Fjodor Dostojewski
Der lebenslängliche Ehemann
Fjodor Dostojewski

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X

Auf dem Kirchhofe

Die Befürchtungen des Arztes bewahrheiteten sich, und Lisas Befinden verschlechterte sich plötzlich – in einem Grade, wie es Weltschaninow und Klawdija Petrowna am vorhergehenden Abende nicht für möglich gehalten hätten. Weltschaninow traf am Vormittage die Kranke noch bei Bewußtsein, obwohl sie im heißesten Fieber lag; er versicherte später, sie habe ihm zugelächelt und ihm sogar ihr glühendes Händchen hingestreckt. Ob das wahr war oder er es sich nur selbst unwillkürlich zu seinem Troste einbildete, das festzustellen fand er keine Zeit; zur Nacht war die Kranke schon ohne Bewußtsein, und dieser Zustand hielt während der ganzen Dauer der Krankheit an. Am zehnten Tage nach ihrer Übersiedelung nach dem Landhause starb sie.

Das war eine traurige Zeit für Weltschaninow; das Pogorelzewsche Ehepaar war sogar seinetwegen in rechter Sorge. Den größten Teil dieser schweren Tage brachte er bei ihnen zu. In den letzten Tagen von Lisas Krankheit saß er ganze Stunden lang allein irgendwo in der Ecke und dachte anscheinend an gar nichts; Klawdija Petrowna trat häufig zu ihm heran, um ihn zu zerstreuen; aber er antwortete wenig, und es fiel ihm offenbar mitunter schwer, mit ihr ein Gespräch zu führen. Klawdija Petrowna hatte gar nicht erwartet, daß »das alles auf ihn einen so starken Eindruck machen werde«. Am meisten zerstreuten ihn noch die Kinder; mit denen zusammen lachte er sogar manchmal; 106 aber fast allstündlich stand er vom Stuhle auf und ging auf den Zehen hin, um nach der Kranken zu sehen. Mitunter schien es ihm, als erkenne sie ihn. Hoffnung auf ihre Genesung hatte er so wenig mehr wie alle andern; aber von dem Zimmer, wo Lisa im Sterben lag, entfernte er sich nie weit und saß gewöhnlich im Nebenzimmer.

Einige Male entwickelte er übrigens auch in diesen Tagen auf einmal eine außerordentliche Tätigkeit: Er machte sich plötzlich auf, eilte nach Petersburg zu den Ärzten, bat die berühmtesten hinzukommen, und veranlaßte sie, eine gemeinsame Beratung abzuhalten. Die zweite und letzte derartige Beratung fand am Tage vor dem Tode der Kranken statt. Drei Tage vorher hatte Klawdija Petrowna mit Weltschaninow ernstlich über die Notwendigkeit gesprochen, endlich Herrn Trussozki irgendwo aufzutreiben; denn falls Lisa sterben sollte, könne doch die Beerdigung nicht ohne sein Beisein stattfinden. Weltschaninow murmelte zur Antwort, er werde an ihn schreiben. Da erklärte der alte Pogorelzew, er selbst werde ihn durch die Polizei aufsuchen lassen. Weltschaninow schrieb endlich eine Benachrichtigung in zwei Zeilen und brachte sie nach Pawel Pawlowitschs Logis bei der Kirche zu Mariä Fürbitte. Dieser war wie gewöhnlich nicht zu Hause, und Weltschaninow händigte den Brief der Wirtin Marja Syssojewna zur Übergabe ein.

Endlich starb Lisa, an einem schönen Sommerabend, bei Sonnenuntergang, und erst jetzt schien Weltschaninow wieder zu sich zu kommen. Als die Tote zurechtgemacht wurde, indem man ihr das weiße Sonntagskleid einer der Töchter Klawdija Petrownas anzog und sie im Saale mit Blumen in den gefalteten Händen auf den Tisch legte, da trat er zu Klawdija Petrowna hin und erklärte ihr mit funkelnden Augen, er werde jetzt sogleich auch »den Mörder« herbeiholen. Auf die Ratschläge, damit noch bis zum nächsten Tage zu warten, hörte er nicht, sondern begab sich unverzüglich nach der Stadt.

Er wußte, wo er Pawel Pawlowitsch antreffen würde; denn als er nach Petersburg gefahren war, um die Ärzte zu holen, 107 hatte er sich gleichzeitig danach umgetan. Mitunter hatte er in diesen Tagen die Vorstellung gehabt, wenn er der todkranken Lisa den Vater ans Bett brächte und sie seine Stimme hörte, so würde sie das Bewußtsein wiedererlangen; dann hatte er sich wie ein Verzweifelter aufgemacht, um ihn zu suchen. Pawel Pawlowitsch wohnte noch wie früher bei der Zimmervermieterin; aber dort nach ihm zu fragen war völlig zwecklos: »Er ist manchmal drei Nächte hintereinander nicht zu Hause«, hatte Marja Syssojewna berichtet; »und wenn er gelegentlich einmal in betrunkenem Zustande ankommt, so bleibt er kaum eine Stunde da und geht dann wieder davon; der Mensch ist vollständig verlottert.« Von einem Kellner aus dem Gasthause hatte Weltschaninow unter anderm erfahren, daß Pawel Pawlowitsch schon früher gewisse Mädchen am Wosnessenski-Prospekte zu besuchen gepflegt habe. Weltschaninow hatte diese Mädchen unverzüglich aufgesucht. Nachdem er sie beschenkt und traktiert hatte, hatten sich die Frauenzimmer sogleich auf ihren Gast besonnen, wobei ihnen als besonderes Merkmal der Trauerflor diente; übrigens hatten sie auf ihn gewaltig geschimpft, natürlich deswegen, weil er nicht mehr zu ihnen kam. Die eine von ihnen, welche Katja hieß, hatte sich anheischig gemacht, Pawel Pawlowitsch jederzeit ausfindig zu machen; denn er komme jetzt gar nicht weg von einer gewissen Maschka Prostakowa, und da gebe er ein Heidengeld aus, und diese Maschka (sie heiße eigentlich gar nicht Prostakowa, sondern Prochwostowa) habe sogar im Krankenhause gelegen, und wenn sie (Katja) nur wolle, dann könne sie sie sofort nach Sibirien spedieren lassen; sie brauche nur ein Wort zu sagen. Indes hatte ihn Katja damals doch nicht ausfindig machen können; sie hatte sich aber auf das Bestimmteste vermessen, es das nächste Mal zu erreichen. Auf ihre Beihilfe hoffte also Weltschaninow jetzt.

Sobald er nach der Stadt gekommen war (es war schon zwischen neun und zehn Uhr abends), verlangte er sogleich von der Besitzerin des Etablissements, sie solle ihm Katja mitgeben, bezahlte für deren Abwesenheit und begab sich 108 mit ihr auf die Suche. Er wußte selbst noch nicht recht, was er jetzt eigentlich mit Pawel Pawlowitsch vornehmen wollte: Ob er ihn für irgend etwas töten wollte, oder ob er ihn einfach suchte, um ihm von dem Tode seiner Tochter und von der Notwendigkeit seiner Beteiligung an ihrem Begräbnisse Mitteilung zu machen. Das Suchen war zunächst erfolglos: Es stellte sich heraus, daß Maschka Prochwostowa sich mit Pawel Pawlowitsch schon vor zwei Tagen überworfen hatte; auch hieß es, es habe irgendein Kassierer ihm »mit einer Fußbank ein Loch in den Kopf geschlagen«. Kurz, er war lange Zeit nicht zu finden; endlich (es war schon zwei Uhr nachts) stieß Weltschaninow beim Heraustreten aus einem unanständigen Hause, nach dem man ihn gewiesen hatte, plötzlich und unerwartet auf den Gesuchten.

Pawel Pawlowitsch, der vollständig betrunken war, wurde von zwei Damen nach diesem Lokale hingebracht; eine derselben hatte ihn unter den Arm gefaßt; von hinten aber folgte den dreien ein großer, stämmiger Mensch, offenbar ein Erpresser, der aus vollem Halse schrie und Pawel Pawlowitsch mit den furchtbarsten Drohungen überschüttete. Unter anderm schrie er, dieser habe ihn »ausgenutzt« und ihm sein Leben vergiftet. Es schien sich um eine Geldzahlung zu handeln; die Damen hatten eine schreckliche Angst und suchten eilig weiterzukommen. Pawel Pawlowitsch stürzte, sowie er Weltschaninow erblickte, mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu und schrie, als ob ihn jemand abschlachten wollte:

»Bruderherz, beschütze mich!«

Beim Anblick der athletischen Gestalt Weltschaninows verschwand der Erpresser augenblicklich; triumphierend streckte Pawel Pawlowitsch die Faust hinter ihm her und stieß ein Siegesgeheul aus. Da packte Weltschaninow ihn wütend bei den Schultern und begann, ohne selbst zu wissen warum, ihn mit beiden Armen so zu schütteln, daß ihm die Zähne klapperten. Pawel Pawlowitsch hörte sofort auf zu schreien und blickte mit der stumpfsinnigen Angst eines Betrunkenen seinen Peiniger an. Wahrscheinlich weil er nicht wußte, was er weiter mit ihm tun sollte, drückte 109 Weltschaninow ihn stark nieder und zwang ihn, sich auf einen neben dem Trottoir stehenden Prellstein zu setzen.

»Lisa ist gestorben!« sagte er zu ihm.

Pawel Pawlowitsch starrte, auf dem Prellstein sitzend und von einer der Damen gestützt, ihn immer noch unverwandt an. Endlich verstand er, und sein Gesicht sah auf einmal ganz verfallen aus.

»Gestorben . . .« flüsterte er mit einem seltsamen Gesichtsausdrucke vor sich hin. Ob er, betrunken wie er war, in seiner häßlichen, breiten Manier lächelte, oder ob sein Gesicht sich von irgendwelchem Affekte verzog, das konnte Weltschaninow nicht unterscheiden; aber einen Augenblick darauf hob Pawel Pawlowitsch mit Anstrengung seine zitternde rechte Hand in die Höhe, um sich zu bekreuzen; indes kam er damit nicht zustande, und seine zitternde Hand sank wieder herab. Nach einer kleinen Weile erhob er sich langsam von dem Prellstein, faßte nach seiner Dame und setzte, auf sie gestützt, wie selbstvergessen seinen Weg fort, als ob Weltschaninow gar nicht da wäre. Aber dieser packte ihn wieder an der Schulter.

»Begreifen Sie denn nicht, Sie betrunkener Unmensch, daß sie ohne Sie nicht einmal beerdigt werden kann?« schrie er keuchend.

Der drehte den Kopf nach ihm hin.

»Erinnern Sie sich . . . noch an den Fähnrich . . . von der Artillerie?« stammelte er stumpfsinnig mit schwerfälliger Zunge.

»Wa-a-as?« schrie Weltschaninow, schmerzlich zusammenzuckend.

»Sehen Sie, der ist der Vater! Suchen Sie den . . . damit er beim Begräbnis ist . . .«

»Sie lügen!« schrie Weltschaninow ganz außer sich. »Das sagen Sie aus Bosheit . . . Ich habe es doch gewußt, daß Sie diesen Hieb für mich in Bereitschaft hielten!«

Von sich selbst nicht mehr wissend, holte er mit seiner gewaltigen Faust über Pawel Pawlowitschs Kopfe aus. Noch einen Augenblick, und er hätte ihn vielleicht mit einem einzigen Schlage getötet; die Damen kreischten auf und 110 sprangen zur Seite; aber Pawel Pawlowitsch zuckte mit keiner Wimper. Eine geradezu tierische boshafte Wut verzerrte sein ganzes Gesicht.

»Wissen Sie wohl«, sagte er mit weit festerer Stimme, fast als ob er nicht betrunken wäre, »was man im Russischen eine . . . nennt?« (Hier bediente er sich eines gemeinen Ausdrucks, der sich im Druck nicht wiedergeben läßt.) »Na, dann scheren Sie sich zu der hin!«

Darauf riß er sich gewaltsam aus Weltschaninows Armen los, stolperte und wäre fast hingefallen. Die Damen ergriffen ihn und liefen diesmal, kreischend und Pawel Pawlowitsch beinah hinter sich herschleppend, davon. Weltschaninow folgte ihnen nicht nach.

Am andern Tage um ein Uhr mittags erschien in dem Pogorelzewschen Landhause ein sehr anständig aussehender Beamter von mittlerem Lebensalter, in Dienstuniform, und händigte der Hausfrau höflich ein an sie adressiertes Kuvert ein, mit dem Bemerken, es komme von Pawel Pawlowitsch Trussozki. In dem Kuvert befand sich ein Brief mit einer Einlage von dreihundert Rubeln und mit den notwendigen Papieren Lisas. Pawel Pawlowitsch schrieb kurz, sehr respektvoll und in höchst anständiger Form. Er dankte Ihrer Exzellenz sehr für die Teilnahme und die Wohltaten, die sie der kleinen Waise erwiesen habe, und die ihr nur Gott vergelten könne. In unklaren Ausdrücken erwähnte er, daß eine ernste Krankheit ihm nicht erlaube, persönlich bei der Beerdigung seiner zärtlich geliebten, unglücklichen Tochter zugegen zu sein; er setze in dieser Hinsicht all seine Hoffnungen auf die Engelsgüte Ihrer Exzellenz. Die dreihundert Rubel waren, wie er im weiteren Verlaufe des Briefes erläuterte, zur Beerdigung und überhaupt zur Deckung der durch die Krankheit verursachten Kosten bestimmt. Sollte von dieser Summe etwas übrigbleiben, so bitte er ganz ergebenst und respektvoll, das Geld zu Totenmessen für das Seelenheil der entschlafenen Lisa zu verwenden. Der Beamte, der den Brief überbrachte, war nicht imstande weitere Mitteilungen zu machen; aus einigen Äußerungen desselben ergab sich sogar, daß er es nur auf 111 Pawel Pawlowitschs dringende Bitten übernommen habe, den Brief Ihrer Exzellenz persönlich zu übermitteln. Herr Pogorelzew fühlte sich durch den Ausdruck »zur Deckung der durch die Krankheit verursachten Kosten« beinah beleidigt und beabsichtigte, nur fünfzig Rubel für die Beerdigung zurückzubehalten, da man es einem Vater nicht wohl verwehren könne, sein Kind zu beerdigen, die übrigen zweihundertfünfzig Rubel aber Herrn Trussozki sofort zurückzusenden. Klawdija Petrowna gab dann die endgültige Entscheidung dahin, es sollten ihm nicht die zweihundertfünfzig Rubel zurückgeschickt werden, sondern eine Quittung der Friedhofskirche über den Empfang dieses Geldes zu Totenmessen für Lisa. Die Quittung wurde dann Weltschaninow eingehändigt, damit er sie dem Vater ungesäumt zustelle; er sandte sie diesem durch die Post nach seiner Wohnung.

Nach der Beerdigung verschwand er aus dem Landhause. Ganze zwei Wochen lang trieb er sich allein und ohne jeden Zweck in der Stadt umher und rannte in seiner Versunkenheit gegen die Leute an. Manchmal lag er ganze Tage lang bei sich zu Hause auf dem Sofa ausgestreckt und vergaß die gewöhnlichsten Dinge. Pogorelzews schickten oftmals zu ihm und luden ihn ein hinzukommen; er versprach es und vergaß es sofort wieder. Klawdija Petrowna kam sogar selbst zu ihm gefahren, traf ihn aber nicht zu Hause. Ebenso ging es auch seinem Rechtsanwalt; und dabei hatte dieser ihm eine wichtige Mitteilung zu machen: Es war ihm durch seine Geschicklichkeit gelungen, dem Prozesse eine günstige Wendung zu geben, und die Gegner hatten sich zu einem gütlichen Vergleiche bereit erklärt, wenn ihnen ein sehr unbedeutender Teil der strittigen Erbschaft als Abfindung zugebilligt werde. Es brauchte nur noch Weltschaninows eigene Zustimmung eingeholt zu werden. Als der Rechtsanwalt ihn endlich zu Hause traf, war er erstaunt über die außerordentliche Mattigkeit und Gleichgültigkeit, mit der sein noch vor kurzem so unruhiger Klient ihn anhörte.

Die heißesten Julitage waren herangekommen; aber Weltschaninow vergaß sogar die Zeit. Sein Gram steckte ihm 112 schmerzhaft in der Seele wie ein reifendes Geschwür und machte sich ihm alle Augenblicke in qualvollen Gedanken fühlbar. Sein größtes Leid bestand darin, daß Lisa ihn nicht mehr kennengelernt hatte und gestorben war, ohne zu wissen, wie innig er sie liebte! Sein ganzer Lebenszweck, der vor seinem geistigen Auge in so frohem Lichte aufgeschimmert war, war plötzlich wieder in ewige Finsternis versunken. Dieser Lebenszweck hatte (er dachte daran jetzt fortwährend) speziell darin bestanden, daß Lisa täglich, stündlich und lebenslänglich seine Liebe empfinden sollte. »Einen höheren Lebenszweck hat kein Mensch und kann kein Mensch haben!« sagte er jetzt manchmal in düsterer Begeisterung zu sich selbst. »Wenn es auch noch andere Lebenszwecke gibt, so kann doch keiner von ihnen heiliger sein als dieser! Die Liebe zu Lisa«, so malte er sich das in seinen Träumereien aus, »hätte mein ganzes früheres ekelhaftes, zweckloses Leben gereinigt und wieder gutgemacht; statt meiner, eines müßigen, lasterhaften, verlebten Menschen, hätte ich ein reines, schönes Wesen für das Leben herangezogen, und um dieses Wesens willen wäre mir alles verziehen worden, und ich selbst hätte mir alles verziehen.«

Alle diese Gedanken, soweit er sich ihrer deutlich bewußt war, waren immer untrennbar verbunden mit der klaren, ihm immer nahen, ihn immer ergreifenden Erinnerung an das gestorbene Kind. Er vergegenwärtigte sich ihr blasses Gesichtchen und rief sich jeden Zug desselben ins Gedächtnis zurück: Er erinnerte sich auch an sie, wie sie mit Blumen geschmückt im Sarge und vorher fieberglühend, bewußtlos, mit offenen, starren Augen in ihrem Bette gelegen hatte. Es fiel ihm auf einmal ein, daß er, als sie schon auf dem Tische lag, bemerkt hatte, daß eines ihrer Fingerchen während der Krankheit schwarz geworden war; das hatte ihn damals so stark ergriffen und dieses arme Fingerchen hatte ihm so leid getan, daß ihm gleich damals zum ersten Male der Gedanke durch den Kopf gegangen war, Pawel Pawlowitsch unverweilt aufzusuchen und totzuschlagen; denn bis dahin war er fast bewußtlos gewesen. Hatte gekränkter Stolz dieses Kinderherz gequält oder die drei Monate währenden 113 Mißhandlungen von seiten eines Vaters, der auf einmal seine Liebe mit Haß vertauscht, sie mit schändlichen Worten gekränkt, über ihre Angst gespottet und sie zuletzt fremden Leuten hingegeben hatte? Alle diese Fragen wälzte er beständig im Kopfe umher und variierte sie auf tausenderlei Art. Er erinnerte sich auf einmal an den Ausruf des betrunkenen Trussozki: »Wissen Sie auch wohl, was Lisa für mich gewesen ist?« und fühlte, daß dieser Ausruf keine Verstellung, sondern Wahrheit gewesen war, und daß da wirkliche Liebe zugrunde gelegen hatte. »Wie konnte aber dieser Unmensch so grausam gegen das Kind sein, das er doch so liebte? Ist das überhaupt möglich?«

Aber er ließ diese Frage jedesmal schnellstens wieder fallen und beschäftigte sich absichtlich nicht mit ihr; es lag in dieser Frage für ihn etwas Furchtbares, etwas Unerträgliches, ein unlösbares Rätsel.

Eines Tages kam er auf seinen Wanderungen (er wußte selbst nicht recht, wie es zugegangen war), auf den Kirchhof, auf dem Lisa begraben war, und suchte ihr Grab auf. Seit der Beerdigung war er noch kein einziges Mal auf dem Kirchhofe gewesen; er hatte immer die Vorstellung gehabt, die Qual würde für ihn gar zu groß sein, und hatte nicht gewagt hinzugehen. Aber merkwürdig: Als er sich auf ihr kleines Grab niederbeugte und es küßte, da wurde ihm auf einmal leichter ums Herz. Es war ein klarer Abend, und die Sonne ging gerade unter; ringsum auf den Gräbern wuchs saftiges, grünes Gras; nicht weit davon summte in einem wilden Rosenstrauche eine Biene; die Blumen und Kränze, die die Kinder und Klawdija Petrowna nach der Beerdigung auf dem Grabhügel niedergelegt hatten, lagen noch halbentblättert da. Zum erstenmal nach so langer Zeit erfrischte sogar eine Art von Hoffnung ihm das Herz.

»Wie leicht einem hier ums Herz wird!« dachte er, indem er die Stille des Kirchhofs mit Genuß empfand und zum reinen, ruhigen Himmel emporblickte.

Es war ihm, als ob sich ein Strom reinen, kindlichen Glaubens an etwas in seine Seele ergösse.

»Das hat mir Lisa gesandt; sie redet mit mir«, dachte er. 114

Es war schon ganz dunkel geworden, als er sich vom Kirchhofe auf den Heimweg machte. Nicht sehr weit vom Kirchhofstore befand sich am Wege in einem niedrigen Holzhause eine Art Garküche oder Schankwirtschaft; durch die offenen Fenster konnte man die Gäste an Tischen sitzen sehen. Da schien es ihm plötzlich, als ob einer von ihnen, der dicht an einem Fenster saß, Pawel Pawlowitsch sei und ihn ebenfalls sehe und ihn durch das Fenster neugierig betrachte. Er ging weiter und hörte bald, daß ihn jemand einzuholen suchte; derjenige, der hinter ihm her lief, war wirklich Pawel Pawlowitsch. Offenbar hatte Weltschaninows versöhnlicher Gesichtsausdruck ihn gelockt und ermutigt, als er ihn durch das Fenster beobachtet hatte. Sobald er ihn eingeholt hatte, lächelte er schüchtern; aber es war nicht mehr das frühere betrunkene Lächeln; er war sogar überhaupt nicht betrunken.

»Guten Tag!« sagte er.

»Guten Tag!« erwiderte Weltschaninow.

 


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