Paula Dehmel
Singinens Geschichten
Paula Dehmel

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Vom lieben Gott und vom Lügen

Ich glaube, ich habe heute den lieben Gott gesehen. Vater meint zwar, Gott ist ein Geist, und man kann ihn blos fühlen; aber ich glaube, ich habe ihn doch gesehen.

Er saß in einer sehr roten Wolke, grade über dem Birkenwäldchen. Um ihn her flogen lauter rosa Wölkchen, die sahen alle wie kleine Engelchen aus.

Der liebe Gott hatte einen Bart, der flackerte wie Feuer, und sein Kleid loderte auch.

Er sah mich streng an, und ich fürchtete mich, weil ich gestern wieder gelogen hatte. Er drohte mir mit dem feurigen Schwert, grade wie der Erzengel Michael in unsrer großen Bibel mit den Amethystschlössern, und es grollte am Himmel, als wenn's donnerte.

Ich faltete schnell meine Hände und sagte: Vater unser, der du bist im Himmel. Da nickte mir der liebe Gott mit seinem schönen feurigen Bart zu und ritt auf der roten Wolke weiter bis fast an die Sonne. Die kleinen Wolken um ihn herum wurden nun immer roter und roter, und die Engelchen ritten darauf wie auf Schaukelpferdchen und lachten mir zu.

Plötzlich saß der liebe Gott mitten drin in der Sonne, aber ohne das schreckliche Schwert, und hatte ein Gesicht so schön und lieb wie Mutter, wenn sie wieder gut ist. Nun war er mir gewiß auch wieder gut.

Und aus ihm heraus kamen große Strahlen, die reichten über die ganze Welt.

Da faltete ich wieder die Hände und sagte: Geheiligt werde dein Name, zu uns komme dein Reich. Und die Engelskinder in den Wolken sangen leise Hallelujah, und ich sang im stillen mit.

Mir war ganz selig, und ich will auch gewiß nicht mehr lügen.


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