Max Dreyer
Auf eigener Erde
Max Dreyer

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31.

Nun konnte Bernd nichts mehr geschehen, der natürlichste und begabteste Bundesgenosse wollte ihm zu Hilfe kommen. Für das Frühjahr hatte sich ein Kind angesagt.

Mit dieser sicheren Habe, mit solcher Erdhaftigkeit kam etwas Heimatliches in ihr Gesicht. Gefestigt war sie und ruhesam in sich vertieft. Versunken ganz in des Lebens Heiligkeit.

Nun war sie ein starker Mensch. Und als Anselm zum Herbst sich wieder einfand, sprach sie anders mit ihm und er dann auch mit ihr. Ihr Beisammensein war nicht mehr wie in schweren, traurigen Mauern, sie fand den Weg ins Freie, und er konnte mit ihr gehen. Wie eine Schwester gab sie ihm die Hände, fast hatte sie etwas Mütterliches, auch für ihn.

Und er erzählte ihr offen und frank von seiner Kriegsschulzeit, von dem gestrengen Tagewerk, von den vielen kommissigen Lehrern, von einem unter ihnen, der ein Träumer und Wolkenstürmer war 272 und den er lieb gewonnen hatte, von einem anderen, einem Ruhelosen, der die halbe Erde gesehen hatte und prachtvoll log, dem die »Kleinkinderbewahranstalt« wie eine Station war in einem dunklen Weltteil, ein Abenteuer und eine Verblüffung.

Von den Rheintöchtern erzählte er ihr, und wie eine ihm einmal einen Todesschreck eingejagt. »Sie hatte Deinen Gang, Dein Gesicht – und ich dachte erst, das wärest Du. Aber Deine Augen – nein, Deine Augen hatte sie nicht.«

Wie er aber bei Ursulas Augen ist, kommt er auf Rotenmoor und wieder in die alte düsterste Bedrängnis.

Daß es dort mit der Wirtschaft reißend bergab gehe, erzählt er Ursula. Jochem liege auf dem Faulbett, trinke, spiele Theater und mache Gedichte. Wie Herr von Ellern, den er auf dem Regimentsfeste getroffen habe, ihm gesagt, denke Jochem daran, den ganzen Eichenwald abzuholzen.

Anselm zittert, als er das ausspricht. »Und dagegen machtlos sein und hilflos!«

Ursula nimmt seine Hand. »Du sollst selbst sehen, wie die Dinge liegen.«

Er schwankt nicht lange. »Ja, ich werde fahren. Wenn ich auch nichts abwenden kann, ich will das Verderben wenigstens selbst vor Augen haben.« 273

»Verderben – schließlich sind doch Jochem seine Grenzen gezogen! Da Rotenmoor doch Majorat ist –«

»Nein, das ist es nicht.«

»Ist nicht Majorat? Das haben wir alle immer angenommen.«

»Ja, alle Welt glaubt es, aber es ist nicht so. Dazu sind die Morveldts zu stolz gewesen, sich unter staatliche Aufsicht zu stellen. Großvater hat einmal dran gedacht. Aber dann ist es bei dem überlieferten Familientestament geblieben.«

»Also kann Jochem auch Land verkaufen?«

»Das kann er. Und er wird es.«

Und wieder läuft das Zittern über Anselm.

»Dann muß was geschehen. Dann müßt Ihr Gewalt brauchen. Entmündigung – Kuratel – was weiß ich!«

Und wieder spricht sie zu ihm schwesterlich, mütterlich und tröstend, von seinem Recht auf Heimat, von dem Recht seiner Treue. Und wieder sitzen sie beieinander in einem starken Sichverstehen, das schonungslos und darum um so fester ist.

Der Mut kommt wieder obenauf, die Jugend und die Stimmen des Lebens. Anselm redet von seinem Dienst, von seinen Plänen, er erzählt, daß er am nächsten Tage sein erstes Rennen reiten will. 274

»Morgen? In Karlshorst? Dann kommen wir natürlich mit! Daß Du das so lange für Dich behalten hast! Wie viel Meter sind es? Wie viel Kilo reitest Du?« – – –

Anselm muß siegen! Was anderes denkt Ursula nicht, als sie in den mildbesonnten Herbstnachmittag hineinfährt. Er braucht die Freude wie keiner und verdient sie wie keiner. Nach seinem ganzen Leben wie nach der einen mühsamen Hingabe an dieses besondere Ziel.

Seit er wieder in Potsdam ist, hat er unendliche Sorgfalt auf die Vorbereitung seines Steeplers verwendet. Der ist während seiner Abwesenheit bei einem älteren Kameraden in guten Händen gewesen. Für dieses eine Rennen ist er jetzt fertig gemacht. Sein Stall setzt Hoffnung auf ihn, am Totalisator freilich vertraut man ihm nicht.

Das erste, was Ursula sieht, als sie auf den Rennplatz kommt, ist ein Bursche von Anselms Regiment, der einen Rappen auf dem Rasen umherführt. Das ist gewiß Waldkater, denkt sie hell, und wenn das Waldkater ist, der erste, der mir begegnet, dann haben wir damit das allerbeste Vorzeichen!

Sie tritt an den Burschen heran. »Das ist doch Waldkater, nicht wahr?« 275

»Nein, das ist Muselmann,« lautet die schläfrige Antwort.

Ursula ist sehr enttäuscht. Und ihre Freude an der auserlesenen Hinterhand des Tieres verfliegt sofort. Was geh'n sie Muselmänner an!

Aber ihre Zuversicht gewinnt sie gleich zurück und blickt besänftigt in die Welt.

Ein leichter Nebel streicht über die Dinge wie ein zärtlicher Flaum. Spinnfäden schwimmen in der Luft, kaum bewegt, wie gute Träume. Ein Gedämpftes liegt auf allem, ein Sachtes, eine deckende Güte.

Leise klingt die Musik von den Tribünen her, leise wandeln die Menschen. Es ist kein großer Tag, keine Erregung bewegt sie, kein Gedränge wirrt sie durcheinander.

»Willst Du Dir erst Anselm und Waldkater suchen,« fragt Bernd, »oder gehen wir auf unseren Platz?«

»Er reitet ja schon im zweiten Rennen. Wir wollen doch sehen, ob wir ihn nicht finden.«

»Wenn er schon im nächsten reitet, sitzt er sicher im Ankleideraum. Aber sein Roß müßte doch da sein.«

Sie lassen die Augen über die Rasenplätze schweifen, auf denen die Pferde von Stalljungen und 276 Offiziersburschen umhergeführt werden. Anselms Uniform ist nur einmal vertreten, bei dem schönen, unangenehmen Muselmann.

Da, als Ursula weiter hinausspäht, sieht sie am Rande des Gehölzes ein Pferd herumgeleitet werden, ganz allein, und der Bursche dabei ist auch von den Potsdamer Ulanen, wie es scheint. Und das Tier ist ein Rappe. Das wird der Gesuchte sein, ganz gewiß!

»Sieh dort hinten!« weist Ursula. »Das ist er. Komm!«

Sie gehen hinüber. Es wird für das erste Rennen zum Aufsitz geläutet. Aber damit ist es ihnen nicht so eilig, Anselms Pferd ist ihnen wichtiger.

Als sie näher kommen, wird Ursulas Gesicht lang und länger. Einen häßlicheren Gaul hat sie kaum jemals gesehen. Dürftig, kuhhessig, mit struppiger Mähne, ein Steppenroß. Hinter Scheuklappen blinzeln zwei kleine, stechende, verschmitzte Augen hervor.

»Ist das Waldkater?« fragt Ursula. Und diese Frage klingt anders als die erste, die sich an dem blendenden Muselmann vergriff.

»Jawohl.« Der Bursche ist von der Musterung nicht sehr erbaut, Bernd gibt ihm eine Zigarre, da grinst er breit und zutraulicher. 277

»Schön ist er nicht!« Ursula muß sich befreien.

»Oh, er kann aber laufen,« versichert der Bursche mit Gefühl.

»Trotz seiner Kuhhessigkeit?«

»Oh, gerade. Und was die Kuhhessen sind, die springen am besten.«

Bernd versucht einen Witz. »Kuhhessen? Was sind das für Landsleute?« Und bekommt ein neues breites Grinsen zum Lohn.

Auch Ursula wird es wieder leichter. Anselm muß ja wissen, was er tut. Daß er sich auf Pferdesachen versteht, kann man ihm eigentlich zutrauen.

»Steigt Herr Leutnant hier auf?« fragt sie den Burschen.

»Jawohl.«

Sie mustern noch einmal das Tier, dann gehen sie wieder zum Sattelplatz. Ursula schüttelt den Kopf. »Wenn etwas nach Anselm aussieht, so ist es dies. Ein Tier, das gewiß keiner mochte. Und mit dem kein anderer etwas anfangen konnte. Es hat einen schlechten Charakter, man sieht's an den Augen. Und daran setzt er seine Kraft!« Es war ein Tadel, aber auch ein Lob, und das Lob war mehr.

»Hoffentlich hat er etwas erreicht.«

»Das hat er gewiß. Sonst würde er nicht Anselm sein. Aber ob er sich nicht auch hier das 278 Leben planmäßig erschwert hat –! Es gibt so viele Pferde auf der Welt, muß er gerade auf diese Bestie verfallen.«

»Vielleicht hat sie es wirklich in sich.«

»Ja, ja. So mag es denn doch wohl sein. Denn sonst setzt sich kein Mensch auf solch einen Schinder und macht sich unangenehm bemerkbar.«

Pferde sind für Ursula wie nichts anderes die Verkörperung äußerlicher Schönheit, dafür hat sie eine geradezu eitle Empfindlichkeit, die mehr frauenhaft als reiterlich ist. Sie hätte sich tausendmal lieber durch einen Hut verunstaltet, als einen garstigen Klepper bestiegen. Ihr Gefühl ist das: wer sich zu Pferde setzt, erhöht sich und tut sich hervor. Wie darf man mit Häßlichkeit sich stolz und auffällig machen! Der Gedanke, daß Anselm auf diesem Hunnengaul sich zeigen soll, hat etwas Peinliches für sie.

Aber dann rückt sie sich doch wieder zurecht zu einer ernsteren und sachlichen Betrachtung. Hauptsache ist, daß er gewinnt. Und er soll, er soll gewinnen. Je mehr ihr Vertrauen sich trübt, um so leidenschaftlicher werden ihre Wünsche.

So ist ihr Blut in Wallung gekommen, als sie zum Sattelplatz zurückkehren. Und mit regerer Lust prüft sie die Pferde, die für das erste Rennen, ein 279 Jockeirennen über Hürden, bestiegen sind und im Kreise herummarschieren, sich dem Volke zu zeigen.

Ein Schweißfuchs fällt ihr auf, vorn ein wenig kurz, aber drahtiger als die anderen, und keiner hat einen so federnden Gang. Und die Farben des Jockeis –! –

»Sieh, Bernd! Blauschwarz! Die Wappenfarben von Eichhof!«

Es schwimmt ihr vor den Augen. Der alte Landsknecht, Bob, Rottraut, Beelzebub treiben in der Flut. Und immer mehr will heraufziehen, da muß sie sich bitter und kräftig wehren.

Sie hört nicht, was Bernd sagt. Erst als er sich von ihr zum Gehen wendet, begreift sie sich und ihn und hält ihn fest. »Was willst Du?«

»Auf das Pferd setzen. Platz oder Sieg – oder beides?«

»Nein, laß.« Sie ist jetzt wieder hier. »Dann hat man keinen rechten Sinn mehr für das Ganze. Ich will mich ungestört an dem Kampfe freuen und will keinen kleinlichen Aerger haben.«

Wie immer fügt er sich ihrem klaren Willen.

Die Pferde gehen zur Bahn. Ursula und Bernd begeben sich im Zuge der Menschen auf den ersten Platz. Die Musik spielt vom Dach der Tribüne einen verblichenen Walzer, der wie aus der Ferne 280 klingt. Er stört nicht das Gehaltene, das Gedämpfte und Friedfertige, das in der Luft und um die wandelnden, sitzenden, freundlich plaudernden Menschen schwebt.

Wo sind die Leidenschaften des Rennplatzes? Ist der stille Segen der Herbstsonne mächtiger als sie? Oder gibt eine vornehme Gleichgültigkeit hier ein für allemal den Ton an? Ursula hätte sich gern von etwas mehr Spannung und Erregung umspielen lassen.

Ein wenig Bewegung bringt freilich jetzt der Ausgalopp in die Reihen. Hier fällt auch ein deutlicheres Wort, ein Urteil, ein Lob. Aber dann, als die Pferde zum Start traben, hat das Sachte und Müde wieder die Oberhand.

Doch nur kurze Zeit. Denn jetzt kommt ein fremdes Volk angerückt. Das sind die betriebsamsten unter den Wettenden, die bis zuguterletzt, ehe sie an den Totalisator mußten, die Ansichten, Aussichten und Absichten mit Leidenschaft gesichtet haben.

Sie bringen die Lebhaftigkeit der Börse mit. Dieses fahrende und fahrige Volk ist Ursula interessanter als die Schar glatter Offiziersfrauen, unter denen sie ein und das andere bekannte Gesicht gefunden hat. 281

Allerdings, hier gibt es Galgenphysiognomien zu kosten, scharfe, lauernde, verwüstete. Dann fette, behäbige, mit Schweinsäuglein und einem verschmitzten Wohlwollen. Und so hinauf bis zu dem ganz arglosen, ganz ordentlichen satten Philistertum, dem das Wetten eine wohltuende, dem Stoffwechsel günstige Seelenbewegung ist.

Hier steckt einer dem anderen Geld zu. Wetten sie gemeinsam? Wetten sie untereinander? Oder sind hier die verbotenen Buchmacher am Werk?

Zu einem Koloß, dreihundertpfündig, der auf zwei Stühlen thront – wenn er nicht Preisringer ist, ist er Engrosschlächtermeister – kommt ein Winziger, ein Schneiderlein.

»Na, Leichtgewicht?« begrüßt er den Riesen.

»Na, Athletenmaxe?« Er mäßigt die Stimme, daß er den Freund nicht wegbläst.

»Welchen Jaul haste jesetzt?«

»Beethóven.«

Ein Glück, denkt Ursula, daß er den Namen nicht richtig betont! Welch ein Geschmackvoller, der ein Pferd hat Beethoven taufen können! Nun ist die Volksstimme bemüht, solchen Unfug gütig zu verhüllen.

Einer macht sich an einen Trainer oder Futtermeister, der wichtig vorüberstelzt, von diesem 282 Sachkundigen will er sich einen Trost holen für dieses Rennen oder einen Rat für ein nächstes. Und der kaut ihm aus seinem englischen Maul eine berufsmäßige Unwahrheit zu.

Vom Richterpavillon ertönt die Glocke. Die Pferde sind abgelassen.

Dieser und jener späht hinüber, einzelne nehmen ihr Glas, hier und da steigt einer auf den Stuhl. Die vielen bleiben sitzen und in Ruhe.

Es ist ein glatter Start gewesen. Vorläufig läßt sich noch nichts voraussehen. Zu unterscheiden ist auch nicht viel. Sie werden ja näher kommen, wir können's abwarten.

Jetzt ziehen sie heran. Deutlich werden die Farben. Ursula sucht nach ihrem Blauschwarz. Das ist in der zweiten Reihe. Der Fuchs pullt unangenehm, der Reiter hat seine Not.

Jetzt gegen die Hürde. Sie brausen und sind hinüber, alle. Der Fuchs ist ungeschickt gesprungen, viel zu hoch. Er hat Längen verloren, ist aber schon wieder im Felde.

»Beethóven jeht überlegen,« versichert eine heisere Stimme.

Noch einmal die Bahn. Das Feld fängt an sich auseinander zu ziehen. Die Farben sind nicht zu 283 erkennen. Allmählich treten sie wieder hervor. Der Fuchs marschiert an der Spitze.

Beim nächsten Sprung verliert er wieder. Aber wieder schiebt er sich nach vorn.

Und nun kommen sie in den Einlauf. Eine Hürde ist noch zu springen. Ursula nimmt freudig teil an dem Kampf. Sie ist warm geworden, ihr Fuchs hat sie für sich eingenommen, nun erregt sie die Entscheidung.

Jetzt der Sprung, der letzte. Da – durch die Menge geht ein helles Ah!, kurz und scharf wie ein Peitschenknall. Der Fuchs ist gefallen. Das Pferd erhebt sich wieder, der Reiter bleibt liegen.

Niemand blickt nach ihnen, die abgefunden sind. Nur auf die beiden sehen alle, die die Gerade hinunterkämpfen.

»Beethoven gewinnt – Beethóven – Beethoven –,« so ruft es und schallt.

Ursula hat die Augen bei dem Gestürzten. Einer bemüht sich um ihn, dann kommen noch ein paar dazu. Der Doktorwagen fährt eilig herbei.

»Ob es schlimm ist?« fragt Ursula.

Jetzt winken sie. »Die Tragbahre wird verlangt,« sagt Bernd. 284

»Der arme Kerl! Was mag ihm geschehen sein!« Nun zieht in die gütige Herbststille ein Dunkles und Trauriges. Und Ursula ist es bange.

Jetzt erblickt sie Anselm. Er steht allein und liest im Programm. Er ist in der leichten Rennulanka, in dünnen, hohen Stiefeln ohne Sporen, die seidene Mütze hat er tief über den Kopf gezogen. In krummer Haltung steht er da. Sein Gesicht ist noch knochiger als sonst, er hat sich kräftig im Training halten müssen, um Waldkaters Gewicht reiten zu können. Niemals hat er häßlicher ausgesehen. Niemals aber auch jugendlicher. In seinen weiten Augen ist die Erwartung, die einem frischen Wagnis vorausgeht, froh entzündet. Ursula legt die Hand auf seinen Arm. Mit einem holden Schreck wie nur je als Junge sieht er sie an.

»Wir haben Dich schon lange gesucht,« sagt sie ihm. »Was ist mit dem Jockei?«

Es verwundert sie, daß er sich nicht zuerst und von selbst um den Verunglückten kümmert. Aber so sind sie ja wohl, die Reitersleute.

»Ich werd' mich erkundigen.« Er macht sich schnell auf den Weg und kommt bald mit dem Bescheid zurück: »Gehirnerschütterung. Er hat die Augen schon wieder aufgemacht.« 285

Sie gehen zu Waldkater. Anselm mit schnellender Spannkraft. Ursula ist und bleibt unter einer Last.

»Wie steh'n die Aktien?« fragt Bernd.

»Frithjof, der gefährlichste, läuft nicht. Von den anderen sind noch zwei sehr bitter: Karlmann und Musotte. Aber die Stute wird wohl ausbrechen.«

Er tritt zu Waldkater und prüft den Sattelgurt. Das Tier beißt und schlägt nach ihm.

»Freundlich ist er nicht!« sagt Ursula.

»Nein, aber er hat Murr. Und an seinem Springen werdet Ihr Freude haben.«

Die Glocke beordert zum Aufsitzen. Der Rappe läßt sich ruhig besteigen. Und als Anselm oben ist, gewinnt das Tier ein ganz anderes Aussehen. Es hebt den Kopf und bekommt schönere Linien. Das gefürchtete Schreckbild liefert er nicht.

Sieben Pferde sind im Felde. Karlmann ist ein mächtiger heller Fuchs, die braune Musotte eine wendige kleine Katze. Die beiden finden die meisten Freunde. Doch hört Ursula auch von Waldkater als beachtenswert reden, und das tut ihr wohl.

Sie eilen auf den ersten Platz, daß sie den Aufgalopp nicht versäumen. Ursula sieht nur Anselm und achtet nur auf Waldkater.

Jetzt gehen die Ersten über die Hürde. Jetzt bringt Anselm sein Pferd in Schwung. Wie wird 286 es vom Hindernis angezogen, wie fliegt es hinüber, keinen Zoll zu hoch und endlos weit und galoppiert landend in gleichem Schwunge weiter.

Bewundernde Donnerwetters brechen los, und Ursula ist nicht wenig gehoben.

Von einem hört sie, daß er noch auf Waldkater setzen will. Das ist ein tüchtiger Mann.

Auch zwischen ihren beiden Bekannten, dem Leichtgewicht und Athletenmaxe, ist von Anselms Pferd die Rede. Hier freilich sind die Meinungen geteilt.

»Ick habe Karlmann!« sagt das Leichtgewicht.

»Der kommt ja nich um die Ecken. Waldkater macht det!« erklärt Athletenmaxe.

Darauf tippt der andere gegen seine Stirn: »Waldkater – kald Water!«

Das Leichtgewicht ist ein Ekel.

Bernd nimmt ihren Arm. »Wir wollen aufs Dach der Tribüne. Da übersehen wir am besten die ganze Bahn.«

Sie steigen hinauf. »Wo sind sie?« fragt Ursula, als sie oben anlangen. Aber schon findet sie die Reiter, die im Schritt sich nach dem Start begeben. Von hier oben beherrscht man das ganze Gelände, kein Winkel, kein Sprung bleibt verborgen. 287

Anselm ist deutlich zu erkennen. Er ist einer von den letzten. Es ist gut, daß er es nicht eilig hat und sein Pferd, das leicht ungeberdig wird, nicht erregt. Obgleich diese langsame Vorbereitung einen nicht gerade ruhiger macht.

Endlich ist der letzte, der Husar, bei den andern. Sie stellen sich in einer Reihe auf. Die rote Fahne des Starters hebt sich – da – ein paar brechen weg – falscher Start – sie müssen zurück.

Waldkater dreht sich unruhig um sich selbst, aber er ist auf seinem Platz geblieben.

Wieder haben sie sich aufgestellt. Und nun gelingt es. Das Rudel ist entlassen, die Glocke tönt.

Anselm ist mitten im Felde. An der Spitze geht die schnelle Musotte.

»Kann sie nicht halten!« sagt mißbilligend Ursulas Nachbar, ein älterer Herr, dem man den früheren Kavalleristen ansieht, zu seinem Begleiter, einem Generalstäbler.

»Pullt ihm ja aber auch die Arme aus dem Leib!« meint der Kriegsgelehrte.

Sie kommen an den Tribünensprung. Wird Waldkater sich im Ernst bewähren? Ursula klopft doch ein wenig das Herz.

Wie tönt der Hufschlag bis hier hinauf. Und jetzt – hinüber alle – Waldkater hat sich im 288 Sprunge weit vorgeschoben. Bravo, Waldkater! Schon nimmt ihn aber Anselm wieder zurück.

»Haben Sie den Rappen gesehen?« fragt der ältere Herr.

»Das Scheuklappenscheusal« – der Mann ist ein Freund von Wortbildungen. »Springt unsäglich.«

»Wer sitzt drauf?«

»Morveldt heißt er.«

»Bruder von dem lyrischen Dragoner?«

»Weiß nicht.«

»Sitzt leicht. Und reitet offenbar mit Verstand.«

Das ist ein Mann von Urteil. Ursula gibt ihm einen achtungsvollen Seitenblick. Und beschließt nach Bedarf seinen Worten zu lauschen, als gute Begleitung zu den Ereignissen.

Diese vollziehen sich zunächst glatt und geläufig, ohne Zwischenfälle und Erregungen.

Der Reiter auf Musotte ist der heftigen Stute Herr geworden, sie geht jetzt mitten im Rudel.

»Hoffentlich macht er's nun richtig!« sagt der erfahrene Herr.

»Wie ist das?«

»Wenn er sich nicht fest einkeilen läßt, bringt er die Stute nicht über den Graben. Sie springt bloß willig, wenn sie drauflosast. Ast sie drauf los, steht 289 sie das Rennen nicht durch. Wird sie gehalten, macht ihr die Sache überhaupt keinen Spaß. So ist sie. Und nun wissen Sie, daß auch zum Rennreiten Verstand gehört.«

»Meinen Sie beim Pferd oder beim Reiter?« fragt der Taktiker.

Und jetzt ziehn die Pferde gegen den Graben, den gefürchteten.

Wenn die andern doch so gescheit wären, daß sie die Musotte nicht fest zwischen sich nähmen! Das ist Ursulas Gedanke. Wenn die Stute doch vor dem Graben stehen bliebe! Daß Anselm einen von seinen schlimmsten Gegnern los würde!

Da – durch die Zuschauer geht der bewußte Peitschenknall – es ist richtig so gekommen. Fast hätte Ursula in die Hände geklatscht. Musotte hat den Graben verweigert und sich unschädlich gemacht.

Die Reiter verschärfen die Gangart. Ihnen ist allen leichter geworden. Und dann, das Ziel ist nicht mehr weit.

»Nun wird's wohl Karlmann,« sagt der Sachverständige. »Wenn nicht der schwarze Deubel, der Springinsfeld.«

Der schwarze Deubel wird's! ruft es in Ursula. Er soll und muß es werden. So viel sieht jeder, daß er noch sehr frisch geht. Freilich, Karlmann hat auch 290 noch was in die Suppe zu brocken. Aber auf Waldkater sitzt Anselm – und er sitzt leicht und reitet mit Verstand – Anselm, ihr Anselm soll es gewinnen!

Jetzt, wo es auf den Einlauf zugeht und die Pferde hergeben müssen, was sie noch haben, gerät einer nach dem andern ins Weichen – Karlmann ist vorn, Waldkater hält sich dicht neben ihm, als dritter sucht noch der Schimmel im Felde mitzusprechen.

Nun jagen sie um die letzte Ecke, Karlmann verliert Boden, Waldkater hat sich vorgeschoben und die Innenseite. »Hat er gut gemacht!« läßt sich Ursula von der Instanz bestätigen. Und ihr Herz klopft in Siegerfreude.

Anselm sitzt ganz ruhig, willig galoppiert der Schwarze. Karlmann wird heftig geritten. Unter der Peitsche kommt er auf. Er heftet sich an Waldkater. Aber wie lange soll das dauern? Anselm rührt sich nicht. Sein Pferd geht überlegen seinen Strich.

»Nun hat er's!« sagt der Wortführer. Ursula steigt der Jubel in die Kehle, sie muß schlucken an ihrem Glück.

Lieber Anselm! Lieber, lieber Anselm!

Wie ruhig er sitzt, thronend, herrschend, ein Sieger. Und der andere hinter ihm auf Karlmann – was zappelt der noch mit Händen und Füßen! Fühlt 291 er nicht, wie lächerlich er sich macht. Unglaublich lächerlich. Unangenehm lächerlich. Zum Aergern!

Warum quält er seinen Gaul, da es doch aussichtslos ist! Nun wieder die Peitsche! Und wie er drischt!

Das Tier springt mächtig an und bricht zur Seite – und –

Herrgott! Ein Schrei geht durch die Menge. Ursula reckt sich in Grauen und versteint.

Waldkater ist gestürzt – Karlmann ist ihm in die Hacken galoppiert und über ihn gefallen – unter den Pferden liegt Anselm.

Ursula starrt mit eisigen Augen – dann zuckt sie wild, als will sie sich hinunterwerfen, ihm zu helfen – und bleibt und starrt wieder wild und groß, daß ihr Auge nichts verliert.

Das Knäuel der Gefallenen hat sich entwirrt. Menschen sind hinzugeeilt. Anselm liegt.

Was ist ihm – was ist ihrem Jungen?

Da – jetzt haben sie ihn aufgerichtet – jetzt sitzt er – und nun – Gott sei gelobt – nun steht er auf – mühselig – aber er steht – Gott sei gelobt!

Hinunter zu ihm – wo sie jetzt das Sichere gesehen hat – ihm helfen – bei ihm sein. 292

Sie eilt die Treppen hinunter. Sie fordert den Eingang durch die Barriere in die Bahn, sie läuft über den Rasen.

»Anselm!« ruft sie schon von weitem.

Er wendet sich nach ihr hin, lächelnd, glücklich, daß sie zu ihm kommt. Die Neugierigen und Teilnehmenden treten zurück. Schon geht er wieder fest auf seinen Füßen. Sie hält ihm die Hand hin, er reicht ihr die Linke.

»Dir ist etwas – mit dem rechten Arm!«

»Er ist mir etwas schwer –«

»Gebrochen?«

»Ich glaube nicht.«

»Und da im Haar hast Du Blut!«

»Ich hab' wohl was vom Pferdehuf abbekommen. Eine Schramme.«

»Den Arm läßt Du Dir aber gleich untersuchen!«

»Ja, das tu' ich. Aber im Vorbeigeh'n woll'n wir uns doch mal nach dem Wallach umseh'n.«

Waldkater war wieder aufgesprungen und an die hundert Meter weiter gerast. Dann hatte er sich darauf besonnen, daß ihm die Hacken weh taten, die tiefe Fleischwunden trugen, und war stehen geblieben.

Der Bursche hat ihn genommen und führt ihn jetzt dem Herrn zu. 293

Anselm besieht sich die Beine und den Gang des Tieres.

»Die Wunden gut auswaschen und sorgfältig verbinden,« ordnet er an.

Dann begleiten Ursula und Bernd ihn zur Wage, wo der Arzt sich seiner annehmen soll.

Ursula denkt sich, es muß ein Spalier von Mitfühlenden geben, von ehrlich Zornigen, von herzlich Ergebenen.

Aber schon ist Anselms Fall erledigt, man sucht ihn nicht, kaum mehr als kühle Neugier begegnet ihnen. Nur hier und da streift ihn ein wärmerer Blick. Die meisten haben mit ihren Wetten zu tun, mit der Wichtigkeit des Eigenen. Man plaudert, man lacht, man tändelt, man schimpft und sorgt für sich selbst. Und die Musik spielt das Albernste aus der albernsten Operette.

Anselm ist durch sein Mißgeschick wohl enttäuscht, aber gar nicht unglücklich. Er sagt, daß er während des ganzen Rittes ein so prachtvolles Gefühl gehabt habe, an das er immer denken müsse und das er hier oder in anderer Weise sich immer wieder verschaffen werde. Das Gefühl, sich ganz für etwas einzusetzen. Er habe es kaum jemals so empfunden. Und er wisse jetzt, daß das Leben viel reicher sei, als er in seinem Unverstand sich gedacht habe. 294

In solcher Weise schilt Anselm auf sein Unglück. So empfindet er, während sein gebrochener Arm ihn mit immer grimmigeren Schmerzen quält.

Der Arzt hat einen Notverband angelegt. Bernd einigt sich mit Anselms Kameraden, die für ihn sorgen wollen, dahin, daß der Gestürzte mit ihm und Ursula nach Berlin fährt. Bernd ist mit einem hervorragenden Chirurgen gut bekannt. Der soll Anselm die erste sorgfältige Hilfe angedeihen lassen.

Die Drei sprechen während der Fahrt ruhig von diesem und jenem, nur nicht vom Rennen.

Anselm ist nach wie vor in einer geläuterten, fast gehobenen Stimmung. Ursula sieht in ihn hinein mit all ihrer Innigkeit. Er ist einer von den Menschen, die unter Schmerzen und Schicksalsschlägen lebhaft und lebensstark wie federnd sich aufrichten.

Nun ja, er hat an dem einen großen Lebensunglück so schwer zu tragen, der arme Junge, daß die gewöhnlichen Stöße, von denen jeder andere auf der Nase liegt, fast wie Ermunterungen auf ihn wirken.

Und ihre Gedanken sind um ihn, mit ihrer starken Zärtlichkeit. Aber sie birgt sie gut, denn es ist ihr, als ob ihre Augen anfangen, ihn zu verwundern oder gar zu ängstigen. 295

 


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