Max Dreyer
Auf eigener Erde
Max Dreyer

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37.

Ursula ist wie verirrt in der Welt. Niemand, der sie an der Hand führt. Nach Anselm schreit sie, aber der ist weit. Die anderen Menschen sind ihr eine Qual. Wie Feinde sind sie ihr, gegen die man sich wehrt.

Auch von Doria will sie nichts wissen. Dann aber sieht sie in deren ermatteten Augen einen so unsäglichen Gram, daß es ihr aufgeht: sie ist auch geschlagen, sie hat auch ihr Bestes verloren, sie leidet wie Du. Und sie umschlingt die Leidensgefährtin mit der Liebe desselben Schmerzes und in Eifersucht zugleich, mit all den starken großen und kleinen Gefühlen eines todwunden Menschenherzens.

Als sie den Vater begraben hatten – die Beisetzung war still, denn Eichhof hatte zuletzt gar keinen Verkehr mehr gepflegt, doch hatten sich natürlich die Nachbarn eingestellt, bis auf Jochem, der seit acht Tagen verschollen war – nach der Beerdigung warf sich Ursula mit Ungestüm in ihre Arbeit. Noch 376 die Nachtstunden sahen sie bei den Büchern, mit denen sie sich jetzt ganz vertraut machen mußte. Nun gab es für sie keine Mühe mehr, vor der sie sich scheute. Gerade mit dem Schwersten und Unleidlichsten schloß sie jetzt Freundschaft.

Doria kam aus dem Laboratorium nicht heraus. Sie hatte ein Werk des Verstorbenen zu beenden. Es gab Tage, wo die Frauen die Mahlzeiten allein einnahmen und sich überhaupt nicht sahen.

An einem Abend fand sich Onkel Bolko ein. Ursula hatte sich mit einem betrügerischen Viehhändler zornig auseinandergesetzt. Es war die erste gewöhnliche Gemütsregung seit jenen geweihten Tagen. Fast hatte sie sich gefreut, daß ihr so die Adern schlugen. Die Bewegung hatte ihr gut getan.

Sie setzte sich zum Abendbrot, auch gesellte sich heute Doria als rechtzeitiger Tischgast zu ihr. Da kam Onkel Bolko als später Besuch.

Er machte keine Worte. Ein Händedruck sagte alles. Seine Erschütterung fühlte man wohl.

Er war älter, stiller und auch ruhebedürftiger geworden.

Einen Auftrag hatte er auszurichten, von Jochem, der seine ehrliche Teilnahme bekundete. Sie beide hatten zu spät die Nachricht erhalten, beide waren sie in Berlin zusammengetroffen. Jochem war noch 377 da, er besorgte sich Kulissen für sein Singspiel, das er gedichtet und komponiert hatte. Im Schloß von Rotenmoor war ein Saal zum Theater umgebaut. Hier sollte es aufgeführt werden. Auch eine besondere Truppe wollte der Dichterkomponist sich mitbringen.

Das hörten die Frauen mit Kopfschütteln, und Onkel Bolko wackelte vernehmlich mit den Ohren. Aber sie kamen damit auf andere Gedanken.

»Wie lange macht er's noch?« fragte Ursula.

»Er hat wieder schwere Gelder aufgetrieben. Wie er das fertig bringt in unseren Zeitläuften und bei seiner Wirtschaft – das wissen die Himmlischen!«

Ursula mußte an die Hypothek für Eichhof denken. Und Doria sprach jetzt ein geschäftliches Wort. »Sie wissen doch mit Patenten Bescheid, Herr von Morveldt?«

»Das kann ich wohl von mir sagen.«

»Und wie lange werden Sie in erreichbarer Nähe bleiben?«

»Das kann er nicht von sich sagen,« meinte Ursula.

»Nun, wenn Sie mir nur auf den Weg helfen wollen,« bat ihn Doria. Und er sicherte ihr seine freudige Bereitschaft zu. 378

Sie erklärte ihm, um was es sich handele. Das neue, von Herrn von Eich gefundene Verfahren, die Rübenabwässer zu zersetzen und so als Dungmittel zu gewinnen, sollte patentiert werden.

Onkel Bolko wollte selbst sofort die einleitenden Schritte tun. Der Gegenstand begeisterte ihn. Seine Phantasie schwang sich in Höhen und sah goldene Berge.

Dann fragte ihn Ursula nach Anselm. Er wußte von ihm weniger als sie.

Von Bernd, der, wie Ursula erfahren hatte, seit Wochen in Wisby sich aufhielt, kam am nächsten Tage ein Brief für sie an.

Es war ein echter Schmerz in seinen Worten, ein Verschwiegenes und Verhülltes lag über ihnen, das tat Ursula wohl. Und sie fühlte aus allem, wie nahe ihm der Geschiedene gestanden hatte.

Aber es sprach noch mehr aus dem Brief: eine stille Zusammengehörigkeit mit ihr, ein Selbstverständliches, das nicht untergehen konnte. Und davor saß sie lange und sann und träumte und fragte sich.

Hier ist eine Hand, die immer wartet, immer auf ein Zeichen, daß sie sich nach mir ausstrecken darf. Und doch ist sie so zart, sich nicht darzubieten, obwohl sie mich in der Verlassenheit weiß. 379

Aber hab' ich jemals nach ihr ausgeblickt? Nein. das hab' ich nicht. Nicht so, daß ich sie fassen wollte und mich von ihr stützen lassen, nicht so, daß ich nach ihrer Hilfe rief oder auch nur an ihre Hilfe glaubte.

Einmal, ja – gleich nach dem Erlöschen, als damals der Boden unter ihren Füßen versank, nicht nach ihm hatte sie sich gesehnt, nicht an ihn sich klammern wollen – aber eine jähe Frage hatte sie durchzuckt, die Frage des Unglücks: Was hab' ich verschuldet? Womit habe ich diese furchtbare Verlassenheit verdient? Ist das dafür, daß ich ihn, der es nach seinem besten Wollen gut mit mir meinte, so von mir gestoßen habe? Aber das war wie ein Blitz – grell, unruhig im Zickzack – und verschwand wie ein Blitz.

Und was bleibt, ist: daß ich damals, als wir voneinander gingen, wahrhaftig gehandelt habe!

Darum, Bernd, müssen wir jetzt auch volle Klarheit in unser Leben bringen. Es wird Peinliches und Kränkendes dabei sein. Davon, daß sich die Oeffentlichkeit mit unserer Sache befassen muß, bleibt sie nicht reinlich.

Aber da wir schon aus der Halbheit herausmußten, jeder Rest, der jetzt bliebe, ist noch schlimmer als Halbheit. Ganz restlos muß es aufgehen. Und 380 darum muß unsere Ehe geschieden werden, es gibt nichts anderes.

So werd' ich Dir schreiben. Nenn' mich nicht hart und roh, daß das die Antwort ist auf diesen Deinen Brief. Oder nenn' mich auch so, vielleicht bin ich es wirklich. Aber das sollst Du mir glauben, daß ich ehrlich zu Werke gehe.

Ursula, die Besitzerin von Eichhof, ist schonungslos wie gegen sich so gegen die anderen. Immer härter wird ihre Hand, immer fester ihr Sinn. Ihre Kraft und ihr Leben ist Arbeit. Ehe der Morgen graut, beginnt ihr Tagewerk. Und die Nacht setzt ihm kein Ende.

Ihr Gesicht hat scharfe und alte Züge bekommen. Aber dessen freut sie sich fast.

Sie hat sich jetzt wirklich zur Leitung des ganzen Betriebes durchgerungen. Sie ist der Bücher Herr geworden, daß sie ihr nun dienen und raten. Nichts ist mehr in der Wirtschaft, was ihr verborgen bleibt, nichts, was sie nicht überblickt, alle Fäden vereinigen sich in ihrer Hand.

Nicht eben erfreulich ist der Ueberblick. Die letzten Ernten haben allzusehr versagt. Und das Laboratorium ist auch wohl nicht ohne Schuld gewesen. Dorias weitere Wirksamkeit betrachtet sie 381 mit unverhohlenem Mißtrauen und Uebelwollen. Für Onkel Bolkos Träume hat sie nur ein Lächeln.

Das Erste und Nötigste ist, daß die Hypothek beschafft werden muß. Sofort macht sie sich selbst auf die Geldsuche. Aber hier gibt es Absagen und Enttäuschungen über Enttäuschungen. Sie will nicht mehr zahlen als viereinhalb Prozent. Es werden fünf und fünfeinhalb gefordert.

Onkel Bolko bietet mit Feuereifer auch hier seine Vermittlung an. Aber sie traut ihm nicht die nötige Hartnäckigkeit zu. Und dann hat sie auch den Ehrgeiz, dieses erste große Geschäft allein zu machen.

Aber sie bekommt das Geld nicht zu ihrem Preise. Und wie sie hört, daß es von Tag zu Tag teurer wird, will sie nun doch mit der Landbank abschließen, die fünf vom Hundert wollte. Jetzt aber werden ihr schon fünfeinviertel abgefordert.

Darauf geht sie nicht ein, zornig sucht sie weiter, und nun erweist der Zufall sich ihr wohlgesinnt. Dammerow, das Nachbargut, ist an den alten Grafen Saß verkauft. Er hat eine ganze Reihe Güter in der Provinz und ist gerade auf einer Inspektionsreise begriffen.

Ursula läßt ihre letzten Rüben einmieten. Da kommt er mit seiner Begleitung über die Grenze und stellt sich als neuer Nachbar vor. 382

Er ist gewiß der längste und dünnste Mann der Welt. Aus sieht er wie ein magenleidender Amerikaner, aber seine Augen sind gesund, offen und sehr unverdrossen. Er gilt als unheimlicher Rechenkünstler, und ist doch auch wieder Liebhabereien ganz unbekümmert zugetan.

Ursula findet etwas an ihm, was ihr gefällt. So entspinnt sich zwischen beiden ein belebtes Gespräch über landwirtschaftliche Dinge. Der Graf sieht mit Achtung und Teilnahme auf die junge, sichere und tapfere Gutsherrin. Und sie, mit der richtigen geschäftlichen Witterung, die ihr allmählich ausgegangen ist, fragt ihn um Rat in ihrer Hypothekenangelegenheit.

»Ja, meine gnädige Frau, unter fünf Prozent werden Sie schwerlich Geld bekommen. Uebrigens« – er sieht nach der Uhr – »ja, den Zug erreich' ich nun doch nicht mehr – wenn Sie das Vertrauen zu mir haben, mir einen Einblick in die Verhältnisse Ihres Gutes zu gewähren –«

Das Vertrauen hat sie, und sie bittet ihn ganz einfach, die Bücher zu prüfen. Unterwegs mustern seine Blicke, denen nichts entgeht, die Kultur des Landes, und er scheut sich nicht, ihr sein Lob zu spenden. 383

Als er die Bücher durchgesehen hat – gespannt hängt Ursula an seinem Munde – da erklärt er: »Ja, meine gnädige Frau, ich kann und will Ihnen selbst das Geld geben. Zu fünf Prozent.«

»Viereinhalb, hab' ich gedacht,« spricht sie kampfesmutig. »Das Geld wird ja doch bald wieder billiger werden. Und eine Hypothek ist doch nicht bloß für heute.«

Er lächelt. »Konjunkturen sind nun einmal Konjunkturen. Uebrigens dürfen Sie auch nicht vergessen, daß Sie mit dieser dritten Hypothek nun wirklich bis an die Grenze des Erlaubten gehen.«

Er hat jetzt ein ganz ledernes und herzloses Yankeegesicht. Sie wirft sich heftig in die Brust: »Gestatten Sie gütigst! Das kann ich nun doch ganz und gar nicht zugeben –«

»Meine Gnädigste, Ihre Kalkulation in Ehren! Aber sie läßt Unvorgesehenes außer acht, Preisstürze, Unglücksfälle und so weiter. Bei gesundem Betrieb dürfen Sie jedenfalls Ihr Gut nicht weiter belasten.«

Jetzt hat er wieder einen menschenfreundlichen Ton, aber sie ergibt sich nicht.

»Vierdreiviertel!« fordert sie. Sie kämpft einen guten Kampf, und ihre Augen funkeln. 384

Jetzt macht er ein Gesicht dazu wie zu einem guten Spaß. Dann überlegt er, und dabei kommt etwas in seinen Blick, was ganz nach Habgier, nach leidenschaftlichem Landhunger aussieht. Aber es ist nur ein Zucken und ist gleich vorüber. Und dann – was geht sie und ihr Eichhof anderer Leute Landhunger an?

Und wieder lächelt er auf den regen und tapferen Handelsgeist der kleinen Frau herab. Und sie werden einig.

Ursula war nicht wenig stolz auf ihren geschäftlichen Sieg. Für Dorias und Onkel Bolkos anhaltende Bemühungen um das Rübenabwässerzersetzungsmittel hatte sie nur Zweifel und Achselzucken. So viel war allerdings jetzt erreicht, daß ein Patent das Verfahren schützte. Auch hatten sich einige Fabriken zu Versuchen bereit erklärt. Im übrigen schien außer den beiden sich niemand für die Entdeckung zu erwärmen. Und für Ursula war sie im Grunde nur eine Quelle der traurigsten und quälendsten Gedanken.

Eines Morgens, die Gutsherrin hatte sich gerade ihren Aerger geholt, diesmal von der neuen Zentrifugalmaschine, die nicht gut tun wollte, kam Doria reisefertig nach unten. 385

»Nun, Doria? Willst Du verreisen, in der Patentangelegenheit?«

»Ursula, ich will fort.«

»Was heißt das?«

»Ich will ganz fort von hier.«

»Ganz fort – und so plötzlich – und ohne mir vorher ein Wort zu sagen –«

»Wir sind beide keine Freunde von langen Auseinandersetzungen. Ich kann hier nun einmal nicht bleiben. Ich kann nicht.« In ihren Augen ist etwas Erloschenes. »Ich habe die Arbeit zu Ende geführt. Das wollte ich noch und mußte ich noch. Und nun muß ich fort.«

Sie wissen beide genau, daß die Eifersucht auf den Toten zwischen ihnen steht, sie sind ehrlich und stark genug, sich und einander nicht zu betrügen. Und weil sie beide wahrhaft sind und jede ihr Gefühl hochhält, darum muß es bei der Scheidung bleiben.

Sie haben sich Gutes zu sagen zum Abschied, Freundschaftliches und Dankbares.

Doria will zu ihrem Bruder fahren, dem Professor. Mit kräftigem Händedruck sagen sich die beiden Frauen Lebewohl fürs Leben.

Lange sieht Ursula dem Wagen nach. Wieder etwas, was sich loslöst von meinem Dasein. Am 386 Tage vorher war auch Onkel Bolko fortgeweht auf unbestimmte Zeit.

Nun bin ich bald ganz allein. Alle fallen sie von mir ab. Und was mich nicht verläßt, das stoße ich von mir. Jetzt hab' ich nichts mehr als Dich, Anselm. Aber Du bist weit, so weit, und kein Lebenszeichen hab' ich von Dir seit langen, langen Tagen.

Da kommt die Angst über sie und packt sie an, daß sie aufstöhnt vor Pein. Und wie die Angst sich gelegt hat, friert ihr das Herz. 387

 


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