Fjodor Dostojewski
Der lebenslängliche Ehemann
Fjodor Dostojewski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX

Das Gespenst

Pawel Pawlowitsch hatte es sich höchst bequem gemacht. Er saß auf demselben Lehnstuhle wie am vorhergehenden Tage, rauchte eine Zigarette und hatte sich soeben das vierte und letzte Glas aus der Flasche eingegossen. Die Teekanne und ein Glas mit einem Reste Tee standen ebendort neben ihm auf dem Tische. Sein gerötetes Gesicht strahlte von Glückseligkeit. Er hatte sogar den Frack ausgezogen und saß ganz sommerlich in der bloßen Weste da.

»Verzeihen Sie, teuerster Freund!« rief er, als er Weltschaninow erblickte, und sprang auf, um den Frack anzuziehen; »ich hatte ihn ausgezogen, um den schönen Augenblick besser genießen zu können . . .«

Weltschaninow trat mit grimmiger Miene auf ihn zu.

»Sind Sie noch nicht vollständig betrunken? Kann man noch mit Ihnen reden?«

Pawel Pawlowitsch geriet ein wenig aus der Fassung.

»Nein, ich bin es noch nicht vollständig . . . Ich habe zum Gedächtnis des Entschlafenen getrunken; aber ich bin noch nicht vollständig . . .«

»Werden Sie mich auch verstehen?«

»In der Absicht bin ich ja eben hergekommen, um Sie zu verstehen.«

»Nun, dann will ich damit beginnen, Ihnen geradeheraus zu sagen, daß Sie ein Nichtswürdiger sind!« schrie Weltschaninow, dem die Stimme vor Wut fast versagte.

»Wenn Sie damit beginnen, womit werden Sie denn dann aufhören?« erwiderte Pawel Pawlowitsch, augenscheinlich stark verängstigt und nur schwach gegen die Beleidigungen protestierend; aber Weltschaninow schrie, ohne auf ihn hinzuhören:

»Ihre Tochter liegt im Sterben; sie ist krank; haben Sie sich von ihr losgesagt oder nicht?«

»Liegt sie wirklich schon im Sterben?«

»Sie ist krank, krank, sehr gefährlich krank!« 96

»Vielleicht ist es nur so ein kleiner Anfall . . .«

»Reden Sie keinen Unsinn! Sie ist sehr gefährlich krank, sage ich Ihnen! Schon allein deswegen müssen Sie hinfahren . . .«

»Um mich zu bedanken, um mich für die Gastfreundschaft zu bedanken! Ich verstehe sehr wohl! Alexej Iwanowitsch, teuerster, bester Freund«, sagte er, indem er ihn plötzlich mit seinen beiden Händen an der Hand ergriff; und mit der Rührseligkeit eines Betrunkenen, ja beinahe mit Tränen rief er, wie wenn er um Verzeihung bäte: »Alexej Iwanowitsch, schreien Sie nicht so, schreien Sie nicht so! Wenn ich sterbe, wenn ich jetzt gleich in meiner Betrunkenheit in die Newa falle, was wird dann bei der tatsächlichen Lage der Dinge die Folge sein? Aber zu Herrn Pogorelzew kommen wir immer noch früh genug . . .«

Weltschaninow kam zur Besinnung und gewann ein wenig die Herrschaft über sich zurück.

»Sie sind betrunken, und daher kann ich nicht verstehen, was Sie eigentlich meinen«, sagte er in ernstem Tone. »Ich bin jeden Augenblick bereit, mich mit Ihnen auszusprechen, und würde mich sogar freuen, wenn es recht bald geschähe . . . Ich war auch vorhin in dieser Absicht zu Ihnen gefahren . . . Aber vor allen Dingen mögen Sie wissen, daß ich jetzt meine Maßregeln ergreifen werde: Sie müssen heute bei mir über Nacht bleiben! Morgen früh werde ich Sie beim Kragen nehmen und mit Ihnen hinfahren. Ich werde Sie nicht loslassen!« brüllte er wieder. »Ich werde sie knebeln und auf meinen Armen hintragen! . . . Paßt Ihnen dieses Sofa?« Er wies mit wuterstickter Stimme auf ein breites, weiches Sofa, das demjenigen Sofa, auf dem er selbst schlief, an der anderen Wand gegenüber stand.

»Aber ich bitte Sie, ich kann ja überall . . .«

»Nein, nicht überall, sondern auf diesem Sofa! Nehmen Sie, da haben Sie ein Laken, eine Bettdecke und ein Kissen« (Weltschaninow zog alle diese Dinge hastig aus einem Schranke heraus und warf sie Pawel Pawlowitsch zu, der gehorsam seine Arme hinhielt); »machen Sie sofort Ihr Bett zurecht; aber sofort, sofort!« 97

Mit dem Bettzeug bepackt stand Pawel Pawlowitsch, anscheinend unentschlossen, mitten im Zimmer, ein starres Lächeln der Betrunkenheit auf dem weingeröteten Gesichte; als ihn aber Weltschaninow zum zweiten Male drohend anschrie, stürzte er Hals über Kopf zum Sofa hin und machte sich an die Arbeit: Er rückte den Tisch ab und begann schnaufend das Laken auseinanderzufalten und hinzubreiten. Weltschaninow trat hinzu, um ihm zu helfen; der Gehorsam und die Angst seines Gastes besänftigten ihn ein wenig.

»Trinken Sie Ihr Glas aus, und legen Sie sich hin!« kommandierte er wieder; er hatte das Gefühl, daß dieser Kommandoton notwendig sei. »Haben Sie den Wein selbst holen lassen?«

»Ja, ich habe es selbst getan, Alexej Iwanowitsch . . . Ich wußte, daß Sie keinen mehr holen lassen würden.«

»Es ist gut, daß Sie das wußten; aber Sie müssen jetzt noch mehr erfahren. Ich erkläre Ihnen noch einmal, daß ich jetzt über die zu ergreifenden Maßregeln zu einem Entschlusse gekommen bin: Ihre Faxen werde ich nicht mehr dulden; Ihre betrunkenen Küsse, wie gestern, werde ich mir nicht mehr gefallen lassen!«

»Das sehe ich ja auch selbst ein, Alexej Iwanowitsch, daß das nur ein einziges Mal möglich war«, erwiderte Pawel Pawlowitsch schmunzelnd.

Als Weltschaninow, der im Zimmer auf und ab ging, diese Antwort hörte, blieb er, beinahe mit einer gewissen Feierlichkeit, vor Pawel Pawlowitsch stehen.

»Pawel Pawlowitsch, reden Sie einmal offen und ehrlich! Sie sind ein kluger Mensch; das erkenne ich erneut an; aber ich versichere Ihnen, daß Sie sich auf einem falschen Wege befinden! Reden Sie geradeheraus; handeln Sie offenherzig, und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf, daß ich Ihnen auf jede Frage antworten werde, die Ihnen zu stellen beliebt!«

Pawel Pawlowitsch schmunzelte wieder anhaltend, ein Benehmen, das allein schon genügte, um Weltschaninow wütend zu machen. 98

»Halt!« rief dieser wieder. »Verstellen Sie sich nicht; ich durchschaue Sie durch und durch! Ich wiederhole Ihnen: Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf, daß ich bereit bin, Ihnen auf jede Frage zu antworten, und daß Sie jede mögliche Genugtuung erhalten werden, jede, selbst über die Grenzen der Möglichkeit hinaus! O, wie sehr würde ich wünschen, daß Sie mich verständen! . . .«

»Wenn Sie schon so gütig sind«, versetzte Pawel Pawlowitsch, indem er vorsichtig näher an ihn herantrat, »dann würde es mich sehr interessieren zu wissen, was Sie gestern mit dem Raubtiertypus meinten, von dem Sie sprachen! . . .«

Weltschaninow spuckte aus und begann wieder, aber noch schneller als vorher, im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Nein, Alexej Iwanowitsch, spucken Sie nicht aus; denn jener Ausdruck hat wirklich mein lebhaftes Interesse erregt, und ich bin speziell deshalb hergekommen, um über seine Bedeutung Klarheit zu erlangen . . . Meine Zunge will mir nicht recht gehorchen; aber verzeihen Sie das gütigst! Ich habe nämlich über diesen ›Raubtiertypus‹ und über den ›zahmen Typus‹ selbst etwas in einer Zeitschrift gelesen, in der Abteilung für literarische Kritik; das fiel mir heute morgen wieder ein . . . ich habe nur vergessen, was es eigentlich war; aber, die Wahrheit zu sagen, ich hatte es damals gar nicht verstanden gehabt. Und sehen Sie, da möchte ich nun gerne wissen, ob der verstorbene Stepan Michailowitsch Bagautow ein ›Raubtier‹ oder ein ›zahmes Tier‹ war. Zu welcher Gattung gehörte er?«

Weltschaninow schwieg immer noch und setzte seine Promenade fort; dann blieb er auf einmal stehen und sagte in heller Wut: »Der Raubtiertypus, das ist ein Mensch, welcher Bagautow lieber mit einem Glase Champagner bei der Feier des angenehmen Wiedersehens vergiftet hätte, so wie Sie gestern mit mir getrunken haben, aber nicht seinem Sarge nach dem Kirchhofe gefolgt wären, wie Sie das heute aus Gott weiß was für geheimen, versteckten, häßlichen Motiven unter Grimassen, die nur Ihnen selbst Unehre machen, getan haben! Nur Ihnen selbst!« 99

»Das ist ganz richtig, daß ein Raubtiermensch dem Sarge nicht gefolgt wäre«, stimmte ihm Pawel Pawlowitsch bei; »aber wie konnten Sie denn trotzdem von mir sagen . . .«

»Das ist nicht ein Mensch«, schrie Weltschaninow, der nicht auf ihn hörte und immer hitziger wurde, »das ist nicht ein Mensch, der sich Gott weiß was für Gedanken zurechtmacht, die Rechtsfrage wie ein Rechenexempel behandelt, die erlittene Beleidigung wie eine Schulaufgabe auswendig lernt, seinen Kummer mit sich herumschleppt, Grimassen schneidet, schauspielert, andern Leuten auf dem Halse liegt und darauf seine ganze Zeit verwendet! Ist das wahr, daß Sie sich haben aufhängen wollen? Ja?«

»In der Betrunkenheit habe ich vielleicht so etwas hingeschwatzt; ich entsinne mich nicht mehr. Aber, Alexej Iwanowitsch, Giftmischerei würde sich für unsereinen doch wohl nicht recht passen. Abgesehen davon, daß ich ein gutangeschriebener Beamter bin, besitze ich ja auch ein Kapital und will mich außerdem vielleicht auch wieder verheiraten.«

»Man wird dafür auch zur Zwangsarbeit nach Sibirien verschickt.«

»Na ja, sehen Sie, auch diese Unannehmlichkeit noch, wiewohl die Gerichte heutzutage vielfach mildernde Umstände bewilligen. Aber da möchte ich Ihnen, Alexej Iwanowitsch, ein höchst humoristisches Geschichtchen erzählen, das mir vorhin im Wagen einfiel, als ich herfuhr. Sie sagten soeben: ›Er liegt andern Leuten auf dem Halse‹. Vielleicht erinnern Sie sich noch an Semjon Petrowitsch Liwzow; er verkehrte zur Ihrer Zeit bei uns in T.; na, also dessen jüngerer Bruder, ebenfalls ein junger Petersburger, bekleidete in W. ein Amt beim Gouverneur und besaß ebenfalls mancherlei glänzende Eigenschaften. Der bekam einmal in Gesellschaft Streit mit dem Oberst Golubenko; auch Damen waren anwesend, darunter die Dame seines Herzens. Er erachtete sich für beleidigt, steckte aber die Beleidigung ein und tat, als ob nichts geschehen wäre; Golubenko aber machte ihm inzwischen die Dame seines Herzens abspenstig und hielt um ihre Hand an. Und was meinen Sie? Dieser Liwzow wurde sogar ein intimer Freund Golubenkos und 100 söhnte sich vollständig mit ihm aus; ja noch mehr: Er bat ihn sogar inständig darum, als sein Hochzeitsmarschall fungieren zu dürfen, und hielt bei der Trauung die Krone über ihm. Als sie nun von der Trauung nach Hause gefahren waren, trat er an Golubenko heran, um ihn zu beglückwünschen und zu küssen. Und was tat er da vor den Augen der ganzen vornehmen Gesellschaft und in Gegenwart des Gouverneurs, er selbst im Frack und mit gekräuseltem Haar? Er stieß Golubenko einen Dolch in den Bauch, daß der nur so hinkollerte! Der eigene Hochzeitsmarschall, eine wahre Schande! Und das ist noch nicht alles; die Hauptsache ist die: Sobald er mit dem Dolche zugestoßen hatte, stürzte er zu den Umstehenden hin: ›Ach, was habe ich getan! Ach, was habe ich nur getan!‹ Die Tränen stürzten ihm aus den Augen; er zitterte am ganzen Körper, warf sich allen um den Hals, sogar den Damen, und rief unaufhörlich: ›Ach, was habe ich getan! Ach, was habe ich da jetzt nur getan!‹ He-he-he! Er hatte ihm einen gehörigen Stich versetzt. Golubenko konnte einem leid tun; indes ist er wieder gesund geworden.«

»Ich sehe nicht ab, warum Sie mir das erzählt haben«, bemerkte Weltschaninow in strengem Tone mit finsterer Miene.

»Nun, mit Bezug darauf, daß er ihn mit dem Dolche gestochen hat«, erwiderte Pawel Pawlowitsch kichernd. »Man sieht aber, daß er doch kein Raubtiermensch war, sondern ein Waschlappen, da er vor Furcht allen Anstand vergaß und in Gegenwart des Gouverneurs den Damen um den Hals fiel; aber vorher hatte er ihn gestochen, seinen Zweck erreicht! Nur deswegen habe ich es erzählt.«

»Scheren Sie sich zum Teufel!« schrie Weltschaninow auf einmal mit fremdklingender Stimme, als ob in seinem Innern etwas zerrissen wäre. »Scheren Sie sich zum Teufel mit Ihrem heimtückischen Geschwätz; Sie sind selbst eine heimtückische Kanaille und wollten mich ins Bockshorn jagen! Sie Folterer eines Kindes, Sie gemeiner Mensch; Sie Schurke, Sie Schurke, Sie Schurke!« schrie er; er wußte von sich selbst nicht und kam bei jedem Worte außer Atem. 101

Durch Pawel Pawlowitschs ganzen Körper ging ein starkes Zucken; sogar sein Rausch verflog; seine Lippen zitterten.

»Also Sie nennen mich einen Schurken, Alexej Iwanowitsch, Sie mich?«

Aber Weltschaninow war bereits wieder zur Besinnung gekommen.

»Ich bin bereit, um Entschuldigung zu bitten«, sagte er nach kurzem Stillschweigen und finsterem Nachdenken; »aber nur in dem Falle, daß Sie selbst sich sofort dazu entschließen, offen und ehrlich zu verfahren.«

»Ich würde an Ihrer Stelle in jedem Falle um Entschuldigung bitten, Alexej Iwanowitsch.«

»Nun gut, sei es so!« erwiderte Weltschaninow, wieder nach kurzem Schweigen; »ich bitte Sie um Entschuldigung; aber Sie werden selbst zugeben müssen, Pawel Pawlowitsch, daß ich nach allem, was geschehen ist, mich Ihnen gegenüber in keiner Weise mehr verpflichtet zu fühlen brauche; ich sage das mit Bezug auf die ganze Angelegenheit und nicht mit Bezug auf den einen jetzigen Fall.«

»Nun ja, nun ja, warum sollten Sie sich verpflichtet fühlen?« versetzte Pawel Pawlowitsch schmunzelnd, blickte dabei jedoch zur Erde.

»Nun, wenn Sie ebenfalls dieser Ansicht sind, um so besser, um so besser! Trinken Sie Ihren Wein aus, und legen Sie sich hin; denn weglassen werde ich Sie trotzdem nicht . . .«

»Das kommt auf den Wein an . . .«, antwortete Pawel Pawlowitsch, anscheinend ein wenig verlegen, trat aber doch an den Tisch und trank sein schon lange eingegossenes letztes Glas aus.

Vielleicht hatte er schon, ehe er hingekommen war, viel getrunken; denn die Hand zitterte ihm, und er verschüttete einen Teil des Weines auf den Fußboden, auf sein Vorhemd und auf seine Weste; aber er trank doch das Glas bis auf den Boden aus, als könne er es schlechterdings nicht unausgetrunken lassen, stellte dann das geleerte respektvoll auf den Tisch und ging gehorsam zu seinem Bette hin, um sich auszuziehen.

»Wäre es nicht doch besser, wenn ich hier nicht 102 übernachtete?« fragte er auf einmal, als er schon einen Stiefel ausgezogen hatte und ihn in der Hand hielt.

»Nein, das wäre nicht besser!« erwiderte, ohne ihn anzusehen, Weltschaninow zornig, der immer noch unermüdlich im Zimmer auf und ab ging. Der andre zog sich aus und legte sich hin. Eine Viertelstunde darauf legte sich auch Weltschaninow hin und löschte die Kerze aus.

Eine innere Unruhe hinderte ihn lange, ordentlich einzuschlafen. Etwas Neues, wodurch die Sache noch mehr in Verwirrung gebracht wurde, war plötzlich von irgendwoher aufgetaucht und ängstigte ihn, und gleichzeitig fühlte er, daß er sich dieser Angst schämte. Endlich war er nahe daran, in Bewußtlosigkeit zu versinken, als ihn auf einmal ein Geräusch wieder erweckte. Er warf sogleich einen Blick nach Pawel Pawlowitschs Bette. Im Zimmer war es dunkel (die Gardinen waren ganz vorgezogen); aber es schien ihm, daß Pawel Pawlowitsch nicht lag, sondern sich aufgerichtet hatte und auf dem Bette saß.

»Was ist Ihnen?« rief Weltschaninow.

»Da war ein Schatten«, sagte Pawel Pawlowitsch, nachdem er eine Weile mit der Antwort gezögert hatte, mit kaum hörbarer Stimme.

»Was soll das heißen? Was für ein Schatten?«

»Dort, in jenem Zimmer, in der Tür, da war es mir, als ob ich einen Schatten sähe.«

»Wessen Schatten?« fragte Weltschaninow nach kurzem Stillschweigen.

»Den Schatten meiner verstorbenen Frau.«

Weltschaninow erhob sich, stellte sich auf den Teppich und blickte selbst durch das Vorzimmer nach jenem Zimmer hin, dessen Tür immer offen stand. Dort befanden sich an den Fenstern keine Gardinen, sondern nur Rouleaus, und daher war es dort viel heller.

»In jenem Zimmer ist nichts; Sie sind einfach betrunken; legen Sie sich nur wieder hin!« sagte Weltschaninow, legte sich hin und wickelte sich in die Bettdecke.

Pawel Pawlowitsch sagte kein Wort und legte sich ebenfalls hin. 103

»Haben Sie früher niemals einen Schatten gesehen?« fragte Weltschaninow auf einmal, erst zehn Minuten später.

»Einmal war mir so, als ob ich einen sähe«, erwiderte Pawel Pawlowitsch, ebenfalls nach einer Pause, mit leiser Stimme.

Dann trat wieder Stillschweigen ein.

Weltschaninow hätte nicht zuverlässig sagen können, ob er geschlafen hatte oder nicht; aber es war schon ungefähr eine Stunde seitdem vergangen, als er sich plötzlich wieder umdrehte: Ob ihn wieder ein Geräusch aufgeweckt hatte, das wußte er ebenfalls nicht; aber es schien ihm, daß mitten in der völligen Dunkelheit etwas vor ihm stand, etwas Weißes, das noch nicht ganz zu ihm hingelangt war, sich aber schon mitten im Zimmer befand. Er setzte sich im Bette aufrecht und blickte eine ganze Minute lang scharf hin.

»Sind Sie es, Pawel Pawlowitsch?« fragte er leise.

Seine eigene Stimme, die auf einmal in der Stille und Dunkelheit ertönte, kam ihm ganz sonderbar vor.

Es folgte keine Antwort; aber daran, daß da jemand stand, konnte kein Zweifel mehr bestehen.

»Sind Sie es . . . Pawel Pawlowitsch?« fragte er noch einmal lauter, sogar so laut, daß Pawel Pawlowitsch, wenn er ruhig in seinem Bette geschlafen hätte, unbedingt hätte aufwachen und Antwort geben müssen.

Aber es erfolgte wieder keine Antwort; wohl aber schien es ihm, daß diese weiße, kaum unterscheidbare Gestalt sich noch näher an ihn heranbewegte. Und nun begab sich etwas Sonderbares: Es war, als ob auf einmal etwas in seinem Innern zerrisse, genau so wie eine Weile vorher, und er schrie aus voller Kehle mit einer ganz wunderlichen, wütenden Stimme, die ihm fast bei jedem Worte versagte:

»Wenn Sie . . . Sie betrunkener Narr . . . sich einbilden sollten . . . daß Sie . . . mich erschrecken können, dann werde ich mich nach der Wand hin drehen, mich mit dem Kopfe einwickeln und mich die ganze Nacht über auch nicht ein einziges Mal umwenden . . . um Ihnen zu zeigen, 104 wie gering ich Sie achte . . . und wenn Sie bis zum Morgen da stehenbleiben . . . wie ein Narr . . . Ich spucke auf Sie! . . .«

Und er spuckte wütend nach der Seite des vorausgesetzten Pawel Pawlowitsch zu, drehte sich nach der Wand hin, wickelte sich, wie er gesagt hatte, in die Bettdecke und verharrte starr in dieser Haltung ohne sich zu rühren. Es trat eine Totenstille ein. Ob sich der Schatten heranbewegte oder an seinem Flecke stehenblieb, das konnte er nicht wissen; aber sein Herz pochte, pochte, pochte. Es mochten wenigstens volle fünf Minuten vergangen sein, da ließ sich auf einmal zwei Schritte von ihm entfernt Pawel Pawlowitschs schwache, höchst klägliche Stimme vernehmen:

»Ich bin aufgestanden, Alexej Iwanowitsch, um einen« (und er nannte ein notwendiges Hausgerät) »zu suchen; ich fand dort bei mir keinen . . . ich wollte ganz leise neben Ihnen nachsehen, bei Ihrem Bette.«

»Warum schwiegen Sie denn . . . als ich Sie anrief?« fragte Weltschaninow mit stockender Stimme, nachdem er eine halbe Minute gewartet hatte.

»Ich war so erschrocken. Sie hatten mich so angeschrien . . . ich hatte einen solchen Schreck bekommen.«

»Dort links in der Ecke, bei der Tür, in dem Schränkchen; stecken Sie das Licht an . . .«

»Es wird auch ohne Licht gehen . . .« erwiderte Pawel Pawlowitsch demütig und begab sich in die Ecke. »Verzeihen Sie nur, Alexej Iwanowitsch, daß ich Sie so beunruhigt habe; ich verspürte ganz plötzlich . . .«

Aber Weltschaninow gab ihm keine Antwort mehr. Er blieb mit dem Gesichte nach der Wand zu liegen und lag so die ganze Nacht über, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Ob er dadurch sein ihm gegebenes Wort erfüllen und ihm seine Geringschätzung bezeigen wollte – er wußte selbst nicht, was mit ihm vorging; seine nervöse Erregung ging schließlich beinah in Fieberphantasien über, und er konnte lange Zeit nicht einschlafen. Als er am andern Morgen zwischen neun und zehn Uhr erwachte, fuhr er in die Höhe, wie wenn ihm jemand einen Stoß versetzt hätte, und setzte 105 sich auf dem Bette aufrecht hin; aber Pawel Pawlowitsch war nicht mehr im Zimmer; es war nur das leere, ungemachte Bett zurückgeblieben; er selbst hatte sich schon vor Tagesanbruch leise davongemacht.

»Das hatte ich mir doch gedacht!« rief Weltschaninow und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.

 


 << zurück weiter >>