Max Dreyer
Die Siedler von Hohenmoor
Max Dreyer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die fremde Frau

Der Vormittag gehörte jedem für seine Briefe und eigenen Geschäfte. Nach Tisch gingen Horst und Kunz auf den Pferdekauf.

Es war ein erfolgloser Weg. Zuerst war ein Bauernhof an der Reihe. Von den Pferden kam hier eins in Frage. Das andere, ein Blender, hatte schlechte Beine. Der Bauer wollte nur beide zusammen verkaufen. So konnte aus dem Geschäft nichts werden.

Auf dem Rittergute Buchhof, wohin sie dann gepilgert waren, gedachte ihnen der Administrator – der Herr war nicht zu Hause – ein Paar tiefsinnige uralte Kracken zu versetzen. Horst dankte kühl. Kunz aber konnte sich den Zusatz nicht versagen: »Wir wollen nämlich Pferde kaufen und keine Philosophen. Wir wollen mit den Tieren pflügen und Mist fahren und uns nicht Memoiren von ihnen erzählen lassen.«

Blieb noch Claus von Tangentien, der aber nur der Form wegen auf der Liste stand. Denn zum Pferdehandel mit diesem alten Ammoniakiter – wie Kunz ihn getauft hatte – zogen sie keine zehn Pferde.

Die Dämmerung fiel schon ein, als die beiden, weidlich verdrossen, den Fuß auf Moorhofer Gebiet setzten. Die Abendsonne hatte sich in den Nebeln überm Moor verblutet. Von den schneeigen Feldern zogen hungrige Krähen müden Fluges nach dem Kiefernwald, bäumten dort auf und richteten sich klagend und frierend ein für die Nacht. Da hinten die See hauchte eisigen Daak über Dünen und Heide. 53 Horst war ungehalten über den verlorenen Nachmittag. Er mußte noch etwas ausrichten, so konnte er nicht nach Hause. Das Moor da unten beschäftigte ihn.

»Ich will jetzt doch endlich mal den alten Torfmeister aufsuchen. Kommst Du mit, Kunz?«

»Alte Torfmeister sind mir zu wenig Sonntagsvergnügen. Ich werd mich aufs Stroh werfen und lesen.«

Sie trennten sich. Kunz ging geradeaus weiter nach der Baracke zu, Horst bog links ab die Straße, die am Dorf vorüberführte.

Aus dem Boden stiegen die Nebel, vom Himmel fielen sie, das Wasser, das Moor sandte sie her – so schlugen sie über dem Schreitenden zusammen. Voll Klage und Schauer war die Welt. Unbändiger als je zwang die Schwermut ihn nieder. Er fiel in seine dunkle Stunde. Das wozu? und wofür? saß ihm an der Kehle. War nicht doch alles umsonst und alles verloren?

Was hockt er hier – in diesem kümmerlichen Tun! Was wird damit geschafft? Was helfen all diese armen Kleinigkeiten, wo selbst das Große uns nicht retten könnte! Das Große! Wenn wir es hätten! Wenn es aufstünde unter uns, das Gewaltige, Allbezwingende, das im Sturm uns fortreißt, in dem einen machtvollen Fühlen und Glühen! Uns alle, alle – das Befreiende, die heilige Flamme, das heilige Licht –!

Was würde geschehen mit diesem Großen? Würden wir selber es dulden? Würden wir selber es uns nicht in Stücke zerschlagen!

Wir Deutsche – wir Deutsche! Wir die ewigen Vandalen an uns selbst! Wir, die geborenen Zertrümmerer unserer eigenen Größe.

Deutschland, das ewige Trümmerfeld – nach unserem eigenen fluchbeladenen Willen.

Wozu bauen, was wir selbst doch wieder einreißen! 54

Und was ich hier bauen will – ist es nicht Kinderkram, wie aus der Spielzeugschachtel! Was soll der Tand! Was soll der nützen! Ein Beispiel sollte es sein, ein Gleichnis, ein Symbol – ja –

Aber ein Symbol der Arbeit? Wer will das! Wer leistet dem Gefolge! Nehmt das goldene Kalb und setzt die Dirne drauf oder den Magier, den Geisterbeschwörer von Geschäft, und ihr habt die Leidenschaften der Zeit mit ihrem Heerbann.

Was kaure ich hier unter dem Schutt! Ein Fremder in meinem Vaterland. Warum dann nicht lieber hinaus in die Fremde! Nach dem Süden, dem purpurnen! In die Klarheit des Nordens! Nur, daß man sein Brandmal trägt, den Galeerenstempel! Die Peitschenstriemen auf dem Rücken! Ein Deutscher – wehrlos, ehrlos. Wer will ihn! Welches Land öffnet ihm seine Grenze!

Vom Leuchtturm auf der Halbinsel ruft das Nebelhorn – Töne fernher, wie aus anderer Zeit, aus anderen Welten. Stöhnende Stimmen von Urzeitriesen, Flüche, Verwünschungen, Todesschreie. Vor mir, um mich das Niflheim! O ging es hinein in das eisige Vorweltchaos!

Wie ein Ertrinkender erlebt er noch einmal sein Leben.

Die jubelnde Jugend unter den strahlenden Augen, der fröhlichen Klugheit der Mutter, die gesammelte Kraft des Soldatentums, trotz all dem Kleinlichen und Lachhaften die ganze Größe des »ich dien«. Die Jahre auf der Kriegsakademie in Berlin, wo Kunst und Liebe ihn so reich beschenkten, und reich auch die stille Lampe bei seiner Wissenschaft. Oft haben ihn die Kameraden »Schuster« gescholten, wenn er des Wüsten und der Ausgelassenheit satt in seiner Werkstätte sich einschloß. Und gerne saß er bei seinem Leisten, der Kriegsgeschichte. Eine Monographie von ihm über die Schlacht von Saalfeld wurde gedruckt und trug ihm brieflichen 55 Verkehr mit Universitätsprofessoren ein. Dann hatte die Strategie des Großen Kurfürsten es ihm angetan – da kam der Krieg.

Der Krieg! Der Krieg! Und nun riß das Grandiose, das Glorreiche, das Ruhm- und Weihevolle – ja, ja, das ist es bei allem, das bleibt es bei allem, und dafür leben und sterben wir! – wie riß es ihn plötzlich aus seiner Verlorenheit in Nebel und Not!

Und jetzt kroch er nicht mehr, er ächzte nicht mehr – er hatte den Kopf wieder hoch und schalt sich aus. Schäm dich, Horst Oldefeld – Neurastheniker mit Nebelhornbegleitung! Nun faßt du wieder Schritt und tust, was du sollst und mußt – und glaubst an dein Müssen – und läßt die Ausflüge ins Niflheim und in das eisige Urweltchaos. Du bleibst hübsch säuberlich auf deutschem Grund in deinem Arbeitsschritt, du bleibst in deiner Pflicht. Und wenn du das Kleine schaffst, denkst du, daß aus Kleinem Großes wird, daß darum das Kleine mehr ist als das Große! Siehst du! Und das denkst du, lachend und zufrieden! Und bist einer und dünkst dir was! So, mein Junge, und jetzt ist es Abend, du darfst ausruhen und müde sein. Die Tagesfahrt hat dich enttäuscht – sind nicht Enttäuschungen die Schwungfedern des Erfolges?

Und ist dir für heute nicht noch etwas Sonderliches beschieden? Ein Sonderling steht dir bevor, der Erdgeist dieses Landes, der Schatzgräber, der die alten Geheimnisse des Moores ans Licht bringt, zugleich der Totengräber des Kirchspieles, der neue Geheimnisse in die Erde senkt. Lud Uhlenbrook, Torfmeister und Friedhofswärter seines Zeichens. Ein besonderer Mann.

Wohl muß man sich traumhaft feierlich stimmen, ihm zu begegnen. Und die Brille zur Hand haben für Geister und Gespenster.

Sind wir nicht hier an der Kirchhofsmauer? Jetzt steigt die Straße, jetzt kann man hinüberblicken. 56

Schwer hängen Dämmer und Nebel in den Sträuchern, den kahlen Ulmen, den bereiften Edeltannen und ersticken das matte Schneelicht, das noch von den Gräbern und Wegen aufsteigen will.

Was huscht da und flattert zwischen den Grabhügeln? Ein Körperliches? Ein Schatten? Verschwindet hinter den Bäumen – schwebt wieder aus dem Nebel – eine irrende Seele –? –

Eine schwarze Gestalt – jetzt hält sie der Blick – eine Frau –

Horst kommt an der eisernen Pforte vorbei – da tritt die Gestalt von innen an die Kirchhofstür und rüttelt an den eisernen Stangen. Eine Gefangene der Totenstätte – –

Er geht hinzu. »Ich hab mich verspätet – man hat mich hier eingeschlossen!« sagt die Stimme von drüben, mehr ungehalten als ängstlich und bittend.

Ein bekannter Klang – und jetzt sieht er die Züge: die Dame von der Versammlung ist es.

»Ich werde den Schlüssel besorgen«, sagt Horst mit schneller Bereitschaft.

Bei ihr ein Zögern. Sie betrachtet sich die Pforte, den Mauerpfeiler. »Wenn Sie mir helfen wollen, komme ich so hinüber«, erklärt sie kurz entschlossen.

Er reicht ihr die Hand, sie setzt den Fuß zwischen die Stäbe, dann auch den anderen – Horst stützt und streckt den Arm – sie klettert auf die Mauer – beugt sich – legt die Hände auf seine Schultern und springt zu Boden. Das alles in einer kühlen Ruhe, ohne betonte Zurückhaltung, ohne regere Verbindlichkeit.

Einfach spricht sie ihren Dank, verneigt sich und wendet sich nach der Chaussee, die zur Stadt führt.

»Es wird unheimlich dunkel – und eine Dame jetzt allein den weiten Weg –« er ist an ihrer Seite.

»Mir tut niemand etwas.«

»Wenn ich Sie begleiten darf –« 57

»Das ist sehr freundlich. Aber ich kann wirklich allein gehen.«

Hierin ist nun, bei aller Gelassenheit des Tones, die deutliche Ablehnung. Horst verbeugt sich und wandert seine Straße. Ein wenig beschämt – ein wenig ärgerlich, über sich, über sie. Aber dann schilt ihn nur noch die Ungehaltenheit über sich selbst.

Aufdringlich – ja, ja – er ist es gewesen und ist ihr so erschienen. Immer dieselben Funken, wo die beiden Geschlechter in Spannungsnähe geraten. Die Eitelkeit entzündet sich, die Eroberungslust, die Habsucht.

Hatte er es nicht ausnutzen wollen, daß er ihr den Dienst erwiesen?

Gewiß, sie hat etwas, was ihn reizt. Ihre Persönlichkeit, die schleierhafte Persönlichkeit –? Natürlich das Weib! »Persönlichkeit« – auch so einer von diesen Zauberapparaten, mit denen wir uns selbst Kunststücke vorführen!

Sie war auf dem Kirchhof. Es gibt Menschen, die für Kirchhöfe eine Leidenschaft haben – heißt, so lange sie selbst munter herumspazieren. Ist sie von denen?

Daß sie ein Grab hier hätte, sie, die landfremde –?

Und da fährt es ihm durch den Sinn: der junge Mann liegt hier begraben, den Borkhus erdrosselt hat! Groß geht es in ihm auf, bis zur Gewißheit: ja, ja – sie war an seinem Grabe – hier ist der Zusammenhang!

Er hatte es nicht begriffen, was damals aus ihren Augen brach, als Borkhus in der Versammlung vor ihr auftrat. Das war mehr gewesen als politischer Haß. Jetzt verstand er dieses Mehr. Der Rachegeist war es eines vernichteten Lebens, das Blutgericht einer zerstörten Liebe, die Tod wollte gegen Tod.

Und wieder ging Horst einen schweren Schritt. 58

Ein Schicksal – und so erst mußte ihm dies zu Bewußtsein kommen. Wie gedankenlos hatte er bisher diesen Todesfall abgetan. Wie leichtherzig hatte er ihn als was Gleichgültiges, höchstens als ein Unbehagliches von sich gewiesen.

Erst in den Augen dieser Frau mußte sich das Geschehene spiegeln.

Und es wuchs, über das Grauen der einen Tat, hinein in die große Tragödie des Volkes.

Herr von Borkhus selbst hatte es gefühlt, vergraben in die Schauer, hatte es ausgesprochen, nur vor tauben Ohren: »Ein Deutscher erwürgt einen Deutschen mit eigenen Händen! In unseren Tagen gemeinsamer Not! Die Zeit der apokalyptischen Greuel kehrt zurück.«

Nicht der einzelne – und doch wieder der einzelne! Denn aus den einzelnen wird das Volk, und in dem einzelnen ist das Erleben.

Eines Mannes Ende – eines Weibes Verlassenheit und Todestrauer. Eine Nacht nur solcher Verzweiflung – nur die wenigen, die langen Stunden einer einzigen, einer langen, langen Nacht!

Nun ist man im Fühlen, und das Herz schlägt mit.

Eine Frau!

Der endlose Zug der Frauen in schwarzen Gewändern wallt vorüber, der Mütter, der Gattinnen, der Bräute, der Schwestern – viele, viele wie die Schatten, denn ihr eigenes Leben gaben sie dahin.

Doch geheiligt sind sie, die Weihe ist über ihnen, die Weihe des Opfers, das die Liebe brachte, die Liebe zum deutschen Land.

Was aber jetzt im Trauerkleide diesem Todeszug sich anschließt, über denen leuchtet nicht der Segen der Hingabe, sie tragen den Fluch und den Haß. Um sie zuckt und schwelt das wahnsinnigste aller Verbrechen, der Bürgerkrieg – Land- und Eidgenossen morden sich selbst! 59

O dieser namenlose Frevel an der deutschen Kraft – an der Kraft der deutschen Seele, an der Kraft unserer Wehr.

Jetzt – jetzt, wo wir so bitter nötig Eisen und wieder Eisen ins Blut haben müßten, gerade jetzt spritzen wir uns Gift in die Adern!

Eisen! Wo ist er, der Führer! Der Held von Eisen! Der große Rufer im Streit! Der Lindwurmtöter! Der erst die Drachen im eigenen Lande erschlägt. Und dann die Höllenhunde da draußen.

Der Feind ist im Land! Das ist der Ruf! Der gellt in die Ohren, er greift an die deutschen Herzen, und wären sie noch so zag, noch so träge und weich geworden, noch so dumpf und so niedrig!

Der Feind ist im Land! Wo ist der Heerkönig! Seine Fahne soll wehen! Wir kommen alle, wir folgen dir alle! Ein Meer brandet auf, ein Flammenmeer – eine Sturmflut von Feuer, so brausen wir über die Feinde!

Kreuzfahrer sind wir, geweihte, in Frommheit entbrannte, heilig, heilig ist unser Kampf für das heilige deutsche Land!

Sie haben Maschinen – was sind Maschinen – wir haben den Geist! Und Gott ist der Geist! In Feuersäulen wandelt er vor uns.

So brennen wir rein – die deutsche Erde – von ihren Schändern – in prasselnden Flammen – so brennen wir rein – in jubelndem Feuer – den deutschen Namen – von seiner Schande.

Der Welt stockt der Atem – und die uns geschmäht – sie jauchzen uns zu!

In hohen Sprüngen war Horst vorwärts gestürmt. Nun stand er keuchend. Wo ist er, der große Mann! Warum fehlt uns der Führer in der schwersten Stunde! Warum bin ich selbst ein so armseliger Zwerg! 60

Wieder krochen die Nebel um ihn zusammen, wieder wollte er schmerzlich und schwer in den alten Trott sinken. Da tauchte am Rande des Moores der strohgedeckte Katen des Torfmeisters vor ihm auf, und das Ziel hob seinen Blick ins Feste, Grade und Helle.

 


 << zurück weiter >>