Fjodor Dostojewski
Der lebenslängliche Ehemann
Fjodor Dostojewski

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XVII

Der lebenslängliche Ehemann

Zwei Jahre waren seit den von uns geschilderten Ereignissen vergangen. Wir treffen Herrn Weltschaninow an einem schönen Sommertage in einem Waggon einer unserer neu eröffneten Eisenbahnen wieder. Er fuhr nach Odessa, um dort zu seiner Zerstreuung und Erholung einen Freund zu 191 besuchen, und gleichzeitig auch noch aus einem andern, ebenfalls sehr angenehmen Grunde: Durch Vermittelung dieses Freundes hoffte er sich den Zutritt zu einer höchst interessanten Dame zu ermöglichen, mit der er schon längst gewünscht hatte, näher bekannt zu werden. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, beschränken wir uns auf die Bemerkung, daß er sich in diesen letzten zwei Jahren stark verändert, deutlicher gesagt, zu seinem Vorteil verändert hatte. Von seiner früheren Hypochondrie war fast keine Spur zurückgeblieben. Von den Folgen dieser Krankheit, den mancherlei »Erinnerungen« und Beängstigungen, die ihn vor zwei Jahren in Petersburg bei dem ungünstigen Gange seines Prozesses belästigt hatten, hatte sich bei ihm nur ein gewisses geheimes Gefühl der Scham über seinen früheren Kleinmut erhalten. Als teilweise Entschädigung diente ihm die Überzeugung, daß sich dergleichen nie wiederholen und daß von dem Geschehenen nie jemand etwas erfahren werde. Allerdings hatte er damals den Verkehr mit der vornehmen Gesellschaft abgebrochen, hatte sogar angefangen, sich schlecht zu kleiden und sich vor allen Leuten zu verstecken, und das hatte natürlich die Aufmerksamkeit aller erregt. Aber er zeigte sich so bald wieder mit zwar schuldbewußter, aber gleichzeitig so neubelebter, selbstbewußter Miene, daß alle ihm seinen kurzen Abfall sogleich verziehen; sogar diejenigen von ihnen, mit denen er sich zu grüßen aufgehört hatte, machten ihrerseits den Anfang mit dem Wiedererkennen und streckten ihm die Hand entgegen, und überdies ohne alle zudringlichen Fragen, wie wenn er die ganze Zeit über in Familienangelegenheiten, die niemanden von ihnen etwas angingen, verreist gewesen und eben erst zurückgekommen wäre. Die Ursache all dieser erfreulichen Veränderungen zum Besseren war selbstverständlich der gewonnene Prozeß. Weltschaninow hatte im ganzen sechzigtausend Rubel erhalten, allerdings keine bedeutende Summe, die aber doch für ihn von großer Wichtigkeit war. Erstens fühlte er sogleich wieder festen Boden unter den Füßen, und das beruhigte ihn seelisch; er wußte jetzt bestimmt, daß er dieses ihm zuletzt zugefallene 192 Geld nicht »wie ein Dummkopf« verschwenden werde, so wie er seine ersten beiden Vermögen verschwendet hatte, und daß es für sein ganzes Leben vorhalten werde. »Mag auch ihr ganzes soziales Gebäude in allen Fugen krachen, und mögen sie auch noch soviel neue Lehren ausposaunen«, dachte er manchmal, wenn er all die wunderlichen Dinge sah und hörte, die sich um ihn herum und in ganz Rußland vollzogen, »wie auch immer sich die Menschen und die Ideen umgestalten mögen, jedenfalls werde ich immer dieses mein feines, schmackhaftes Diner haben, zu dem ich mich jetzt niederlasse; und somit bin ich auf alles vorbereitet.« Dieser angenehme Gedanke, den er sich mit einer gewissen Wollust wiederholte, gewann allmählich vollständig die Herrschaft über ihn und führte bei ihm sogar eine physische Umwandlung herbei, von der geistigen gar nicht zu reden: Er erschien jetzt als ein ganz anderer Mensch im Vergleich mit jener Schlafmütze, die er nach unserer Schilderung vor zwei Jahren gewesen war, und der so unziemliche Geschichten hatten passieren können; er sah jetzt vergnügt aus, hatte einen klaren Blick und machte einen würdigen Eindruck. Sogar die häßlichen kleinen Runzeln, die angefangen hatten sich bei ihm um die Augen und auf der Stirn zu sammeln, hatten sich fast wieder ausgeglättet; selbst sein Teint hatte sich verändert: Er war weißer und röter geworden. Augenblicklich saß er auf einem bequemen Platze in einem Waggon erster Klasse, und in seinem Kopfe bildete sich ein sehr hübscher Gedanke heraus: Auf der nächsten Station ging nämlich eine neue Zweigbahn rechts ab. Wenn er nun für kurze Zeit die gerade Route verließ und nach rechts fuhr, so konnte er nach nicht mehr als zwei Stationen noch eine ihm bekannte Dame besuchen, die soeben aus dem Auslande zurückgekehrt war und sich jetzt (was ihm sehr erwünscht, aber für sie sehr langweilig war) in einer trostlos öden Kreisstadt aufhielt; es bot sich also die Möglichkeit, die Zeit in einer nicht weniger interessanten Weise zu verbringen als bei der Odessaer Dame; und das empfahl sich um so mehr, da ihm ja auch die letztere nicht davonlief. Aber er schwankte immer noch und hatte sich 193 noch nicht endgültig entschlossen; er wartete auf einen äußeren Anstoß. Inzwischen war die Station herangekommen, und der äußere Anstoß ließ ebenfalls nicht auf sich warten.

Auf dieser Station hatte der Zug vierzig Minuten Aufenthalt, und die Reisenden hatten Gelegenheit, ihr Mittagessen einzunehmen. Am Eingang zum Wartesaale erster und zweiter Klasse drängte sich wie gewöhnlich eine Menge ungeduldiger, eiliger Passagiere, und es kam (vielleicht ebenfalls wie gewöhnlich) zu einer Skandalszene. Eine Dame, die aus einem Waggon zweiter Klasse ausgestiegen war (sie war eine auffallend schöne Erscheinung, aber für eine Reisende gar zu reich gekleidet), schleppte mit beiden Händen einen sehr jungen, hübschen Ulanenoffizier hinter sich her, der sich fortwährend von ihr loszureißen suchte. Der junge Offizier war stark betrunken, und die Dame, aller Wahrscheinlichkeit nach eine ältere Verwandte von ihm, wollte ihn nicht von sich weglassen, jedenfalls aus Besorgnis, er werde geradewegs nach dem Büfett mit den Getränken hinstürzen. Im Gedränge stieß jedoch der Ulan mit einem jungen Kaufmann zusammen, der ebenfalls in unziemlichem Grade betrunken war. Dieser junge Kaufmann trieb sich auf dem Bahnhofe schon länger als einen ganzen Tag herum; von einem Schwarm von Kumpanen umringt, trank er und warf mit dem Gelde nur so um sich und verpaßte immer wieder den Zug, mit dem er hätte weiterfahren sollen. Es entstand ein Streit, der Offizier schrie, der Kaufmann schimpfte, die Dame war in Verzweiflung; sie suchte den Ulanen von dem Streite wegzuziehen, indem sie ihm in flehendem Tone: »Mitinka, Mitinka!«Eine Koseform für Dmitri. (A. d. Ü.) zurief. Dem jungen Kaufmann schien das unwürdig, und allerdings lachten alle; aber der junge Kaufmann fühlte sich in besonderem Grade durch den seiner Meinung nach hier vorliegenden Verstoß gegen den Anstand verletzt. »Hört nur: ›Mitinka!‹« rief er entrüstet, indem er die hohe 194 Stimme der Dame nachäffte. »Nicht einmal vor dem Publikum schämt sich so eine!«

Schwankenden Schrittes trat er auf die Dame zu, die auf den ersten Stuhl niedergesunken war und den Ulanen glücklich dahin gebracht hatte, sich neben sie zu setzen, betrachtete die beiden mit verächtlicher Miene und sagte in gedehntem, singendem Tone: »Du Schlumpe, du Schlumpe, du hast dir ja deine Schleppe dreckig gemacht!«

Die Dame kreischte auf und blickte kläglich um sich, ob ihr nicht jemand helfen wolle. Sie schämte und fürchtete sich, und um das Unglück voll zu machen, sprang der Offizier von seinem Stuhle auf und wollte aufbrüllend auf den Kaufmann losstürzen, glitt aber aus und fiel auf den Stuhl zurück. Das Gelächter ringsum wurde noch stärker; aber es fiel niemandem ein, der Dame zu Hilfe zu kommen. Weltschaninow jedoch tat dies; er packte auf einmal den jungen Kaufmann am Kragen, drehte ihn herum und versetzte ihm einen solchen Stoß, daß er etwa fünf Schritte weit von der geängstigten Dame wegflog. Damit hatte der Skandal sein Ende gefunden; der junge Kaufmann war sowohl über den Stoß als auch über Weltschaninows imponierende Gestalt höchst verdutzt; seine Kumpane führten ihn sogleich fort. Das achtunggebietende Gesicht des elegant gekleideten Herrn machte auch auf die Spötter einen nicht geringen Eindruck: Das Lachen verstummte. Die Dame, die ganz rot geworden war und beinahe weinte, erschöpfte sich in Versicherungen ihrer Dankbarkeit. Der Ulan murmelte: »Dadadanke, dadadanke!« und wollte schon Weltschaninow die Hand reichen, kam aber statt dessen plötzlich auf den Einfall, sich auf die Stühle zu legen, und streckte sich auf ihnen mit den Beinen aus.

»Mitinka!« stöhnte die Dame vorwurfsvoll und schlug die Hände zusammen.

Weltschaninow amüsierte sich sowohl über den Vorfall selbst als auch über die daran beteiligten Personen. Die Dame interessierte ihn; sie war offenbar eine wohlhabende Provinzlerin, zwar reich, aber geschmacklos gekleidet und mit etwas komischen Manieren; somit vereinigte sie in sich 195 alle diejenigen Eigenschaften, die einem großstädtischen Elegant, der auf eine Frau gewisse Absichten hat, einen Erfolg verbürgen. Es entspann sich ein Gespräch; die Dame redete sehr lebhaft und beklagte sich über ihren Mann, der sich plötzlich aus dem Waggon (sie wisse nicht wohin) entfernt habe, und daher sei das alles gekommen; denn immer und immer, wenn er da sein müsse, sei er verschwunden.

»Wegen eines Bedürfnisses . . .« murmelte der Ulan.

»Ach, Mitinka!« rief die Dame und schlug wieder die Hände zusammen.

»Na, der Mann wird es gut abbekommen!« dachte Weltschaninow.

»Wie heißt er? Ich werde gehen und ihn suchen«, erbot er sich.

»Pal Palytsch«, erwiderte der Ulan.

»Ihr Gatte heißt Pawel Pawlowitsch?« fragte Weltschaninow interessiert, und plötzlich schob sich ein ihm wohlbekannter Kopf zwischen ihn und die Dame. Wie mit einem Schlage stand ihm der Sachlebininsche Garten vor Augen und die harmlosen Spiele und der zudringliche Kahlkopf, der sich beständig zwischen ihn und Nadeschda Fedossejewna geschoben hatte.

»Da sind Sie ja endlich!« rief die Gattin entrüstet.

Es war Pawel Pawlowitsch in eigener Person; erstaunt und ängstlich blickte er Weltschaninow an, vor dem er wie vor einem Gespenste erschrocken war. Seine Erstarrung war eine so arge, daß er eine Zeitlang offenbar nichts von dem verstand, was ihm seine tief verletzte Gattin in zorniger, schneller Rede auseinandersetzte. Endlich fuhr er zusammen und wurde sich auf einmal über seine schreckliche Lage in ihrem ganzen Umfange klar: Über sein Verschulden und über Mitinka und über die Rolle, die dieser »monsieur« (so nannte die Dame Weltschaninow Gott weiß warum) dabei gespielt hatte. »Er ist unser Schutzengel, unser Retter gewesen; aber Sie . . . Sie sind nie da, wenn man Sie braucht . . .«

Weltschaninow lachte plötzlich lauf auf. »Aber wir sind ja 196 Freunde, Jugendfreunde!« rief er der erstaunten Dame zu und legte familiär und gönnerhaft den rechten Arm um Pawel Pawlowitschs Schultern, der das Gesicht zu einem schwächlichen Lächeln verzog. »Hat er Ihnen nie etwas von Weltschaninow gesagt?«

»Nein, das hat er nie getan«, versetzte die Gattin, einigermaßen verlegen.

»Aber so stellen Sie mich doch Ihrer Gemahlin vor, Sie treuloser Freund!«

»Liebe Lipotschka,Eine Koseform für Olimpiada. (A. d. Ü.) das ist in der Tat Herr Weltschaninow, siehst du . . .« begann Pawel Pawlowitsch, blieb dann aber schmählich stecken.

Die Gattin wurde dunkelrot und blitzte ihn böse mit den Augen an, offenbar weil er sie Lipotschka genannt hatte.

»Und denken Sie sich nur, er hat mir nicht einmal Mitteilung davon gemacht, daß er sich verheiraten wollte, und mich nicht zur Hochzeit eingeladen; aber Sie, Olimpiada . . .«

»Semjonowna«, ergänzte Pawel Pawlowitsch.

»Semjonowna«, echote der Ulan, der beinah eingeschlafen war.

»Sie sollten ihm nun Verzeihung zuteil werden lassen, Olimpiada Semjonowna, um meinetwillen, um dieses freundschaftlichen Wiedersehens willen . . . Er ist ja doch ein guter Ehemann!«

Weltschaninow klopfte Pawel Pawlowitsch freundschaftlich auf die Schulter.

»Mein Herzchen, ich war nur für einen Augenblick . . . weggegangen . . .« suchte Pawel Pawlowitsch sich zu entschuldigen.

»Und dabei haben Sie Ihre Frau einer schmählichen Behandlung ausgesetzt!« fiel Lipotschka sogleich ein. »Wenn man Sie braucht, sind Sie nicht da, und wo es nicht nötig ist, da finden Sie sich ein . . .«

»Wo es nicht nötig ist, da findet er sich ein; wo es nicht nötig ist . . . wo es nicht nötig ist . . .« stimmte ihr der Ulan bei. 197 Lipotschka war ganz außer sich vor Aufregung; sie wußte selbst, daß sich das in Weltschaninows Gegenwart nicht schickte, und errötete, konnte sich aber nicht beherrschen. »Wo es nicht nötig ist, da sind Sie übermäßig vorsichtig, übermäßig vorsichtig!« entfuhr es ihr unbedachtsamerweise.

»Unter dem Bette . . . sucht er nach Liebhabern . . . unter dem Bette – wo es nicht nötig ist . . . wo es nicht nötig ist . . .« rief Mitinka, der auf einmal sehr hitzig wurde.

Aber mit Mitinka war nichts mehr zu machen. Alles fand übrigens einen angenehmen Abschluß; die Bekanntschaft gestaltete sich recht freundschaftlich. Pawel Pawlowitsch wurde weggeschickt, um Kaffee und Bouillon zu holen. Olimpiada Semjonowna teilte dem neuen Bekannten mit, sie führen jetzt von D., wo ihr Mann ein Amt bekleide, auf zwei Monate nach ihrem Gute; dasselbe sei von dieser Station nicht weit entfernt, nur vierzig Werst; sie besäßen dort ein schönes Haus mit einem Garten, sähen häufig Gäste bei sich, hätten auch angenehme Nachbarn, und wenn Alexej Iwanowitsch so freundlich sein wolle, ihnen in ihrer ländlichen Einsamkeit einen Besuch zu machen, so werde sie ihn wie einen Schutzengel aufnehmen; denn sie könne nur mit Schrecken daran denken, was wohl geschehen wäre, wenn . . . und so weiter, und so weiter, kurz »wie ein Schutzengel . . .«

»Und wie einen Retter, und wie einen Retter!« fügte der Ulan eifrig hinzu.

Weltschaninow bedankte sich höflich und erwiderte, er sei dazu jederzeit gern bereit, da er keinerlei ihn bindende Beschäftigung habe und über seine Zeit vollständig frei verfüge; Olimpiada Semjonownas Einladung sei ihm sehr schmeichelhaft. Darauf begann er sofort eine sehr muntere Unterhaltung, in die er geschickt ein paar hübsche Komplimente einflocht. Lipotschka wurde ganz rot vor Vergnügen, und sowie Pawel Pawlowitsch zurückkam, teilte sie ihm voller Entzücken mit, sie habe Alexej Iwanowitsch eingeladen, einen ganzen Monat bei ihnen auf dem Lande zu wohnen; er habe die Einladung angenommen und 198 versprochen, nach einer Woche hinzukommen. Pawel Pawlowitsch lächelte verlegen und schwieg. Olimpiada Semjonowna zuckte über sein Benehmen die Achseln und wandte die Augen gen Himmel. Endlich trennte man sich: noch einmal Versicherungen der Dankbarkeit, wieder der Ausdruck »Schutzengel«, wieder ein entsetzter Ausruf: »Mitinka!« und Pawel Pawlowitsch führte seine Gattin und den Ulanen davon, um ihnen beim Einsteigen in den Waggon behilflich zu sein. Weltschaninow zündete sich eine Zigarre an und begann in der Halle vor dem Bahnhofe auf und ab zu gehen; er wußte, daß Pawel Pawlowitsch gleich wieder zu ihm gelaufen kommen werde, um noch bis zum Glockenzeichen mit ihm zu reden. Und das geschah denn auch. Pawel Pawlowitsch stellte sich alsbald wieder bei ihm ein; in seinen Augen und auf seinem ganzen Gesichte lag eine ängstliche Frage. Weltschaninow lachte, faßte ihn »freundschaftlich« am Ellbogen, zog ihn zur nächsten Bank hin, setzte sich und veranlaßte ihn, sich neben ihn zu setzen. Er selbst schwieg; er wollte, daß Pawel Pawlowitsch seinerseits das Gespräch begönne.

»Sie werden uns also besuchen?« stammelte dieser, indem er ganz offen zur Sache kam.

»Hab ich's doch gewußt! Er hat sich nicht im geringsten verändert!« rief Weltschaninow lachend. »Na, haben Sie denn wirklich« (hier schlug er ihm wieder auf die Schulter), »haben Sie denn wirklich auch nur einen Augenblick lang im Ernst glauben können, daß ich tatsächlich zu Ihnen zu Besuch kommen würde, und noch dazu auf einen Monat? Haha!«

Pawel Pawlowitsch zuckte mit dem ganzen Leibe zusammen.

»Also Sie . . . werden nicht kommen?« rief er, seine Freude in keiner Weise verbergend.

»Nein, ich werde nicht kommen, ich werde nicht kommen!« erwiderte Weltschaninow mit selbstzufriedenem Lachen.

Übrigens wußte er selbst nicht recht, warum ihm so besonders lächerlich zumute war; aber seine Lachlust wurde je länger um so größer. 199

»Im Ernst . . . reden Sie wirklich im Ernst?«

Bei diesen Worten sprang Pawel Pawlowitsch sogar in seiner unruhigen Erwartung von seinem Platze ein wenig in die Höhe.

»Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich nicht kommen werde. Nein, was sind Sie für ein wunderlicher Kauz!«

»Aber was soll ich denn dann . . . was soll ich denn dann zu Olimpiada Semjonowna sagen, wenn Sie in einer Woche nicht kommen und sie Sie vergeblich erwartet?«

»Da können Sie sich doch leicht helfen! Sagen Sie, ich hätte das Bein gebrochen, oder so etwas Ähnliches!«

»Das wird sie nicht glauben«, erwiderte Pawel Pawlowitsch in kläglichem, langgezogenem Tone.

»Und Sie bekommen es dann gehörig ab?« versetzte Weltschaninow lachend. »Aber ich merke, mein armer Freund, daß Sie vor Ihrer schönen Gemahlin eine tüchtige Angst haben – wie?«

Pawel Pawlowitsch versuchte zu lächeln; aber das gelang ihm nicht. Daß Weltschaninow erklärte, nicht zu Besuch kommen zu wollen, war ja freilich recht schön; aber daß er mit Bezug auf die Gattin in so familiärer Weise redete, war nicht angenehm. Pawel Pawlowitsch fühlte sich verletzt, und Weltschaninow merkte das. Inzwischen ertönte schon das zweite Glockenzeichen; von weitem hörte man aus einem Waggon eine Diskantstimme, die ängstlich nach Pawel Pawlowitsch rief. Dieser bewegte sich unruhig auf seinem Flecke hin und her, folgte aber dem Rufe nicht, weil er offenbar noch etwas von Weltschaninow erwartete – gewiß die nochmalige Versicherung, daß er nicht zu ihnen kommen werde.

»Was ist Ihre Gemahlin für eine geborene?« erkundigte sich Weltschaninow, wie wenn er Pawel Pawlowitschs Aufregung gar nicht bemerkte.

»Sie ist die Tochter unseres Propstes«, antwortete dieser, wobei er ängstlich nach dem Zuge hinblickte und hinhorchte.

»Ah, ich verstehe; eine Heirat wegen Schönheit.«

Pawel Pawlowitsch fühlte sich wieder verletzt. 200

»Und was ist denn das für ein Mitinka, den Sie da bei sich haben?«

»Ach, das ist bloß so ein entfernter Verwandter von uns, das heißt von mir, der Sohn meiner verstorbenen Cousine; er heißt Golubtschikow. Er wurde wegen unordentlichen Lebenswandels degradiert, ist aber jetzt wieder befördert worden; wir haben seine Equipierung besorgt . . . Ein unglücklicher junger Mensch . . .«

»Na ja, da ist ja alles in Ordnung, der Haushalt vollständig eingerichtet!« dachte Weltschaninow.

»Pawel Pawlowitsch!« wurde wieder von weitem aus dem Waggon gerufen, und diesmal hatte die Stimme schon einen recht gereizten Klang.

»Pal Palytsch!« erscholl eine andere, heisere Stimme.

Pawel Pawlowitsch wurde wieder unruhig und bewegte sich hin und her; aber Weltschaninow faßte ihn mit festem Griffe am Ellbogen und hielt ihn zurück.

»Was meinen Sie? Soll ich jetzt gleich hingehen und Ihrer Gemahlin sagen, daß Sie mich haben ermorden wollen, ja?«

»Was reden Sie da, was reden Sie da!« rief Pawel Pawlowitsch tödlich erschrocken. »Um Gottes willen nicht!«

»Pawel Pawlowitsch! Pawel Pawlowitsch« ließen sich die Stimmen wieder vernehmen.

»Na, dann gehen Sie nur!« sagte Weltschaninow, ihn endlich loslassend; er fuhr immer noch fort gutmütig zu lachen.

»Also Sie werden nicht kommen?« flüsterte Pawel Pawlowitsch fast in Verzweiflung zum letzten Male und legte sogar vor ihm bittend die Hände mit den Innenflächen zusammen, so wie man es in alter Zeit beim Gebete tat.

»Mein Wort darauf, daß ich nicht komme! Laufen Sie, sonst geht es Ihnen schlimm!«

Er streckte ihm schwungvoll die Hand hin, zuckte aber im nächsten Augenblicke zusammen: Pawel Pawlowitsch hatte die Hand nicht genommen, sondern sogar die seinige weggezogen.

Es ertönte das dritte Glockenzeichen. 201

In einem einzigen Augenblicke war mit beiden etwas Seltsames vorgegangen: Es war, als hätten sich beide umgewandelt. Im Inneren Weltschaninows, der soeben noch so fröhlich gelacht hatte, schien gleichsam etwas zerrissen zu sein. Er packte Pawel Pawlowitsch fest und ingrimmig an der Schulter.

»Wenn ich, ich Ihnen diese Hand hier hinstrecke« (dabei zeigte er ihm die Innenfläche seiner linken Hand, auf der die starke Narbe von dem Schnitte deutlich sichtbar geblieben war), »dann könnten Sie sie nehmen!« flüsterte er mit zitternden, blaß gewordenen Lippen.

Pawel Pawlowitsch war ebenfalls blaß geworden, und auch ihm zitterten die Lippen. Krampfhafte Zuckungen liefen über sein Gesicht hin.

»Und Lisa?« stammelte er leise und hastig, und auf einmal begannen seine Lippen, seine Backen und sein Kinn zu hüpfen, und die Tränen stürzten ihm aus den Augen.

Weltschaninow stand wie erstarrt vor ihm.

»Pawel Pawlowitsch! Pawel Pawlowitsch!« wurde aus dem Waggon gekreischt, als ob da jemand ermordet würde, – und auf einmal erscholl ein Pfiff der Lokomotive.

Pawel Pawlowitsch kam zur Besinnung, schlug die Hände zusammen und stürzte Hals über Kopf davon; der Zug setzte sich schon in Bewegung; aber es gelang ihm noch, sich anzuklammern und während der Fahrt in seinen Waggon zu springen. Weltschaninow blieb auf der Station zurück und setzte erst am Abend, nachdem er einen neuen Zug abgewartet hatte, seine Reise fort, und zwar in der bisherigen Richtung. Den Abstecher nach rechts zu seiner Bekannten in der Kreisstadt machte er nicht – er war zu sehr verstimmt. Und wie sehr bedauerte er das später!

 


 

Die wichtigsten handelnden Personen

        Aléxej Weltschanínow: verarmter Adliger
Páwel Páwlowitsch Trussózki: früherer Bekannter von Weltschanínow
Natálja Wassíljewna Trussózkaja: verstorbene erste Frau von Trussózki
Lísa: ihre Tochter
Stepán Micháilowitsch Bagaútow: früherer Freund von Weltschanínow und Trussózki
Alexánder Páwlowitsch Pogorélzew: Geheimrat, Freund von Weltschanínow
Kláwdija Petrówna Pogorélzewa: seine Frau
Fedosséj Petrówitsch Sachlebínin: Staatsrat, Bekannter von Trussózki
Töchter von Sachlebínin:
    Katerína Fedosséjewna Sachlebénina
    Nadéschda Fedosséjewna Sachlebínina
Alexánder Lóbow: entfernter Verwandter von Frau Sachlebínina
Márja Nikítitschna: Freundin von Nadéschda Fedosséjewna Sachlebínina
Máwra: Aufwärterin bei Weltschanínow
Márja Syssójewna: Zimmerwirtin von Trussózki
Olimpiáda Semjónowna: zweite Frau von Trussózki

 


 


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