Fjodor Dostojewski
Der lebenslängliche Ehemann
Fjodor Dostojewski

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XVI

Versuch einer psychologischen Erklärung

Das Gefühl einer außerordentlichen, gewaltigen Freude bemächtigte sich seiner; es hatte jetzt etwas seinen Abschluß, seine Lösung gefunden; eine furchtbare Sorge war 180 von ihm gewichen und hatte sich ganz verflüchtigt. So schien es ihm wenigstens. Fünf Wochen lang hatte diese Sorge gedauert. Er hob seine Hand in die Höhe, besah das blutgetränkte Handtuch und murmelte vor sich hin: »Nein, jetzt ist alles vollständig zu Ende!« Und an diesem Vormittage dachte er zum erstenmal in den letzten drei Wochen auch an Lisa fast gar nicht, als ob das Blut aus den zerschnittenen Fingern ihn auch mit diesem Kummer »quitt gemacht« hätte.

Er war sich dessen klar bewußt, daß er einer furchtbaren Gefahr entgangen war. »Diese Menschen«, sagte er sich, »eben diese selben Menschen, die noch einen Augenblick vorher nicht wissen, ob sie morden werden oder nicht, wenn die erst einmal das Messer in die zitternde Hand genommen haben und den ersten Spritzer warmen Blutes an ihren Fingern fühlen, dann morden sie nicht nur, nein, sie schneiden auch gleich den Kopf vollständig ab, machen ›ganze Arbeit‹, wie sich die Sträflinge ausdrücken. Ja, so ist das.«

Er konnte es bei sich zu Hause nicht aushalten und ging auf die Straße, in der Überzeugung, daß er notwendigerweise sofort irgend etwas tun müsse, oder daß mit ihm selbst ganz bestimmt sich sofort irgend etwas begeben werde; er ging durch die Straßen und wartete. Er hatte die größte Lust, jemanden zu treffen, mit jemandem ein Gespräch anzuknüpfen, sei es selbst mit einem Unbekannten, und nur dies brachte ihn endlich auf den Gedanken an einen Arzt und daran, daß seine Hand ordnungsgemäß verbunden werden müsse. Der Arzt, sein Bekannter von früher, fragte ihn neugierig, wie das nur habe passieren können. Weltschaninow umging eine Antwort durch einen Scherz, lachte und hätte ihm beinah alles erzählt; indes beherrschte er sich doch noch. Der Arzt hielt für nötig, ihm den Puls zu fühlen, und als er von dem Beklemmungsanfall in der Nacht hörte, riet er ihm, unverzüglich eine beruhigende Arznei einzunehmen, die er zur Hand hatte. Was die Schnittwunde anlangte, so beruhigte er ihn ebenfalls: Besonders schlimme Folgen könne die Sache nicht haben. Weltschaninow lachte und versicherte ihm, sie habe schon ganz vorzügliche Folgen 181 gehabt. Der lebhafte Wunsch, jemandem alles zu erzählen, wiederholte sich bei ihm an diesem Tage noch mehrere Male, einmal sogar einem ganz unbekannten Menschen gegenüber, mit dem er selbst als erster in einer Konditorei ein Gespräch angeknüpft hatte. Bisher hatte es ihm immer widerstanden, mit unbekannten Leuten an öffentlichen Orten eine Unterhaltung zu beginnen.

Er ging in einige Läden hinein, kaufte sich eine Zeitung, sprach bei seinem Schneider vor und bestellte sich einen neuen Anzug. Der Gedanke, Pogorelzews zu besuchen, war ihm dauernd unangenehm, und er mochte nicht an sie denken; auch konnte er gar nicht zu ihnen aufs Land fahren, da er gewissermaßen immer noch etwas in der Stadt erwartete. Er speiste mit Genuß zu Mittag, knüpfte ein Gespräch mit dem Kellner und mit einem Tischnachbar an und trank eine halbe Flasche Wein. An die Möglichkeit einer Wiederkehr des gestrigen Anfalls dachte er überhaupt nicht; er war davon überzeugt, daß die Krankheit in dem Augenblicke vollständig geschwunden war, wo er, trotz der großen Schwäche beim Einschlafen, nach anderthalb Stunden vom Bette aufgesprungen war und seinen Mörder mit solcher Kraft auf den Boden geworfen hatte. Gegen Abend jedoch wurde ihm der Kopf etwas schwindlig, und es bemächtigte sich zeitweilig seiner etwas, was mit dem gestrigen Fieberwahn im Schlafe Ähnlichkeit hatte. Er kehrte schon zur Dämmerzeit nach Hause zurück und erschrak beinah vor seinem Zimmer, als er es betrat. Mehrere Male ging er darin auf und ab und trat sogar in die Küche, in die er sonst fast noch nie gekommen war. »Hier haben sie gestern die Teller gewärmt«, sagte er sich. Die Tür schloß er fest zu und zündete früher als gewöhnlich Licht an. Beim Zuschließen der Tür erinnerte er sich daran, daß er eine halbe Stunde vorher, als er bei der Wohnung des Hausknechts vorbeigekommen war, Mawra herausgerufen und sie gefragte hatte, ob etwa Pawel Pawlowitsch während seiner Abwesenheit dagewesen sei, als ob dieser wirklich hätte vorsprechen können.

Nachdem er die Tür sorgfältig zugeschlossen hatte, schloß 182 er den Schreibtisch auf, nahm den Kasten mit dem Rasierzeug heraus und klappte das »gestrige« Rasiermesser auf, um es zu besehen. Auf dem weißen knöchernen Griffe waren geringe Blutspuren zurückgeblieben. Er legte das Rasiermesser wieder in den Kasten und schloß diesen wieder in den Schreibtisch. Er hatte Lust zu schlafen; er fühlte, daß er sich unverzüglich hinlegen müsse, sonst werde er »morgen zu nichts zu gebrauchen sein«. Der morgige Tag erschien ihm aus nicht recht klarem Grunde als ein verhängnisvoller, »entscheidender« Tag. Aber dieselben Gedanken, die ihn auch auf der Straße während des ganzen Tages keinen Augenblick verlassen hatten, drängten sich auch jetzt unermüdlich in seinem kranken Kopfe umher und vollführten dort einen unerträglichen Lärm, und er mußte immerzu denken, denken, denken und vermochte lange Zeit nicht einzuschlafen.

»Wenn es also feststeht, daß er den Versuch, mich zu töten, nicht auf Grund eines vorbedachten Planes unternahm, ist ihm dann dieser Gedanke schon früher wenigstens einmal in den Sinn gekommen, wenigstens als Spiel der Phantasie in einem Augenblicke des Ingrimms?«

Er beantwortete sich diese Frage in einer ganz seltsamen Weise so: Pawel Pawlowitsch habe ihn töten wollen; aber der Gedanke daran sei dem künftigen Mörder nie in den Sinn gekommen. Kürzer: Pawel Pawlowitsch haben töten wollen, aber nicht gewußt, daß er töten wollte. »Das klingt paradox«, dachte Weltschaninow, »aber es ist doch so. Nicht um eine Stelle zu suchen, und nicht um Bagautows willen ist er hierher gekommen, wiewohl er sich sowohl hier um eine Stelle bemüht hat als auch zu Bagautow herangegangen ist und sich wütend geärgert hat, als dieser starb. Aber Bagautow verachtete er als einen ganz unbedeutenden Menschen. Um meinetwillen ist er hierher gereist, und deshalb hat er auch Lisa mitgebracht . . .«

»Aber habe ich selbst erwartet, daß er einen Mordanschlag auf mich unternehmen werde?« Auf diese Frage antwortete er halb und halb mit Ja; er habe gleich von dem Augenblicke an, wo er ihn bei Bagautows Begräbnis in der Kutsche 183 gesehen habe, etwas Schlimmes erwartet. »Ich habe etwas erwartet, aber selbstverständlich nicht gerade das, selbstverständlich nicht, daß er versuchen werde, mich zu ermorden! . . .«

»Und war denn wirklich«, rief er wieder, indem er plötzlich den Kopf vom Kissen erhob und die Augen öffnete, »war denn wirklich alles das Wahrheit, was dieser verrückte Mensch mir gestern von seiner Liebe zu mir auseinandersetzte, als ihm das Kinn zitterte und er sich mit der Faust gegen die Brust schlug?«

»Vollständige Wahrheit«, urteilte er, sich unermüdlich in seinen psychologischen Erklärungsversuch vertiefend. »Dieser wunderliche Kauz aus T. besitzt wirklich Dummheit und Edelmut genug, um sich in den Liebhaber seiner Frau zu verlieben, bei der er in zwanzig Jahren nichts Schlimmes wahrgenommen hat! Er hat mich neun Jahre lang hochgeschätzt, mein Andenken in Ehren gehalten und meine ›Aussprüche‹ seinem Gedächtnisse eingeprägt – Herr Gott, und ich habe nichts davon gemerkt! Es ist unmöglich, daß er gestern gelogen hat! Aber hat er mich gestern geliebt, als er mir seine Liebe erklärte und sagte: ›Lassen Sie uns erst noch miteinander quitt werden‹? Ja, er hat mich aus Grimm geliebt; diese Liebe ist die stärkste! . . .«

»Aber es ist ja sehr möglich oder vielmehr sicher, daß ich auf ihn in T. einen kolossalen Eindruck gemacht habe, einen kolossalen und angenehmen Eindruck, und gerade bei einem solchen verschrobenen Idealisten, wie dieser wunderliche Kauz einer ist, konnte das passieren! Er hat mich durch ein hundertfaches Vergrößerungsglas gesehen, weil ich ihm in seiner philosophischen Abgeschiedenheit gar zu gewaltig imponierte . . . Es wäre interessant zu erfahren, wodurch ich ihm eigentlich imponiert habe. Wahrhaftig, vielleicht durch meine neuen Handschuhe und meine Geschicklichkeit im Anziehen derselben. Solche wunderlichen Käuze schwärmen für Ästhetik, und wie schwärmen sie dafür! Ein Paar Handschuhe sind für manche edle Seele, noch dazu wenn es die eines ›lebenslänglichen Ehemannes‹ ist, mehr als hinreichend, um sie in Begeisterung zu 184 versetzen. Tausenderlei anderes denken sie sich dann selbst hinzu und schlagen sich sogar für den Betreffenden, wenn er es wünscht. Wie hoch muß er meine Fähigkeit zu verführen veranschlagt haben! Vielleicht war gerade diese meine Fähigkeit zu verführen dasjenige, was ihm am meisten imponierte. Und sein damaliger Ausruf: ›Wenn auch der, wem soll man dann überhaupt noch trauen!‹ Nach einem solchen Ausrufe wird man ja zum wilden Tiere! . . .«

»Hm! Er ist hierher gekommen, um ›mich zu umarmen und sich mit mir auszuweinen‹, das ist sein eigener ganz unwürdiger Ausdruck; das heißt, er ist hergekommen, um mich zu ermorden, dachte aber, er käme, um ›mich zu umarmen und sich mit mir auszuweinen‹ . . . Er hat auch Lisa mitgebracht. Und wer weiß: Wenn ich mit ihm geweint hätte, würde er mir vielleicht wirklich verziehen haben; denn es war sein größter Wunsch zu verzeihen! . . . Alle diese Empfindungen haben sich beim ersten Zusammentreffen in betrunkene Schauspielerei, in Karikiertheit und in garstiges weibisches Geheul über die ihm angetane Beleidigung verwandelt. (Hörner machte er sich selbst an der Stirn, Hörner!) Darum kam er auch in betrunkenem Zustande, um, wenn auch unter Schauspielerei, sich auszusprechen; in nüchternem Zustande hätte er das nicht fertiggebracht . . . Und er schauspielerte so gern, ach, so gern! Ach, wie freute er sich, als er mich dahin gebracht hatte, mich mit ihm zu küssen! Nur wußte er damals nicht, wie er die Sache zu Ende bringen sollte: Ob mit einer Umarmung oder mit einem Morde. Er kam dann zu dem Resultate, daß es das beste sei, sowohl das eine als auch das andere zu tun. Eine ganz natürliche Lösung! – Ja, die Natur liebt die Mißgeburten nicht und macht ihnen durch ›natürliche Lösungen‹ den Garaus. Die häßlichste Mißgeburt aber, das ist die Mißgeburt mit edlen Gefühlen; das weiß ich aus eigener Erfahrung, Pawel Pawlowitsch! Die Natur ist für die Mißgeburt nicht eine zärtliche Mutter, sondern eine Stiefmutter. Die Natur erzeugt die Mißgeburt; aber statt mit ihr Mitleid zu haben, richtet sie sie hin – und mit Recht. Umarmungen und tränenreiche Verzeihung alles Geschehenen werden in 185 unserem Zeitalter nicht einmal ordentlichen Leuten umsonst zuteil, geschweige denn solchen wie ich und Sie sind, Pawel Pawlowitsch!«

»Ja, er war dumm genug, mich auch zu seiner Braut mitzunehmen; o Gott, diese Braut! Nur in dem Kopfe eines so wunderlichen Kauzes konnte der Gedanke an eine ›Auferstehung zu einem neuen Leben‹ vermittels der Unschuld dieses Fräuleins Sachlebinina entstehen! Aber Sie können nichts dafür, Pawel Pawlowitsch; Sie können nichts dafür: Sie sind eben eine Mißgeburt, und darum muß auch alles bei Ihnen mißgeboren sein, auch Ihre Träumereien und Hoffnungen. Aber obgleich er eine Mißgeburt ist, so kamen ihm doch Zweifel, ob seine Träumerei sich auch werde verwirklichen lassen, und daher war die hohe Sanktion des andächtig verehrten Weltschaninow erforderlich. Er brauchte Weltschaninows Beifall, eine Bestätigung von seiten desselben, daß die Träumerei nicht eine bloße Träumerei sei, sondern im Gebiete der Wirklichkeit liege. Er hat mich aus andächtiger Verehrung hingeführt und im Glauben an den Edelmut meiner Gefühle, vielleicht in dem Glauben, wir würden uns dort in der Nähe der Unschuld unter einem Strauche umarmen und miteinander weinen. Ja, es war ja doch die Pflicht und Schuldigkeit dieses ›lebenslänglichen Ehemannes‹, sich endlich einmal für alles abschließend zu bestrafen, und um sich zu bestrafen, griff er zum Rasiermesser, allerdings nur so bei einer zufälligen Gelegenheit, aber er griff doch danach! ›Er hat ihn aber doch mit dem Dolche gestochen, schließlich hat er es doch getan in Gegenwart des Gouverneurs!‹ Apropos, ob er wohl schon damals einen derartigen Gedanken im Kopfe hatte, als er mir sein Geschichtchen von dem Hochzeitsmarschall erzählte? Und ob er wirklich damals in der Nacht so etwas vorhatte, als er vom Bette aufgestanden war und mitten im Zimmer dastand? Hm . . . Nein, er stand damals nur zum Scherz so da. Er war wegen seines Bedürfnisses aufgestanden; als er aber sah, daß ich vor ihm Angst hatte, da gab er mir zehn Minuten lang keine Antwort, weil es ihm eine sehr angenehme Empfindung war, daß ich mich vor ihm 186 fürchtete . . . Vielleicht ist ihm damals wirklich zum ersten Male so ein Gedanke aufgeblitzt, als er in der Dunkelheit dastand . . .«

»Und doch, hätte ich gestern nicht aus Vergeßlichkeit mein Rasierzeug auf dem Tische gelassen, so wäre vielleicht nichts passiert. Nicht wahr? Nicht wahr? Er hat ja vorher jede Begegnung mit mir vermieden, ist ja vierzehn Tage lang nicht zu mir gekommen; er hat sich ja vor mir versteckt gehalten, aus Mitleid mit mir! Er hat sich ja ursprünglich Bagautow aufs Korn genommen und nicht mich! Er ist ja in der Nacht aufgesprungen, um die Teller zu wärmen, weil er glaubte, seinem Denken auf diese Weise eine andere Richtung zu geben: vom Messer zur Rührung! . . . Er wollte sich und mich retten – mit den gewärmten Tellern! . . .«

Noch lange Zeit arbeitete der kranke Kopf des ehemaligen »Weltmannes« in dieser Weise weiter (eine fruchtlose Tätigkeit!), bis Weltschaninow endlich zur Ruhe kam. Er erwachte am andern Tage mit demselben kranken Kopfe, aber mit einem ganz neuen und völlig unerwarteten Schrecken . . .

Dieser neue Schrecken wurde durch die feste Überzeugung hervorgerufen, die sich ganz unerwartet bei ihm herausgebildet hatte, daß er, Weltschaninow, er, der Weltmann, noch an diesem Tage, von selbst, freiwillig die Sache dadurch zum Abschluß bringen werde, daß er zu Pawel Pawlowitsch hingehe. Warum? Weshalb? Das wußte er nicht und mochte es auch vor Ekel gar nicht wissen; er wußte nur, daß er aus irgendwelchem Grunde den unangenehmen Weg machen werde.

Dieser verrückte Gedanke (denn anders konnte er es nicht nennen) nahm indessen bei seiner weiteren Entwicklung, soweit das überhaupt möglich war, eine vernünftige Gestalt an und fand einen ziemlich triftigen Grund: Weltschaninow hatte schon am vorhergehenden Tage so eine Art von unklarer Vorstellung gehabt, als sei Pawel Pawlowitsch nach seinem Logis zurückgekehrt, habe sich dort eingeschlossen und sich aufgehängt, wie jener Kassierer, von dem Marja Syssojewna erzählt hatte. Dieser phantastische Einfall vom vorhergehenden Tage ging bei ihm allmählich in 187 eine zwar unsinnige, aber unerschütterliche Überzeugung über. »Warum sollte sich dieser Dummkopf aufhängen?« wandte er alle Augenblicke gegen seine Befürchtungen ein. Aber dann erinnerte er sich an das, was ihm Lisa seinerzeit gesagt hatte. »Übrigens würde ich mich an seiner Stelle vielleicht auch aufhängen . . .« ging es ihm einmal durch den Kopf.

Das Ende war, daß er, statt zum Mittagessen zu gehen, sich zu Pawel Pawlowitsch aufmachte. »Ich will mich nur bei Marja Syssojewna erkundigen«, nahm er sich vor. Aber er war noch nicht auf die Straße hinausgetreten, als er auf einmal unter dem Tore stehenblieb:

»Ist es möglich? Ist es möglich?« rief er, vor Scham errötend. »Gehe ich wirklich dorthin, um ihn zu umarmen und mich mit ihm auszuweinen? Diese sinnlose Gemeinheit hätte nur noch zu der ganzen übrigen Schande gefehlt!«

Aber vor dieser »sinnlosen Gemeinheit« rettete ihn die Vorsehung aller ordentlichen, anständigen Leute. Kaum war er auf die Straße getreten, als er mit Alexander Lobow zusammenstieß. Der junge Mann war sehr eilig und befand sich in starker Aufregung.

»Ich wollte gerade zu Ihnen! Nun, was sagen Sie zu unserem Freunde Pawel Pawlowitsch?«

»Er hat sich aufgehängt«, murmelte Weltschaninow verstört.

»Wer hat sich aufgehängt? Warum?« rief Lobow und riß die Augen weit auf.

»Nicht doch . . . ich sagte das nur so . . . fahren Sie nur fort!«

»Hol's der Teufel, was haben Sie für komische Einfälle! Er hat sich doch gar nicht aufgehängt (warum sollte er das auch tun?). Im Gegenteil, er ist abgereist. Ich habe ihn soeben auf die Bahn gebracht und bin ihm beim Einsteigen behilflich gewesen. Donnerwetter, kann der Mensch saufen, sage ich Ihnen! Wir haben drei Flaschen getrunken; Predpossylow mit – aber was kann der Mensch saufen, was kann der Mensch saufen! Im Waggon fing er an zu singen und redete auch von Ihnen; er warf uns Kußhände zu und trug 188 uns auf, Sie von ihm zu grüßen. Aber ein Schuft ist er, meinen Sie nicht auch, wie?«

Der junge Mann war tatsächlich betrunken; sein gerötetes Gesicht, die glänzenden Augen und die ungelenke Zunge legten davon deutliches Zeugnis ab. Weltschaninow lachte aus vollem Halse.

»Also haben Sie beide zu guter Letzt doch noch Brüderschaft getrunken! Haha! Sie haben einander umarmt und miteinander geweint! Ach, Sie verstiegenen Idealisten!«

»Bitte, schimpfen Sie nicht! Wissen Sie, er hat allen Ansprüchen dort entsagt. Gestern ist er dagewesen und heute ebenfalls. Er hat abscheulich gepetzt. Sie haben Nadeschda eingeschlossen; sie sitzt im Entresol. Es hat Geschrei und Tränen gesetzt; aber wir haben nicht nachgegeben! Aber wie er saufen kann, ich sage Ihnen, wie er saufen kann! Und wissen Sie, was er für einen mauvais ton hat, das heißt, nicht eigentlich mauvais ton; aber wie soll man es bezeichnen? . . . Und immerzu redete er von Ihnen; aber er hält mit Ihnen keinen Vergleich aus! Sie sind doch immerhin ein ordentlicher Mensch und haben tatsächlich einmal zur höchsten Gesellschaft gehört und sind nur jetzt gezwungen, sich zurückzuziehen – aus Armut, denk ich . . . weiß der Teufel, ich habe nicht alles verstanden, was er sagte.«

»Also das hat er Ihnen in solchen Ausdrücken von mir erzählt?«

»Ja, das hat er; aber ärgern Sie sich nicht darüber! Ein Bürger sein, das ist besser als zur höchsten Gesellschaft zu gehören. Ich sage das mit Bezug darauf, daß man in unserm Zeitalter in Rußland nicht weiß, wen man achten soll. Sie müssen zugeben, daß es eine schlimme Krankheit eines Zeitalters ist, wenn man nicht weiß, wen man achten soll, nicht wahr?«

»Freilich, freilich; nun, und was hat er weiter gesagt?«

»Er? Wer? Ach so, ja! Warum sagte er nur immer: ›der fünfzigjährige, aber durch seine Verschwendung verarmte Weltschaninow‹? Warum: ›aber durch seine Verschwendung verarmt‹ und nicht: ›und durch seine Verschwendung verarmt‹? Er lachte und wiederholte diesen Ausdruck immerzu. 189 Als er in den Waggon gestiegen war, fing er an zu singen und zu weinen – es war geradezu widerlich; er konnte einem sogar leid tun in seiner Betrunkenheit. Ach, ich kann Dummköpfe nicht leiden! Den Bettlern warf er Geld hin; sie sollten für das Seelenheil einer Lisa beten – das ist wohl seine Frau gewesen?«

»Nein, seine Tochter.«

»Was haben Sie denn da an der Hand?«

»Ich habe mich geschnitten.«

»Nun, das macht nichts; das geht vorüber. Wissen Sie, hol ihn der Teufel, es ist gut, daß er weggefahren ist; aber ich möchte darauf wetten, daß er dort, wo er hinkommt, gleich wieder auf die Freite geht – nicht wahr?«

»Aber Sie wollen doch auch heiraten?«

»Ich? Das ist doch eine ganz andere Sache! Aber wahrhaftig, wie Sie auch reden! Wenn Sie fünfzig Jahre alt sind, dann ist er gewiß sechzig: Und da sollte er den Geboten der Logik folgen, mein Bester! Und wissen Sie, früher, schon vor langer Zeit, war ich ein reiner Slawophile, aus Überzeugung; aber jetzt erwarten wir die Morgenröte vom Westen her . . . Na, auf Wiedersehen; gut, daß ich Sie hier getroffen habe, ohne erst nach Ihrer Wohnung hinaufzugehn; ich werde nicht hinaufkommen; bitten Sie mich nicht darum; ich habe keine Zeit! . . .«

Er begann sich eilig zu entfernen.

»Ach, was mache ich denn?« rief er plötzlich und kehrte wieder um. »Er hat mir ja einen Brief an Sie mitgegeben! Da ist er! Warum haben Sie ihn nicht auch zur Bahn begleitet?«

Weltschaninow kehrte in seine Wohnung zurück und erbrach den an ihn adressierten Brief.

Das Kuvert enthielt keine einzige Zeile von Pawel Pawlowitschs Hand; wohl aber befand sich darin ein anderer Brief. Weltschaninow erkannte die Handschrift. Der Brief war alt, das Papier durch die lange Zeit gelb geworden, die Tinte verblaßt; geschrieben war er an ihn vor neun Jahren nach Petersburg, zwei Monate nach seiner damaligen Abreise aus T. Aber dieser Brief war ihm nicht zugegangen; 190 statt seiner hatte er damals einen anderen erhalten; das ging aus dem Inhalte des vergilbten Briefes deutlich hervor. In diesem Briefe nahm Natalja Wassiljewna für immer von ihm Abschied (ganz ebenso wie in dem Briefe, den er damals bekommen hatte) und gestand ihm, daß sie einen andern liebe, machte aber aus ihrer Schwangerschaft kein Geheimnis. Vielmehr stellte sie ihm, um ihn zu trösten, in Aussicht, daß sie die Möglichkeit finden werde, ihm das zu erwartende Kind zu übergeben, betonte, daß sie von nun an andere Pflichten hätten, daß ihre Freundschaft jetzt für das ganze Leben befestigt sei – kurz, Logik war wenig darin; aber die Absicht war klar: Er sollte sie nun mit seiner Liebe verschonen. Sie erlaubte ihm sogar, nach einem Jahre wieder nach T. zu kommen, um sich das Kind anzusehen. Gott weiß, warum sie anderen Sinnes geworden war und statt dieses Briefes einen andern abgeschickt hatte.

Weltschaninow war blaß, während er den Brief las. Aber er stellte sich auch Pawel Pawlowitsch vor, wie er diesen Brief gefunden und ihn zum erstenmal vor der geöffneten Schatulle, diesem alten Erbstück aus Ebenholz mit der eingelegten Arbeit von Perlmutter, gelesen hatte.

»Gewiß ist auch er leichenblaß geworden«, dachte er, als er zufällig sein Gesicht im Spiegel sah; »gewiß hat er gelesen und die Augen zugemacht und auf einmal wieder geöffnet, in der Hoffnung, daß der Brief sich in ein einfaches weißes Blatt Papier verwandeln werde . . . Sicherlich hat er dieses Experiment etwa dreimal hintereinander wiederholt!«

 


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