Paula Dehmel
Singinens Geschichten
Paula Dehmel

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Von der gelben Blume

Line wollte Pfingstruten haben, um die Stube damit auszuputzen. Ich ging an den See welche schneiden; ich weiß, wo die jungen Birken stehn.

Da sah ich im Schilf eine große gelbe Blume wachsen; die wollte ich erst holen. Ich zog Schuhe und Strümpfe aus und ging ins Wasser. Als ich hinkam, war es aber keine Blume, sondern ein ganz kleines Mädchen in einem gelben Kleidchen; die hatte eine goldene Schürznadel und machte damit Netze aus dünnen Schilfstreifen. Ich sah zu, wie sie die Netze aufs Wasser warf; sie blinkten in der Sonne wie Gold.

Was tust du da? fragte ich. Das kleine Mädchen sah mich mit ihren hellen Augen an: Siehst du nicht die kleinen Wellen? Die wollen spielen, für die schürze ich die Netze; sieh, wie sie hüpfen! Und sie warf wieder ein goldenes Netz über den See.

Die Wasserkinderchen spielten damit in der Sonne und zogen das Flechtwerk hin und her. Wie das zuckte und flimmerte! Das ganze Wasser sah aus wie lebendig.

Jetzt nahm die Kleine ihre goldene Schürznadel hoch in beide Hände und lief blitz-blitz über die goldenen Netze weg. Die Wasserkinderchen kicherten und streckten ihre Fingerchen aus nach dem gelben Mädchen. Sie war aber flinker, und husch – war sie drüben; ich konnte sie nicht mehr sehen.

Als ich mich umdrehte, wuchs wieder die große gelbe Blume im Schilf, und ich wollte sie abpflücken. Sie stand aber da, als wenn sie träumte; da tat sie mir leid, und ich ließ sie stehen. Dann ging ich und schnitt Pfingstruten.

Zu Hause fragte mich Line: Ist das Birkenmännchen nicht böse geworden, daß du seinen Töchtern die Haare abgeschnitten hast? Ich hatte aber kein Birkenmännchen gesehen.


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