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Meine teuern Verwandten

Ein Verwandter ist ein Mann,
Der immer schimpfen, niemals helfen kann.

Ja also die Tant' Marie. Die Tant' Marie wäre die erste, denn sie ist nicht nur etwas, sondern sie hat auch etwas. Sie hat das Vermögen, auf das wir warten. Aber wie alle Dinge mit dem Tod aufhören, so muß auch diese Geschichte mit der Erbtante aufhören: erst zuletzt tritt Freund Hein lächelnd auf. Vorher, zu allererst muß die Schwiegermutter kommen. Nicht nur des Ranges wegen, sondern auch wegen … Nun, meine Schwiegermutter ist nämlich unsterblich.

Ich habe überhaupt noch nie bemerkt, daß eine Schwiegermutter gestorben ist, so wenig man einen toten Spatzen findet. Es gibt so viele Spatzen auf der Welt, alle Gäßchen haben ihre Völker; aber das Hinwelken muß unter der größten Unmerklichkeit aller Beteiligten geschehen, man merkt nichts, sie leben ewig. Josef Maria, der Familienlump – nebenbei der einzig genießbare Verwandte – und ich werde von ihm noch zu handeln haben. Josef also sagte zu ihr: »Großmama,« sagte er, »Sie sind wie der liebe Gott!« Sie schob die Hände vor ihre bauchige Nordwand und lächelte fragend. »Sie sind wie der liebe Gott,« fuhr er fort, »denn Sie sind immer da, Sie waren immer und werden immer sein!« »Gehn's, wirklich?« fragte sie geschmeichelt. Sie glaubte es. Und das war, wie ich mich erinnere, der einzige Fall, wo sie nicht beleidigt war. Sonst ist sie immer beleidigt. Ich habe sie zart behandelt, ich habe sie rauh behandelt, ich kroch vor ihr, ich floh vor ihr – sie war immer beleidigt: sie suchte in jedem Wort eine versteckte Spitze, wie man Sandkörner in einem Badeschwamm sucht. Sie hat auch den wirksamen Abgang aller Beteiligten, indem sie die Bindbandeln energisch ums Kinn knüpft und die feierliche Versicherung ausstößt: »Mich seht ihr niemals wieder!« Auch körperlich drückt sie das, und zwar nie unfeierlich, aus. Der Rückenabsturz oder die Südwand meiner Schwiegermutter gleicht nämlich dem Ende einer Suppenhenne, die ihr Leben lang immer mehr gegackert als gelegt hat: es ist dies eine Strotzung der beim Abglanz sichtbaren und imponierenden Organe, eine Aufplusterung, die der Abziehenden den Sieg sichert.

Es ist das einzig Schöne, wenn sie beleidigt ist und schwört, daß sie längere Zeit nicht wieder kommt. Das ist mein Urlaub. Meine Erholung vom Leben. Man vertraut ihrem Eid und hofft. Leider aber ist sie versöhnlich. Sie kommt wieder. Stört meine Erholung. Und heischt dafür nach meiner Dankbarkeit! Wenn sie wiederkommt – das ist am nächsten Tag – und die Wohnung betritt, die sie auf ewig meiden wollte, macht sie zuerst mit dem Zeigefinger unmerklich einen Beistrich aufs Klavier und sieht den Zeigefinger an. Dann macht sie einen Beistrich unterm Kasten und sieht den dürren Zeigefinger wieder an. Das ist die Staubprobe.

Auch für die Staubprobe muß ich ihr dankbar sein. »Ihr werdet mich einst noch aus dem Grab kratzen!« versichert sie beharrlich. Allein der dicke Efeu, der von sorgender Hand auf Schwiegermuttergräber gepflanzt ist, die schweren Steine mit vier eisernen Ringen, die darauf lasten, zeigen keine Spur von Kratzen. Niemand hat je gekratzt, wo eine Schwiegermutter lag – ich frage alle Anwesenden – und so glaube ich, daß auch meine Frau Aglaja und ich niemals es tun werden. Aber sie hofft doch darauf. Hofft, sage ich! Sie erzählt von den schlaflosen Nächten, die sie zugebracht hat – und man muß dankbar sein; sie erzählt von ihren Verdiensten bei Tag – und man muß dankbar sein; für jede Erziehungswatschen, die sie Aglaja einst heimlich versetzte, müssen wir uns verbeugen; und was Goethe von einer schönen Geliebten sagt, gilt auch von ihr (abzüglich der Schönheit): »... und ihre Gunst bleibt immer Gnade und du mußt immer dankbar sein …«

Aber sie muß doch ahnen, daß es mit dem Kratzen nichts sein wird, denn sie stellt sich öfter unter die Lampe, wirft die Achseln und haucht gekränkt: »Man hat ja keinen Dank …!« Das sagt sie dann, wenn sie einen gerettet hat. Und sie hat immer jemanden gerettet. Gewöhnlich vom Rande des Abgrundes oder aus einer Lebensgefahr, meistens aus einem Familienzusammenbruch (wo man gerufen hätte: Endlich! Gott sei Dank! Sie bricht!). Oder sie hat jemanden aus einem ungeheuren städtischen Skandal gerettet oder sonstwie vom plötzlichen Tod. Sie ist die geborene Retterin; aber sie hat keinen Dank dafür. Sie kommt mir vor wie eine Flöte im Orchester. Man meint nur, die Flöten seien die schwächsten Instrumente. O nein, das meint man nur. Die Flöten sind die stärksten, sie dringen immer durch. Und so ist meine Schwiegermutter besonders bei der Familienberatung, einer Festlichkeit, die an Aufheiterungsreizen nur von einem anderen Fest, vom Familienausflug, übertroffen wird.

Das »vom Tod retten« ist überhaupt ihr Fall. Medizin versteht sie aus dem FF. Woher, weiß ich nicht. Aber sie versteht es. Ihre Wissenschaft muß bis auf Theophrastus Bombastus zurückgehen, vermute ich, oder auf den Lehmpastor, der alle Leute mit Lehm kuriert hat, oder auf eine alte kluge Vorfahrerin zur Zeit des Tacitus. Ich vermute nur. Jedenfalls ist es ein Zeichen von Intuition, wenn man eine Sache beherrscht, ohne sich erst mit ihr befaßt zu haben. Sinnend steht die Schwiegermama am Familienkrankenbett, prüft den Fall und schüttelt das Haupt. »Da können mir hundert Ärzte kommen und mir sagen, was sie wollen – mir wird doch niemand was lernen!« Und es hat ihr auch niemand was »g'lernt«. Man merkt es. Ihre medizinischen Ratschläge würden, wenn man sie anwendete, alle Doktores unmöglich machen, auch alle anderen Menschen bis auf den Totengräber und es wäre ein göttliches Wunder, wenn noch einer am Leben bliebe. Als unser Minnerl krank war, und durch Operation gerettet wurde, kam die Schwiegermutter und suchte den Operateur durch Leinsamenköcheln abzutreiben und zu verdächtigen, nämlich nachdem die Minnerl schon gesund war. »Wenn ich nur dagewesen wäre!« Sie seufzte es und dachte an die Wunder, die ihre Leinsamenköcheln gewirkt hätten. Wage und Thermometer haßt sie. Alle Mütter erziehen ja ihre Kinder auf Mast, sie wiegen die Kinder und thermometrieren sie. Und diesen Instrumenten bringt die Schwiegermama einen religiösen Haß entgegen, denn sie kann ihnen nicht widersprechen. Aber sie widerspricht ihnen doch. Die einzige unbestrittene ärztliche Autorität ist bei ihr die Hebamme. Vor der Hebamme beugt sie sich, die Madame ist ihre Gottheit. Besonders wenn die Madame im Nebenamt auch noch Karten aufschlagen kann, und es wäre unseren Primarärzten zur Stärkung ihres Ansehens zu raten, das Kartenaufschlagen nachzulernen. Josef, der Familienlump (wie schon nebenbei bemerkt, der einzige angenehme Verwandte), hat die Schwiegermama auch noch Blinddarm oder Wurmfortsatz getauft, offenbar in Anlehnung an ihre medizinische Kunst. Ich fragte ihn einst: »Josef, warum nennen Sie diese ehrwürdige Dame eigentlich Wurmfortsatz?« »Ja,« antwortete er, »weil sie immer gereizt ist und man nicht weiß, wozu sie da ist.«

Meine Frau Aglaja hat sich's mit der Schwiegermutter gründlich verschüttet, und zwar durch Ankauf einer neuen Bluse. Ankauf einer neuen Bluse deutet auf Verschwendung, auf Prassen mit dem Familiengeld. Überhaupt wäre die neue Bluse in ihrer Wirkung auf die Verwandtschaft noch genauer zu prüfen. Die neue Bluse erweckt meistens Haß und löst nur bei meinem erotischen Großonkel Ferdl angenehmere Leidenschaften aus, die sich in Tatschelbewegungen äußern. (Der Großonkel Ferdl ist der mit dem Schnauzbart, der immer die nassen Busseln gibt.) Aglaja ist also seitdem eine Verschwenderin. Auch darum, weil sie Wintersocken nicht anstrickt. Weil sie die Uhr beim Uhrmacher hat. (»Das macht man selbst.«) Und vor allem, weil sie das Fleisch teurer zahlt. Damals nämlich, zur Schwiegermutterzeit, kostete das Kilo vierzig Kreuzer, und die Schwiegermutter, die sieht, daß Aglaja das Zwei- und Dreifache bezahlt, murmelt aufgebracht. Sie murmelt etwas wie »Geld hinauswerfen, aufs Pflaster streuen«. Endlich schließt sie ihre Betrachtung mit der Erinnerung: »Ich war auch einmal jung, war auch einmal eine junge Frau, aaaber …« Man hört's und will es nicht glauben. Sie aber hebt die Handflächen hoch, wie wenn sie etwas weit weg schieben wollte: »Ich misch' mich grund sätzlich in nichts ein, grund sätzlich; aber das muß ich euch schon sagen …« Und sie bohrt mit dem spitzen Zeigefinger ein Loch in diesen Grundsatz. Sie mischt sich auch niemals in unsere Angelegenheiten ein, das ist wahr, aber sie stiert in unseren Kasten herum, schaut in unseren Laden nach, auch wenn sie zugesperrt sind, und schüttelt den Kopf über Kasten und Laden und eine solche Verschwendung: »Ihr müßt ja zu Grunde gehen!« Und wieder bekommt sie Rettungsgefühle. Dann geht sie von hinnen und erzählt. Sie erzählt den anderen die Familienverhältnisse. Das einzige, was aus der Familie hinausgetragen wird, ist das absolut Familiäre. Und sie freut sich, wenn sie's angebracht hat. Sie geht und klagt der Familie Meierl. Und die Familie Meierl hört tief ergriffen zu, voll echter menschlicher Teilnahme. »Ja, meine Tochter hat's schlecht getroffen! Ja, wenn meine Tochter auf mich gehört hätte! Aber Kinder hören ja nicht auf einen!! Heiratet die Ihnen einen Schreiber …!« Alle Töchter haben es nämlich schlecht getroffen und, damit keine Ausnahme sei, die Söhne auch. Die Heirat wird nie verziehen. Die Heirat erweckt frisch auflodernden Urhaß, und wenn der reichste Graf in die ärmste Familie geheiratet hat, so ist die Schwiegermama doch beleidigt, weil er sie schlecht grüßt und alle anderen sind beleidigt, weil nicht alle anderen den Grafen heiraten konnten. Aber »ich misch mich grund sätzlich in nichts ein …«

Man wird bemerkt haben, daß hier offenbar nicht mehr von einer, sondern schon vom zwei oder mehreren Schwiegermüttern die Rede ist. Daß sich die Umrisse verwischen, die vorhin so scharf gezeichnet wurden, daß die Dichtung undeutlich wird. Das aber kommt davon her, daß es in jeder Familie mehrere solche Wurmfortsätze, solche Prachtstücke gibt, die immer beleidigt, immer ohne Dank sind, und immer aus dem Grab gekratzt werden wollen. Man heiratet ja nicht eine Person, sondern eine Familie. Die Braut kann nie allein geheiratet werden, sondern wie die Juristen sagen: nur cum sua causa. Die Braut ist in ihre Familie eingewachsen, so eingefilzt wie die Schweifchen eines Rattenkönigs untereinander. Man bringt sie nicht heraus. Man sieht sich dann plötzlich einer Menschenmenge gegenüber, die von drei Tröpferltanten angeführt wird: es ist dies die Hauptschwiegermutter mit ihren Schwestern. Sie treten auf jeder Seite, auf der männlichen und der weiblichen, zu Dreien auf wie die Hexen im Macbeth, wie die Parzen, die Nornen, die Erinnyen und ähnliche sympathische historische Damen. Es ist eine Triplizität der Erscheinungen und man hat dann sein ganzes Leben lang Zeit, darüber nachzudenken, welche die elendigere ist.

Nur der Neuling glaubt, er heiratet die Frau allein. Wie es wirklich ist, das bemerkt man erst später. Bei der Hochzeit bemerkt man noch gar nichts. Bei der Hochzeit hat der Bräutigam nur kreidig und heldenmütig zu lächeln, sonst wehe ihm. Man wird glauben, ich treibe auf. Ich treibe aber nicht auf. Ich könnte mich auf einen Kronzeugen berufen. In den Haindlkindern, meinem Lieblingsroman, wird es ja lebendig geschildert, dieses Hochzeitswesen. Ja, recht lebendig. Nach der Natur. »Es ist ein Triumphzug der ganzen Weiberschaft«, heißt es da, »wobei das Schlachtopfer von Mann mit der Farbe eines alten Gorgonzola zur Stätte geschleppt wird. … Ist dann das Schlacht- und Metzelfest vorüber, so drängt alles gratulierend herbei, aus guten Gründen aber nur zur Braut. Der arme Bräutigam steht in der Ecke, unbeachtet wie ein Spucknapf, von niemandem bemerkt, außer von dem, der ihn umtritt …« Das hat Rudolf Hans Bartsch geschrieben. Und mein verehrter Freund Bartsch muß es doch wissen, denn er ist selbst – ich meine, er ist … seither ein berühmter Dichter geworden. Vom Ferkel unterscheidet den Bräutigam eben gar nichts, er kann seinen Jammer nur quieken, wie jenes, wenn es abgestochen wird.

Ich möchte bemerken, daß viele Personen durch die Ehe Dichter geworden sind: sie singen eben wie ein gelangweilter Vogel im Käfig. Ja, ich meine überhaupt – Dichter wird man am sichersten durch die Ehe. Nur durch die Ehe. Alle Poren des Lebens, bitte, sind verstopft, und was man nicht erleben kann, das fängt man zu besingen an …

Ja, es wäre eine schöne Lichtseite der Schwiegermama, wenn Einer durch sie zum Dichter würde. Möglich ist es. Nur wer leidet, dichtet gut. Verzweiflung ist der Quell der Poesie. Der Schwiegervater steigert schwerlich einen Menschen zum Poeten. Meiner kann es nicht, denn er ist gestorben. Das ist nämlich bei Schwiegervätern so: sie sind meistens mehr oder weniger gutmütig. Wenn sie mehr gutmütig sind, dann sind sie entweder Lappen oder tot. Die Schwiegermutter aber ist unsterblich!


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