Paula Dehmel
Singinens Geschichten
Paula Dehmel

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Von den Masern und der Königsfamilie

Vorige Woche bekam ich die Masern, aber es tat nicht weh. Blos Durst hatte ich immerzu. Ich lag im Bett und brauchte garnichts lernen. Dann kam Tante Kätchen aus Berlin und brachte mir einen wunderschönen Bilderbogen zum Ausschneiden: ein König und eine Königin waren dadrauf gemalt, und ein Prinz und eine kleine Prinzessin. Ich schnitt sie alle mit Mutters Stickschere aus, und es machte mir viel Spaß.

Der König hatte eine gestickte Uniform an mit viel Gold darauf; und die Königin ein ausgeschnittenes, sehr feines Kleid mit einer langen Schleppe, die trug ein Hoffräulein hinter ihr her. Für den Prinzen war ein weißes Pferdchen zum Reiten da, das hatte eine rote Schabracke an und Goldfransen in der Mähne; und die Prinzessin bekam einen weiß lackierten kleinen Wagen mit einem Eselchen davor.

Es war alles sehr niedlich, und Taute Kätchen half mir die schweren Sachen ausschneiden, wie zum Beispiel die Krone von dem König und den Spitzenfächer der Königin. Sie zeigte mir auch, wie ich die Puppen in die Holzklötzchen stecken muß, damit sie stehen können.

Da war auch eine Gouvernante und ein Lakai auf dem Bilderbogen; meine Finger taten mir ordentlich weh von all dem Ausschneiden, aber das schadet nichts, ich habe mich sehr mit den Puppen gefreut. Onkel Joachim sagte zwar, solche Königsfamilien gibts blos im Märchen; aber drum gefallen sie mir erst recht. Alle Tage habe ich mit ihnen gespielt. Der Prinz heißt Edgar und die Prinzessin Sylphe; der Lakai Jean und die Gouvernante Miß Piepenbrink.

Der König und die Königin saßen immer auf meinem Kopfkissen, das war der Thron, und regierten ihr Land; und Miß Piepenbrink gab den Kindern Stunde. Wenn sie nichts wußten – das kam manchmal vor –, tippte sie ihnen mit dem Lineal auf die Finger; mehr Strafe dürfen doch ein Prinz und eine Prinzessin nicht bekommen. Nachher durften sie auf der großen Wiese hinter dem Schlosse ausfahren und ausreiten und mußten alle Leute grüßen, die vorübergingen; so machen es die vornehmen Leute immer.

Jetzt sind die Masern wieder gut, und ich bin auf und bin angezogen, aber aus der Stube darf ich noch nicht; erst nächsten Sonntag, hat der Doktor gesagt.


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