte nicht zu fragen. Der Torfmeister war mit dem Recht seiner Jahre redselig geworden.

»Jetzt will sie hier bleiben. Sie hat sich in der Stadt niedergelassen. Als Musiklehrerin. Aber die Musik – na, vor allem macht sie jetzt hier die Musik der Revolutionsmänner mit. Ihr Freund war Maler, und sie kommt von der Musik her, und sie hat mir gesagt, was so die Jungen von der Kunst wären, die wären alle revolutionär – oder sie wären taube Nüsse.«

»Wir haben auch noch eine andere Jugend!« sagte Horst lächelnd, mit Bedacht.

»Davon verstehe ich nichts. Aber – bei alledem ist mir nicht behaglich. Sie bleibt nicht bloß hier, um das Grab zu pflegen. Sie hat noch etwas anderes im Sinn. Was manchmal in ihren Augen umgeht! Und wenn man daran denkt, daß ihre Mutter im Wahnsinn geendet hat –! –«

Horst packte zu. »Sie meinen, sie will sich rächen.«

Der Alte sah ihm ins Gesicht. Dann sprach er unumwunden: »Ja. Und wo hier jetzt die politischen Brandstifter herumwirken –«

Die beiden Männer schwiegen. Und das Grauen rührte an sie, das durch die deutschen Lande schlich.

 


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