Max Dreyer
Die Siedler von Hohenmoor
Max Dreyer

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Nieder mit dem Würger!

Nebel wogten durchs deutsche Land, Nebel und Rauch von Feuersbrünsten und Scheiterhaufen. Ein giftig schwelender Brodem zerfraß die Augen, die Hirne, die Herzen.

Baron Borkhus und Horst fuhren im Jagdwagen nach der Kreisstadt zu einer politischen Versammlung. Der Herr kutschierte, neben ihm saß Horst, hinter ihnen Strempel, der alte Kutscher.

»Was sind wir für ein Volk!« so wälzte Borkhus an seiner Last. »Daß Unsersgleichen nicht auf Erden ist, wer will es uns jetzt noch bestreiten! Die größten Helden sind wir – ja – aber auch die größten Hunde! Hat je ein Volk erst sich selbst heimtückisch gemeuchelt – dann sich selber begeifert und bespien – mit einer Art Wollust schmutzigster Exhibition sich selbst vor aller Welt an den Schandpranger gestellt! Daß selbst die schwarzen Bestien sich scheckig lachen vor unbändigem Vergnügen!«

»Wir sind krank – wir sind im Fieber –«

»Fieber – seit wann macht Fieber ehrliche Kerle zu Lumpenhunden!«

Er war schon in der gehörigen rhetorischen Stimmung und im Öffentlichkeitsfeuer. Er brauchte auch Publikum und dessen Widerhall. Da Horst nachdenklich schwieg, wandte er sich hinterwärts an sein Faktotum. 22

»Hab ich recht, Strempel, oder nicht?«

»Komplett, Herr Baron,« kaute der zurück, mit seinem breiten, malmenden Mund.

Borkhus hatte eine Zärtlichkeit für diesen verschmitzten, verkniffenen alten Knaben, die Horst nicht begriff. Ihm waren in die Falten des knochigen, eckäugigen, vergilbten und gegerbten Bereitergesichts alle Tücken der Welt gesät.

Es ist gut, dachte im übrigen Horst Oldefeld, dem Baron zugewandt, daß du vor der Versammlung von dem gröbsten dich entlädtst! Dein Zorn hat recht, so weit Zorn recht haben kann. Denn Zorn allein kann nicht helfen, und Hilfe ist, was wir wollen.

Horst, der selber oft genug seinen Ingrimm mit beiden Händen bändigen mußte, blieb heute in der Ruhe und strebte in die Tiefe.

Er sprach davon, wie Deutschland von je das Schlachtfeld gewesen sei, das blutige, das zerwühlte, nicht nur für alle Heere der Erde, auch für alle großen Ideen der Welt, die alle, alle sein schmerzensreicher Schoß getragen und geboren hatte. Aufs Tiefste und Schmerzlichste zerpflügt das Land vom Schwert und vom Geist. Alles, alles Menschliche umspannen seine Lebenskräfte, das Niederste bleibt ihnen nicht fremd, bis zu den reinsten Höhen beschwingen sie sich. Das Niederste, ja, warum es leugnen? Warum mußten wir uns immer wieder die Ohren und die Sinne betäuben mit dem lauten Sang von deutscher Treue! Auch deutsche Untreue gibt es mehr als genug! Aber vom Allererbärmlichsten greift die Spanne deutschen Wesens bis zum Erlauchtesten empor. Das ist sein Reichtum, ist seine Größe – das ist sein Schicksal, sein Fluch. Das ist seine Passion und – seine Verklärung!

So sprach Horst zu Borkhus.

»Ganz gewiß haben Sie darin recht,« antwortete der, »daß wir uns immer viel zu viel vorgesungen 23 haben! Was wir für Kerle seien! Wie geräuschvoll haben wir uns immer unsere Tugenden beteuert! Und mit welch triefender Empfindsamkeit! Kam einem das alles nicht manchmal vor wie eine künstlich auf Flaschen gezogene, künstlich kalt gestellte Sentimentalität, die wir festlich entkorkten, mit der wir feierlich anstießen und feierlich uns besoffen? Als Idealisten taumelten wir uns in die Arme! Wieviel fader Muff war doch in diesem Idealismus!«

Horst sah ihn an, ein scharfes Lächeln im Auge. »Und jetzt – verfallen wir jetzt nicht in den entgegengesetzten Fehler –?«

»Sie meinen?«

»Haben wir uns früher verhimmelt, bereiten wir uns jetzt ein System daraus, uns selbst zu beschimpfen!«

»Soll das auf mich gehen? Aber ich schimpfe ja nur darauf, daß wir uns jetzt so herabziehen, und mit Schmutz beschmieren – ebenso wie ich darauf schimpfe, daß wir selber uns einst so in den siebenten Himmel gehoben haben! Natürlich beides aus derselben dreimal verdammten Empfindelei! So lange wir die mit uns herumschleppen – ehe wir diesen schmierigen Fetzen nicht von uns abreißen, kommen wir nicht wieder fußfrei auf die Beine. Wie haben unsere Feinde es geschafft! Dadurch, daß sie brutal sind – brutal im Denken, im Handeln – brutal ihre Energie, brutal ihre Grausamkeit, ihre Tücke, ihre Feigheit, ihre Verlogenheit! Noch immer hat Gewalt mit Verbrecherhänden die Weltpolitik gemacht – wir aber faseln, auch heute noch, von Weltgewissen. Als ob das Gewissen der Welt nicht der schamlose Nutzen wäre! Und faseln wir nicht, keifen wir, wie Weiber auf der Treppe.«

Tust du letzteres nicht selbst ein wenig, mußte Horst wieder denken. Er blickte auf den gewaltigen Mann, der in drohender Haltung neben ihm saß, den Kopf gehoben, die mächtigen Augen geweitet, keuchend wie 24 zum Kampf. Ehrlich in jeder Faser – und sah doch in seinem ehrlichen Zorn an etwas vorbei, das er selber in sich trug.

Auch einer von denen, die so gern, so gern brutal sein wollten und konnten es nicht. Dies unser Grimmen und Fluchen – ist es nicht ein Sich-Wehren gegen die weiche Stelle in uns, die wir alle haben, die nur nicht das Mächtige werden darf über uns, ohne die wir aber in unserem Wesen verstümmelt wären!

Und Horst will es ihm sagen: wir werden sie nicht los unsere Empfindsamkeit. Sie gehört zu uns. Sie ist ein Teil unserer Kraft. So dürfen wir sie auch nicht bekämpfen, und sie und uns damit schwächen – nur in die rechte Bahn, in den starken Strom unseres Lebens sollen wir ihre Quellen leiten, und sie hilft uns zu unserem großen Werk. Ohne sie können wir nicht siegen, sie wird dabei sein, sie muß dabei sein – und der Triumph der Empfindsamkeit ist auch der Triumph und die Freiheit des deutschen Geistes, des deutschen Volkes! So werden wir siegen!

Er formte noch an den Worten, daß sie eindringlich sprechen sollten, da tauchten schon die Lichter der Stadt vor ihnen auf. Borkhus dachte an die Versammlung und ließ sich den Anfang seiner Rede durch den Kopf gehen.

Dann wandte er sich zu Horst, mit treuherzigem Lachen und das Herrische war im Versinken: »wissen Sie, daß ich einen heillosen Bammel habe?«

»Wovor?«

»Nun vorm öffentlichen Auftreten! Lieber ins Trommelfeuer, in einen Gasangriff als auf die Rednerbühne! Ein Zustand, in dem man sich nach einem Schlaganfall sehnt –«

»Dann –«

»Würden Sie es lassen, wollen Sie sagen!« 25

»Ich meinte eigentlich, damit bringen Sie doch der Partei ein großes Opfer.«

»Nicht so ganz. Es ist doch hier wie überall ein gehöriger Schuß Eitelkeit dabei. Und der Ärger, daß man diese Angst, diesen kleinen Schweinhund, nicht unterkriegt.« Die jungen Pferde gingen unruhig in seiner Hand. »Sehen Sie, meinen Tatterzustand merken selbst die Rösser.«

In dem Gasthof, dessen Saal für die Versammlung bestimmt war, spannten sie aus. Der Wirt, gar nicht unterwürfig, ein trockener, grader, ernster Mann mit soldatischem Blick nahm den Baron gleich beiseite.

»Ich habe die Rednerbühne eben noch umstellen lassen.«

»Warum?«

»Sie stand doch an der Wand unter dem Altan.«

»Nun ja – und?«

»Die Galerie hat unser Janhagel besetzt.«

»Ja so. Und nun meinen Sie, aller Segen kommt von oben!«

»Ich trau ihren Taschen nicht und nicht ihren Manieren, solange die Berliner Hetzer hier herumwirken.«

»Die Hetzer. Da haben wir sie wieder.« Aber in des Barons unwillig müde Züge war jetzt etwas freudig Gespanntes getreten, eine Kampfeslust. Sein Kulissenfieber war gebannt.

Der Saal füllte sich, Bürger, Arbeiter, Frauen. Ein paar Mütter kamen mit Kindern angeschleift. Versteckten sie dann aber, doch bedenklich geworden, zwischen ihren Knien.

Behutsam fanden sich jetzt auch einzelne Honoratioren und Akademiker ein, Herren vom Gericht und vom Gymnasium. Ihre Damen waren wohlweislich zu Hause geblieben.

Gar nicht behutsam aber trat Dr. Georg Stump auf den Plan. Er gab Deutsch, Religion und Turnen 26 am Gymnasium, war mit seinem ungebärdigen Draufgängertum ein Schrecken des Direktors, aber ein Abgott der jüngeren Jungen.

Er musterte die Arena, hob den kurzgeschorenen Bulldoggenkopf mit den großen runden Augen zu der Galerie empor, auf der sich die knallrote Jungmannschaft, von zwei Berliner Spartakisten betreut, mit weltüberlegener Grandezza hinlümmelte. Aha, sagte er sich, da seid ihr also! Eure Anwesenheit, eure Haltung und Führung verspricht Erlebnisse.

Jetzt erschien ein Trupp, der auf der Galerie Bewegung weckte. Siedler waren es, die von Hohenmoor zu Fuß gekommen, zehn Mann, Elbenfried und Eggert unter ihnen. Dankwart, der sich von seinen Tabellen nicht trennen konnte, und Gisbert, der im Dienst war, hatten Kunz bewegen wollen, mitzugehen. Der aber erklärte: »Politische Versammlung – nee Kinder! Lieber 'n Geburtshilfekursus in Ostgalizien!« Pfiff seinem Muz, nahm die Büchsflinte und suchte zwischen Schnee und Mondschein jagdbares Wild.

Auf der Bühne versammelte sich jetzt das Komitee, Mitglieder der bürgerlichen Parteien, die wohlmeinend und ganz allgemein zu einer »Aussprache der Vaterlandsfreunde« eingeladen hatten. Auch die Sozialisten hatten zwei Redner gemeldet.

Vorsitzender war Herr Holzhändler Dobbertien, ein ergrauter Demokrat guten alten Schlages, mit gesundem vaterländischen Empfinden. Treuherzig, gemütlich, gütig, gerecht, von erklecklicher Ruhe, der rechte Mann am rechten Platze – durften nur die Wogen nicht allzu hoch gehen.

Er eröffnete die Versammlung.

»Männer und Frauen«, begann er. Da unterbrach ihn quarrendes Kindergeschrei. »Und Kinder müßte ich eigentlich fortfahren. Aber das können Sie wirklich nicht 27 verlangen. Wir sind hier kein Säuglingsheim. Ich muß Sie bitten, die Kleinen zu Bett zu bringen.«

Da klang es von der Galerie: »Die haben keen Kinderfräulein zu Hause«, und der erste Kampfruf, der erste Auftakt für die Feindseligkeiten hatte sich eingestellt.

Die Mütter brachten die Kinder hinaus. Der Vorsitzende sprach unbeirrt weiter. Sprach davon, daß es jetzt heiße, alle Mann an Bord – alle zu gemeinsamem Tun! Denn das Schiff sei leck gesprungen, die Stangen niedergebrochen – es treibe vorm Winde. Es müsse, müsse wieder segelfertig werden, müsse dem Steuer wieder gehorchen, sonst gerieten wir rettungslos auf Grund und müßten untergehen, allesamt. Und nur eine Hilfe gäbe es aus der großen Not, daß wir allesamt Hand anlegten zu gemeinsamem Werk. Allesamt, das wäre die Losung. So hätten sich hier heute aus allen Parteilagern deutsche Männer und Frauen zusammengefunden, die alle Zwistigkeiten vergessen wollten und Fühlung miteinander nehmen für die eine große vaterländische Aufgabe.

Der Ton dieser einfachen Ansprache war echt und warm. In diesem und jenem Frauenauge glänzte es feucht.

Die Worte hatten noch nicht ausgeschwungen, da sprang Dr. Stump in die Höhe.

»Darf ich ums Wort bitten – zur Geschäftsordnung!«

»Bitte!«

»Oder vielmehr zur Hausordnung. Es ist nicht angemessen und nicht gebräuchlich, daß in solchen Versammlungen geraucht wird.«

»Quatsch!« schmetterte einer von oben.

»Ich ersuche den Herrn Vorsitzenden, im Interesse der Redner das Rauchen zu verbieten.« Georg Stump war selbst ein leidenschaftlicher Raucher. Er ärgerte 28 sich, daß er sich anständig benahm, während die anderen pafften.

Der Vorsitzende zauderte. Seine Unentschlossenheit entfesselte die Galerie.

»Rauchfreiheit!« brüllte einer. An alles wird Freiheit als Schwanz gehängt. Und ein anderer schrie gebietend: »Wenns mir roochert, rooche ich!«

»Abstimmen! Abstimmen!« riefen nachdrücklich ein paar Volldemokraten von der heiligen Majorität.

Die Glocke des Vorsitzenden drang durch. »Ich will kein Verbot aussprechen,« erklärte er mit richtiger Taktik, »ich bitte die Anwesenden im Interesse der Redner und der Damen –«

Weiter ging es nun wirklich nicht. Warum mußte Vater Dobbertien auch so altfränkisch sein!

»Die Damen schmökern ja selbst!« mußte er sich von unten belehren lassen, wo mehr als eine ihre Rauchkringel durch die Luft drehte.

Horst schüttelte bedenklich den Kopf. Der Kasten wackelt, ganz lächerlich wackelt er. Wenn es so weiter geht, fällt er zusammen.

Immerhin erreichte die Ermahnung des Präsidenten, daß die meisten ihre Zigarre beiseite legten. Nur die souveräne Lebensart der Bergpartei lachte ob so zager Rücksichtnahme.

»Ich werde als ersten Redner jetzt Herrn Baron von Borkhus das Wort erteilen«, bestimmte der Versammlungsleiter. Das »werde« war falsch. Es ließ Möglichkeiten offen.

Ein Murren rollte dumpf – dann durchschnitt wieder der unsterbliche Ruf »zur Geschäftsordnung!« die sich spannende Atmosphäre.

Ein Sozialist erhob sich. Wir sollten doch nicht in den alten Fehler verfallen. Es gäbe keine Privilegierten mehr, und daß jemand, der der alten 29 Oberschicht angehörte, den Vortritt vor den anderen Rednern hätte, entspräche nicht dem Geist der Zeit.

Mehrfache Bravos stimmten ihm zu. Aber gerade aus dem sozialistischen Heerbann erstand ihm ein Widerpart. Die Herren »vom überwundenen Standpunkt« sollten sich nur zuerst aussprechen! Es wäre schon die richtige Anordnung: erst die alte, veraltete Zeit – dann die neue! Der das letzte Wort gebühre.

Und noch ein Dritter wollte hierzu reden. Horst schlug sich aufs Knie, daß es knallte.

Ein junges Mädchen, das neben ihm saß, machte eine unwillige Bewegung. Er hatte sie bisher gar nicht bemerkt. Jetzt wandte er sich wie zur Entschuldigung an sie: »Sind wir nicht wieder einmal unsäglich deutsch! Vor lauter Geschäftsordnung kommen wir nicht zum Geschäft.«

Ein Paar große Schwärmeraugen glühten ihm ins Gesicht. Ein heißer, höhnischer Mund sprach: »Deutsch ist mir ein zu unwesentlicher Begriff.« Dann drehte die Sprecherin sich ablehnend zur Seite.

Eine Deutsche war sie – nicht die Spur eines fremden Lautes war in ihrer Mundart. Und nun diese leidenschaftliche Absage! In den Worten schlug Stahl auf Stein – wie sprühten die Funken!

Horst lehnte sich lächelnd zurück – womit hatte er solchen Zorn erregt? Und spürte den flammenden Odem einer fremden Welt.

Er besah sich die feindliche Nachbarin. Was mit den Augen, diesen brausenden Feuern, sich gegen ihn gewandt hatte, war ein ziemlich breites Gesicht gewesen, mit vollen Nüstern und fleischigen Lippen.

Wie zart dagegen, wie fein und edel die Linien des Profils. Ein Genuß, sie mit den Augen nachzuzeichnen. Der schlanken Biegung des Nackens zu folgen, bis zu dem schweren, dunklen Haarknoten. 30

Der ganz erlesene Geschmack ihrer schlichten schwarzen Kleidung zog die Gedanken noch lebhafter an.

Wer war sie?

Aus seiner Frage warf ihn ein Tumult.

Sie saßen immer noch in der Geschäftsordnungsdebatte. Da war in der anderen Ecke des Saales jemand aufgesprungen. War dann auf den Tisch gestiegen, eine junge, knabenhafte Gestalt, und eine helle, schmetternde Stimme verkündete: »Was treiben wir hier für Albernheiten! Was dreschen wir hier für Stroh!«

»Sie haben nicht das Wort«, rief eindringlich der Vorsitzende.

»Draußen stürmt der Geist der Zeit!« gellte die Stimme ungestört weiter. »Die neue Revolution! Die volle Arbeit macht! Ohne die falsche verlogene Sentimentalität! Die uns die erste verpfuscht hat! Das Chaos brauchen wir! Für die neue Saat –«

Die Neugierde und Spannung hatte dem eigenwilligen Redner Frist gewährt. Jetzt drang der Unmut der Ordnungsliebenden durch. Die Glocke vom Vorstandstisch übertönte die schreiende Willkür des einen.

Und nun geschah etwas Bezwingendes mit fröhlichem Einklang. Der Riese der Stadt, ein mächtiger Bierfahrer, nahm schmunzelnd den immer noch Redenden wie ein Kind auf den Arm und setzte ihn vom Tisch.

Ein Lachen ging durch den ganzen Saal, das die Galerie auf eine Minute wehrlos machte. Dann setzten die wilden Rufe ein: »Ausreden lassen!« – »Redefreiheit!« – »Haut den langen Laban!« Aber sie verpufften in dem Raum, den der Humor ausgepolstert hatte.

Herr von Borkhus aber durfte der Erwägung sich überlassen, ob es noch ernstlich lohne, hier ernstlich zu reden! Eine Versammlung? Nein, ein zwangloses, durch Ulk gewürztes Beisammensein! Der kleine 31 Schweinhund in ihm gab ihm sehr lebendig recht. Aber schließlich, die Menge wollte ihre Sensation. Die zu Gast geladenen wollten ihr Bratenstück. Schon griffen aller Augen nach ihm, dem unleugbar Kraft- und Saftvollsten unter den Politikern hier, dem Gefeierten und Gescholtenen, dem Verehrten und Gehaßten. Sie alle wollten ihn hören, die Freunde und erst recht die Feinde.

So trat die große schwere Stille ein, als der Vorsitzende verkündete: »Das Wort hat jetzt als erster Redner Herr von Borkhus!«

Der Redner erhob sich langsam und trat ruhig vor mit seinen wuchtenden Schritten. Die Nerven schlugen in dem mächtigen Körper – in gleichem Maß schwangen die Fieber all der Menschen, die da unten sich ihm entgegenspannten. Die Fühlung war hergestellt, der Gleichtakt der Pulse in Liebe und Haß.

Mit Orgelklang umfing die Hörer das schwellende Organ, und etwas wie Feier war in dem, was er sprach.

»Volksgenossen! Dies ist das deutsche Schicksal, dies der Herzschlag der deutschen Geschichte: daß nichts auf der Welt die Kinder der deutschen Erde über alle die Unterschiede, die die einzelnen voneinander trennen oder gar miteinander verfeinden, zu einer festen Gemeinschaft zusammenschließen kann – nichts auf der Welt, als das grimmigste Leid! Immer nur aus der tiefsten Not wird unsere Einheit geboren. Wann aber ist unsere Not je so tief gewesen wie heute? Wann hat sie sich je so tief in unsere Seelen eingefressen – wann war ihr jemals soviel Schmach beigemischt! Und darum müssen gerade unsere Tage, trotz aller Wirren und Zerwürfnisse, uns in eine Zusammengehörigkeit schmieden, wie unsere Geschichte sie noch nicht gesehen hat! Unsere Zusammengehörigkeit – das ist die große lebendige Macht, das ist der mächtige lebendige Wall, 32 den wir der Hörigkeit entgegenzusetzen haben, mit der die Feinde uns bedrohen!«

Mit lautem Bravo grüßten diese Rhetorik Gesinnungsgenossen und Freunde der Wortprägung. Aber solche allzu frühe laute Anerkennung war bedenklich. Schon kam Bewegung in die Reihen der Gegner. Horst sah, wie es im Nacken seiner Nachbarin zuckte, wie feindlich die Nasenflügel witterten. Die Lippen zogen sich kurz zusammen und entblößten die spitzen, grausamen Zähne. Ein böses schönes Raubtier spannte sie sich.

Der Redner spürte die Wellenbewegung wohl – er wollte sie zwingen!

Er sprach mit Hingebung von der Nation – daß das Volkstum erst das Leben des Staates sei. Es sei aber auch das Leben der Menschheit. Eine andere Menschheit als die der Völker gäbe es nicht. »Nur als Deutsche sind wir Menschen und können wir Menschen sein.«

Hier fingen die Internationalen an, sich gemaßregelt zu fühlen, und ein schon lebhaftes Murren rollte dumpf durch den Saal.

Der Redner wußte, daß er ein heikles Gebiet betreten hatte, aber die Gefahr steigerte und stärkte ihn. Mit hoch erhobener Stimme führte er den Hammerschlag: »Und wir – wir Deutsche haben unsere Menschenwürde nur in unserem deutschen Empfinden!«

Das schmetterte nieder auf die empfindlich gewordenen. Ein dumpfes Aufstöhnen von Zorn und Wut – dann brandete lauter Unwille gegen die Rednerbühne. Die Geister erhitzten sich mehr und mehr und hetzten sich leidenschaftlich auf. »Menschenwürde« – dies Wort wurde zum Verhängnis.

»Du willst von Menschenwürde reden!« rief es von oben, und dann brüllte einer durch den Saal: »Du Würger!«

Jetzt hatten sie den Kampfruf, den vernichtenden! Und wieder schrie es: »Würger« – und dann tobten 33 sie da auf der Galerie im Chor und im Takt: »Würger!« »Würger!« »Würger!«

Borkhus zuckte zusammen, schmerzlich wild weiteten sich seine mächtigen Augen. Wie Messer stachen die Rufe weiter auf ihn ein, da die Tobenden sahen, daß er litt! Die Grausamkeit berauschte sich. Die Bestie hatte die Pranken gezuckt. Blutdunst legte sich auf die Sinne.

Alle hatte es aufgezogen von ihren Sitzen. Die einen zum Sturm, die anderen zur Wehr.

Eher als Horst war seine Nachbarin aufgesprungen. Ihre Glieder flogen, Stichflammen brachen aus ihren Augen, durch die Lippen ging ein zitterndes Schlürfen. Die ganze Gestalt war verzückte Gier. Ihm erschien sie fast als Dämon dieser Stunde.

Ihre Finger krallten sich um die Stuhllehne – im gleichen Augenblick brach und splitterte Holz auf dem Balkon – Borkhus, der unter der Wucht des furchtbaren Wortes sich gebeugt hatte, war jetzt aufgereckt – die Arme gestreckt, die Brust geweitet, wie zum Kampf trat er an den äußersten Rand der Bühne.

Da in tosendem Wettersturm brach es über ihn her, Trümmer von Stühlen prasselten von der Galerie auf ihn nieder, zerschlugen ihm Kopf und Gesicht – über Augen und Schläfen rann ihm das Blut.

Frauenstimmen kreischten und gellten auf.

Horst war gleich an des Wunden Seite. Auch ihm flogen noch Geschosse auf Schulter und Nacken.

Schon aber war Dr. Stump fast über die Köpfe hinweg zur Tür geflogen – fünf von den Siedlern, der Balbutz und der heilige Josef voran, brachen ihm nach – sie wollten die Burschen da oben einsperren und dingfest machen.

Im Saale brauste das Meer. Die Glocke des Präsidenten, immerfort geschwungen, hauchte sich aus in 34 kläglichem Wimmern. Ein Fels in der Brandung, stand der Riese, der Bierfahrer, die machtvollen Flossen gehoben, drohend und beschwichtigend zugleich. Sie sagten, was Worte in dem Tosen nicht vermochten; hier unten Hände in Ruh!

Die einzelnen Gegner standen wie die jungen Hähne, Auge in Auge, Nase an Nase – sie zischten, schrien, keuchten sich ihre Wut ins Gesicht – aber die Fäuste blieben gebändigt.

Und das rinnende Blut dort oben beschwor. Allmählich ebbte die Zornflut ab –

Da tönten Schüsse auf dem Gang – wieder die gellenden Frauenschreie im Saal – mit Schreck und Grauen zog vollends die Besinnung ein.

Draußen aber zerstob ein erbittertes Handgemenge – die eingeschlossenen hatten den Treppenausgang forciert, brachen mit Übermacht durch, einer schoß auf den feindlichen Stoßtrupp, Dr. Stump kriegte einen Streifschuß am Ohr – was seine Fäuste den Fliehenden mitgaben, wurden die in Monaten nicht wieder los.

Herr von Borkhus wurde von einem Arzt, der zur Stelle war, im Wohnzimmer des Wirtes verbunden. Horst, der Handreichung leistete, blieb an seiner Seite. Im Saal verliefen sich die Wasser. Ein Plätschern war es nur noch – schon konnten sie über das Geschehene sprechen, das hinter ihnen und unter ihnen lag.

Der Wirt besah sich den Schaden, auf der Galerie, auf der Bühne, und drehte das Licht aus. Nur eine müde Flamme über dem Podium blieb brennen.

Und aus dem Dunkel, wie ein Spuk, schlürfte ein altes gebücktes Weib mit Scheuertuch und Eimer. Stieg keuchend auf die Bühne und wusch kopfschüttelnd und brummig das Blut von den Dielen. 35

 


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