Max Dreyer
Auf eigener Erde
Max Dreyer

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17.

Herr von Morveldt kam nach Rotenmoor zurück, ein todwunder Mann. Der Schlaganfall hatte sich wiederholt. Mit dem, was ihm noch an Lebenstrieb geblieben war, sehnte er sich nach Hause, zum ersten Male wieder seit seiner Jugend.

Als sein Grund und Boden ihn aufnahm, zuckte und weinte die nicht gelähmte Hälfte seines Gesichts.

Bernardine hatte ihn gebracht, die der Mutter so ähnlich war, so fest, so arbeitsstark, so karg im Wort. Mit ihr kam eine andere Schwester. Sie selbst reiste gleich wieder, nachdem sie den Kranken der Mutter überliefert hatte, sie war zur Oberin ernannt und mußte sofort den Dienst antreten.

Nun teilte sich Frau von Morveldt zwischen den Gutsgeschäften und der Sorge für den Geschlagenen. Sie fand Hilfe in dem einen für das andere. Und fand das Glück wieder nach so langer Zeit.

Jetzt brauchte er sie wieder und lief ihr nicht mehr davon. Was all die Not der vielen schweren 155 Jahre auf sie gelegt hatte, ihr Gefühl war verdorben unter der Last. Denn sie hatte diesen Mann geliebt und sich nach ihm gesehnt, wie sehr, das wußte nur Gott und sie. Und jetzt – langsam kam es wieder herauf, leise und weh, gedämpft vom Alter, von Siechtum, Müdigkeit und Todesnähe, ein Spätglück im Dämmerschein, matt und der Klage beigesellt, und doch ein Glück.

Der Kranke sprach nicht, und sie fragte ihn nicht, daß er nicht sprechen sollte. Aber sie verstanden sich gut. Die mühseligen Worte, die sein ungelähmtes Auge redete, beantwortete sie ebenso lautlos durch helle Worte ihrer gesunden Augen und durch schnelle Hilfeleistungen ihrer Hände. Oft und lange saßen sie Hand in Hand, ihre Abendstunden gehörten ihm ganz, draußen schwieg der Tag, die Dämmer flüsterten mit den Lindenblättern, der Blütenduft schwoll und drängte sich und drang herein durch die offenen Fenster.

Und die beiden sitzen Hand in Hand, ein und derselbe Strom fließt durch sie hin, von allem, was geschehen ist, bleibt das eine, daß sie beieinander sind und zusammen gehören. Abendfrieden, Abendsegen – trotz aller Not und Bangigkeit.

Jetzt zuckt es in seinen Fingern. Sie fühlt, daß ihn das wachsende Dunkel bedrängt. Da steht sie 156 auf und zündet die Lampe an. Und kommt zurück an sein Bett in dem mattgrünen Schein von Zärtlichkeit und wachender Sorge. Er wendet den Kopf halb zu ihr hin, das Licht streicht über seine welken Züge und weckt die Schönheit ihrer Jugend. In seinem Auge wird es klar, und jetzt bebt es um seine Lippen. Sie neigt sich ihm entgegen, und da spricht sein Mund.

»Dörthe« – –

Was alles in diesem Worte ist! Ein ganzes Leben, das mit Liebe begann, von Irrfahrt und Heimkehr, von Schuld und Beichte, von Reue und gläubiger Sicherheit bewegt, ein Leben, das mit Liebe endet.

Da kommen ihr die Tränen, seit vielen Jahren zum ersten Male wieder. Ihr Atem setzt aus. Ihr Herz steht still, ganz lange. Sie fühlt es noch, wie sie fortgetragen wird, wie sie schwebt. Und dann ist sie über der Erde und über dem Leben.

Wie lange sie fortgewesen ist, sie weiß es nicht. Als sie wiederkommt, findet sie ihren Kopf auf seinem Deckbett, auf seiner Hand, und ihn in tiefer Ruhe.

Sie ist mit ihm zusammen im Seelenland gewesen, er aber ist noch nicht zurückgekehrt. Sie forscht in seinen Zügen, die wissen nichts von der Schwere, sie sind fern und verloren. 157

Wenn er niemals wiederkehrt! Ihr Sinn, der nicht weichlich geworden ist, hat die aufrechte Antwort: fast sollte man es ihm wünschen!

Sie hört seinen Atem nicht, und die Hand ist anders, matter, welker und kühler, als ob in ihr etwas gerinnt. Sie fühlt nach seinem Herzen, sie fühlt einen fernen, ganz fernen Flügelschlag, der in den Abend verrauscht. Und jetzt fühlt sie nichts mehr. Nur, wie seine Adern in Kälte verebben. Sie gräbt sich in sein Gesicht und sieht, wie sein Auge ins Jenseits sich tastet und über die Dinge hinausblickt – weit, weit.

Da weiß sie, es ist vollbracht. Sie küßt sein Herz. Und schließt seine Augen vor dem Räumlichen, das sie nicht mehr wollen.

Dann steht sie auf und steht vor ihm, hart, gerade und still, wie eine Totenwache, eine ganze Weile.

Da kommt die Schwester und zerstört die Gemeinschaft. Frau von Morveldt gibt klar und hart ihre Anweisungen. Dann läßt sie die Bediensteten im Flur zusammenrufen und teilt ihnen mit, nüchtern und unbewegt, daß der Herr gestorben sei. Dann geht sie über den Hof in ihr Arbeitszimmer, schreibt die Telegramme an ihre Kinder und erledigt das Nötigste an Geschäften. So bleibt sie bis in die Nacht. – 158

Niemals hat jemand ein Gut in besserer Verfassung übernommen als Jochem von Morveldt. Sein flackernder Geist wird wie festgebannt in dieses kräftige, lückenlose Gefüge. Den ganzen Tag sitzt er bei seiner Mutter in deren Arbeitszimmer und müht sich in die Bücher ein.

Mehr als einmal will er verzagen. »Mutter, behalt' doch Du vorläufig die Oberleitung.«

Sie sieht ihn an mit harten Augen. »So wenig traust Du Dir zu?«

»Nur für die nächste Zeit.«

Sie schüttelt den Kopf. »Was man macht, macht man ganz. Und ich bin eine alte Frau.«

Er wird rot wie ein Schuljunge, dann faßt er ihre Hand und sieht mit Sorge in ihr verarbeitetes Gesicht.

»Mutter, ich schäm' mich ja so! Da hast Du nun all die vielen Jahre für uns Dich abgearbeitet! Und jetzt, wo an mir die Zeit ist, die allerhöchste, jetzt will ich meine Pflicht auf Dich zurückwälzen.«

»Nun, laß schon!«

»Du sollst 'was für Dich tun! Du brauchst Erholung. Willst Du nicht in ein Bad?«

Sie blickt mitleidig auf ihn. »Gib mir 'mal die Aufstellung vom Saatgut des vorigen Jahres. Und 159 dann sieh einmal nach, ob wir auf dem Schlag 63 vor zwei Jahren nicht Gerste hatten.« –

In dieser Nacht bekam Frau von Morveldt einen ihrer schweren Gichtanfälle. Als sie am anderen Morgen frühzeitig wie immer zum Morgenkaffee sich eingefunden hatte, setzte, während sie mit Jochem bei Tische war, ihr krankes Herz bedrohlich lange aus. Nun bestand Jochem darauf, gegen ihren Willen, daß der Arzt geholt würde.

Der erklärte es für notwendig, daß die Leidende ausspanne und endlich ihre Gicht rücksichtslos durch eine Badekur bekämpfe. Frau von Morveldt sträubte sich. Sie könnte nicht fort von Rotenmoor, anderswo gäbe es für sie keine Erholung und keine Hilfe. Und im übrigen müßte sie nun schon so verbraucht werden.

Aber Schonung brauche sie unter allen Umständen!

Sich zu schonen versprach sie. Und da sie nachgiebiger wurde, sagte sie auch zu, daß sie es später vielleicht mit einer Badekur versuchen wollte. Nur müßte Jochem erst fest im Sattel sitzen.

Sie schonte sich nicht, sie verstand es nicht, an sich zu denken.

Und eine Woche später war es, zu Ende des Erntemonats, da wachte sie am Morgen nicht wieder auf. Sie war ihrem Manne in das andere Land nachgegangen. 160

 


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