Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die »Vzadld«

Es lag, glaubt mir, damals eine schwere Zeit über unserer Stadt. Wie eine unheilschwangere Regenwolke lag das. Harmlose Mitbürger, die bisher keine Ameise zertreten konnten, sondern sie mit zwei Fingern ins Gebüsch retteten, standen brütend mit Bleistiften im Stadtpark und schauten finster um sich, und wem immer man ins Antlitz blickte, dessen Auge rollte in holdem Wahnsinn. Überall Dichteraugen, es rollte und rollte … Die Blutrosen, die Stahlblüten, die Panzerveilchen, die Feuerfrühlinge sproßten und schossen empor, wohin man trat, trat man auf poetische Blüten, es war ein lyrisches Paradies wehrhafter Verse.

Wenn man jemanden fragte, wie viel Uhr es sei, griff er in die Tasche und zog ein Manuskript hervor. Nasentropfentanten, Zahnärzte und Schreibmaschinenagenten, bisher nur im dramatischen Fach gefürchtet, warfen sich in die Gärten der Lyrik, und ich saß seufzend an meinem Redaktionstisch. Ich fürchtete die allzu freundlichen Aufschriften. Die dicken Briefe – »An den hochgeehrten Herrn …« – waren die lyrischen; die weniger höflichen, etwa »Sie Heuochs!«, betrafen die letzte Theaterkritik. Ich war wehrlos gegen die sich häufenden Stöße von eisernen Wächtern, hellen Trommlern, Fahnenschwingern, Vivatrufern, Bombenreitern und ließ sie staubig werden, denn kaum hatte ich ein Dutzend Bombenwerfer und Vivatschreier abgetragen, wuchs ein neues nach, und endlich sank mir das Haupt auf die Brust: O Liliencron, Liliencron, köstlicher Erfinder des Wortes Piplipip; Alles, was die Kriegstrompeter schmetterten, es war in deinem Sinne nichts als Piplipip … Was Abhandlungen im literarischen Echo, wozu Studien und Zitate? Das eine Wort genügte: Piplipip!

Als es immer ärger wurde, schloß ich mich mit Gleichgeplagten zusammen und gründete die »Vzadld«. Ja, es ist etwas schwer auszusprechen. Am Tag, wo ich den ersten Brief erhielt, buchstabierte meine Frau die Aufschrift: »Präsident der Vzadld.« »?« »Das heißt, liebe Aglaja«, sagte ich, »Verein zur Abwehr deutscher lyrischer Dichter. Man liebt es jetzt, aus Anfangsbuchstaben neue Worte zu bilden. Sie klingen etwas indianisch, das ist richtig, aber sie helfen Zeit sparen und sind ein Fremdwortersatz. Etwas muß der Mensch doch haben, das er den Engländern nachmacht. Sie haben damit angefangen …«

»Aber,« entgegnete Aglaja, »es ist undeutlich. Man könnte glauben, es heißt: Verein zur Abwehr dummer lyrischer Dichter …? »Kann es auch,« erwiderte ich matt. »Du wirst aber sehen, Aglaja, es hilft. Organisation ist das einzige Mittel, um die leider immer auseinanderstrebenden Kräfte der Welt zu einem Ganzen zu binden, um aus vielen Gedanken einen zu machen.«

Es lag ja auch etwas Rührendes darin. »Einmal in seinem staubigen Leben lebte jeder des Genius glühende Stunde, die Seelenstürme eines Rosenschöpfers, ahnte vielleicht nicht, daß er aus seinen Hirnfurchen alte, vergrabene Wortzeilen ausgrub und wieder aneinanderreihte; aber er war einmal aus sich herausgehoben, in Pein nach dem gesuchten, in Verzückung über den gefundenen Reim, und indem er wähnte, zu dem allgemeinen Rausch auch noch sein Sonderräuschchen stärkend zugießen zu müssen, fühlte er sich als Gott. Gönnen wir ihnen den Gott!« – So sprach ich in der ersten Sitzung unseres jungen Vereines, um auch die andere Seite zu beleuchten. (Leider bin ich eine nachsichtige Natur, es tut mir weh, die Gegenseite ganz niedergedonnert zu sehen, und so muß ich mich immer am Schopf halten, um nicht zu ihr hinüberzurutschen.) »Lassen wir sie also dichten –« »Nur schicken sollen sie's nicht,« warf ein älteres, verärgertes Mitglied mit einem Turmschädel und Gnomenbart ein. »Meinetwegen sollen sie dämonisch sein, so oft sie können, nur daß wir ihre Dämonien lesen sollen, daß sie sie gedruckt sehen wollen, das ist –«

»Nun ja …«

*

In dieser Zeit begab es sich, daß Großonkel Ferdl mit dem Schnauzbart, den ich schon lange nicht gesehen hatte, eines Tages in meinem Bureau erschien. Er führte an der Hand einen kleinen, schwarzlockigen Knaben in einem reizenden feldgrauen Anzug, an dessen Kragen sich die zwei Zelluloidsterne des Korporals befanden. Ich fuhr etwas überrascht auf, aber er zog sich sogleich zurück, sichtlich beleidigt – »O, bitte, wir wollen nicht stören« – und es blieb mir nichts übrig, als um Entschuldigung zu bitten und ihn hereinzunötigen. (Es ist heute immer so: Wenn du gestört wirst, mußt du dich entschuldigen.) Großonkel Ferdl zog sein Taschentuch und nahm an dem kleinen Korporal mit liebevollem Hinabneigen einen der zärtlichsten Hilfsdienste vor, die man an kleinen Nasen öfter vornehmen muß – wie alt konnte er sein? Höchstens dreieinhalb oder vier – und sagte dann zu ihm: »Gib schön die Hand dem garstigen Onkel!« Aber Ludomir, so hieß das Enkelchen, gab nicht das Händchen, sah mich vielmehr mit einem Blick an, aus dem ich fast auf literarische Abneigung geschlossen hatte. Ich schien gewogen, gezählt und zu leicht befunden zu sein. Ich aber war es schon gewöhnt, es schien mir gleichsam ein Kollegenblick. Mein Gott, da hatten mir Unbekannte Lobeshymnen geschrieben, hatten um meine Handschrift ersucht und behauptet, sie hätten sich zu Tod gelacht (bei meinen komischen Sachen nämlich) – allein, es war mir aufgefallen, daß sich um meine Handschrift nie ein Kollege beworben hatte, und der einzige von ihnen, der behauptete, gelacht zu haben, hatte meine pathetische Prosa gemeint. Diesen Blick also schien Ludomir – – doch ich wies den fliegenden Verdacht von mir. Wie denn! Ein Dreikäsehoch, ein Kücken – –!

Großonkel Ferdl schien über die Verlegenheitspause hinwegkommen zu wollen und zog ein weißes Papier aus der Tasche. Ich sprang auf, näherte mich der Tür –: »muß ich vielleicht –?« Aber der Großonkel wehrte verletzt lächelnd ab. Er gab mir das Papier in die Hand. »Wir bitten um dein ungeschminktes Urteil …!«

Das lyrische Gedicht war da. Ein Beitrag. »Ode an den Grenadier.« Um Gotteswillen.

Ich las.

Mit leuchtendem Lächeln folgte Großonkel Ferdl meinen Augen, bei jedem Strophenende nickte er verzückt: »Nicht wahr?« Und als ich fertig war: »Also, was sagst du?! Ist das nicht – –«, er setzte seinen Zwicker auf, – ich bitte:

Die Welt durchzieht ein Frühlingshauch,
Der Grenadier liegt auf dem Bauch.
Die Veilchen sprießen aus dem Rasen,
Er mußt sein Leben lasen. –

»Großonkel,« sagte ich (und nahm alle Routine zusammen), »Großonkel, großartig. Und das soll ein vierjähriger Knirps – bitte, entschuldigen – das soll – –?«

Sein Gesicht zog sich in eine geschmeichelte Falte, er wiegte den Kopf: »Nun, wenn du von einer kleinen Nachhilfe, du kennst mich, absiehst, ich möchte sagen, bloß die formelle Seite – die Gedanken, die Hauptsache sind von –«

»Nein, großartig,« fuhr ich fort, »das ist so gut, daß es schade wäre, es hier – hier, in der Provinz – nein – ich bitte dich – es wäre ja vergraben für immer« – ich sah noch einmal in das Papier – »nein, nein; du mußt die Dichtung, das bist du seinem Talent schuldig – an –«

»– an die ›Neue Freie Presse‹ schicken – fiel er mir rasch ins Wort, »nicht wahr? Oder an das ›Berliner Tageblatt‹! Das hab ich mir auch schon gedacht! Natürlich. Und dann bekommst du's zum Zweitdruck –!« (Dieser Adler schien mir nicht geschenkt zu werden.) »Ja, unser Ludomir …« Er trat einen Schritt weg und bewunderte ihn. »Mit drei Jahren hat er schon –« – er machte eine abtuende Handbewegung gegen meinen Schreibtisch, dieser Plunder schien wie weggeblasen durch Ludomirs Geisteshauch – »Gott, ganze Bibliotheken –! Solche Oden machte er drei an einem Tag!«

Da stand ich nun, wieder einmal geschlagen, abgesetzt, erledigt. Was hatte ich mich strapaziert, was nach dem richtigen Eigenschaftswort gefahndet, was hatte ich gebessert, gestrichen, umgepflügt, und mein Acker blieb dürr und unfruchtbar! Da stand der Genius. Aus seinem Acker schoß es empor. Mühelos schuf er. Es wurde ihm zugerufen, wie es Nietzsche zugerufen wurde, als er den Übermenschen schrieb, zu Genua. Immer dachte ich an Thomas Mann: ein Schriftsteller ist, wem das Schreiben besonders schwer fällt. Ja, ja. Ich seufzte. »Also ›Neue Freie Presse‹!« entschied ich noch einmal; »›Neue Freie Presse‹, unbedingt!«

Großonkel Ferdl näherte sich mir und sagte aufquellend: »Das ist Urbegabung! Ich sage dir –« (seine Stimme senkte sich, damit Ludomir nicht zu stolz werde: »ein Wunderkind. Ein literarisches Wunderkind. Offenbar im Druck dieser Zeit entstanden, wie Kristalle im Berginnern entstehen, herausgepreßt aus den tausend Sehnsuchtskräften unserer Epoche, die dem befreienden Seelenkünder entgegenharrt. Es ist etwas messianisches in ihm. Unglaublich, wie intuitiv Ludomir die Literatur kennt, wie er alles neu sieht – nun, sag schön, Ludomir, was hältst du von unserer Literatur, sag –?«

Ludomir hob sich in den Hüften und sagte mit der Festigkeit des Erlebthabens: »Die deutsche Literatur beginnt im Jahre 1889. Alles frühere ist Quatsch!«

»Nun ja, Ludomir. Aber Goethe, Goethe –?«

»Goethe,« kam es prompt aus diesem kleinen Prophetenmund, »Goethe ist im zwanzigsten Jahrhundert geboren und –«

Er brach ab, man sah, ich war ihm zu dumm; er, warf mir einen Kollegenblick zu und entfernte sich mit Großonkel Ferdl.

Ich stürmte davon. Herz und Hirn kreisten mir schwindelnd. »Meine Herren,« rief ich im Kreis von Vzadld, »wir müssen an stärkere Abwehrmaßregeln denken, ich ziehe alles zurück: jetzt fangen schon die Säuglinge an!«

Das verärgerte Mitglied mit dem Gnomenbart brummte mich an: »Überhaupt, die ganze Organisation taugt nichts. Seit wir den Abwehrverein haben, dichten sie erst recht. Das ist überhaupt merkwürdig in dieser Zeit: je emsiger man ein Ziel verfolgt, desto sicherer kommt das Gegenteil heraus. Wenn wir lyrische Luftleere haben wollen, müssen wir einen Verein zur Förderung deutscher kriegerischer Dichtung gründen.«

Allein, das war nicht ernst zu nehmen. So setzte ich mich denn hin und dichtete, in Übereinstimmung mit der Mehrheit, eine Abwehr-Ode. Ich brachte sie unter schweren Hemmungen zustande. Ludomir schwebte mir immer vor. Ludomirs göttliche, mozartische Leichtigkeit, seine mendelssohnsche Eleganz. Ich leide immer unter den Talenten der andern. Ich durfte nicht daran denken, mußte Ludomirs Bild gewaltsam ausschalten und so entstanden dann einige kümmerliche Verse:

Das Kriegsgedicht.

O Krieg, o Krieg, o böser Krieg,
Was reimst du dich auf Sieg, auf Sieg?
Wer früher ganz prosaisch dacht',
Der hat es jetzt herausgebracht,
Und mit dem neuesten Gedocht
Er laut an uns're Pforte pocht.

Schon häufet sich auf Schrank und Tischen
Ein hoher Sieg von weißen Wischen;
Doch echter Kriegesreimerei
Ist dies, glaubt mir, nur einerlei.
Der Onkel reimt, die Tante reimt,
Der Säugling und die Amme leimt,
Und ist dann Vers an Vers gepickt,
So ist der Dichter hochentzückt.

Es reimt sich Heldenblut mit Gut
Und Wut mit grünem Federhut,
Es reimt sich Hand und Band und Wand
Mit Vaterland und allerhand.
Und endlich reimt sich Schlachtentod
Auf Rosarot und Patriot.

Ach ja: es fehlt uns manches hier,
Doch nicht den Dichtern an Papier.
Verteuert ist der Rinder Schmalz,
Man braut die Biere ohne Malz,
Und daß der Mangel völlig sei,
Fehlt auch Tabak und Mehl und Ei.
Doch stets ist da im Überfluß
Das Kriegsgedicht mit Zuckerguß.

Und siehst du nicht, auf eins, zwei, drei
Entsteht die Schlachtenreimerei.
Die Batterie die Feinde mäht,
Noch schneller ist der Schnellpoet.
Der Krieger achtet auch den Feind,
Dem Dichter dies nicht nötig scheint.
Und jeder will gedruckt sich seh'n
Und jeder will ganz vorne steh'n:
Es ist bestrebt und gierig
Der Dichter neuer Lyrik.

Nicht hochdeutsch und nicht Dialekt
Den echten Reimerich erschreckt.
In Jamben und im Anapäst –
Nur immer vorwärts, immer fest!
Und fehlt auch hie und da ein Fuß,
Was macht das, marsch! man muß!
Die Zeit der großen Versepflicht
Erlaubt des Dichters Schweigen nicht.

Und dennoch sind sie so bekannt
Wie ein gewendetes Gewand;
Die Verse, die den Helden preisen,
Es sind die selben, alten Weisen:
So pries man einst den Jubilar
Im still ergrauten Ehrenhaar,
Den Onkel feierte man so,
Mitunter auch den Histrio:
Begeisterung vor dem Spiegel steht
Und mit der Schere Locken dreht
Und nun, da Mars das Jahr regiert,
Wird die Frisur rasch umfrisiert.

Der aber dies Gedicht gewagt,
Der hat es selber sich gesagt,
Daß unnütz ist sein stürmisch Grollen:
Sie tun ja dennoch, was sie wollen,
Und wenn du sprichst: o reime nicht –
So machen sie drauf ein Gedicht.
Und donnert vorne das Schrapnell,
So fleußet hinten der kastalsche Quell. –
O Krieg, o Krieg, o böser Krieg,
Was reimst du dich auf Sieg, auf Sieg …!
Der Friede wär schon längst gekommen
Zu aller Menschen Nutz und Frommen,
Doch zögert er und kommt noch nicht:
Er fürchtet sich vor dem Gedicht …

Die Ode erschien in meinem Blatt. Aber der Verärgerte im Gnomenbart hatte recht, nur zu sehr. Jetzt lernte ich kennen, was Fleiß, was Begeisterung heißt. Ein Wildbach von weißen Manuskripten in dicken Hüllen stürzte strudelnd in die Redaktion, er schien sich über Nacht bei den Türen, bei den Fenstern herein ergossen zu haben, schien aus den Mauern zu sprudeln, von der Decke herabzuregnen – die Regenwolke über der Stadt war geborsten– die Lyrik trat aus ihren Ufern und ersäufte, was sich nicht rettete. Ich floh. Ich ließ die Vzadld im Stich, nahm einen Urlaub, um die Wassergüsse abzuschütteln, um aus dem trüben Kanal von Abfallversen und öligen, alten Reimen wieder an ein rettendes Ufer, ans grüne Land der Vernunft zu kommen. Ich reiste ab.

*

Als ich zurückkam und morgens wieder mein Bureau aufsuchen wollte, stieß ich an der Straßenecke unversehens mit Großonkel Ferdl zusammen.

»Ah, Großonkel, wie geht's? Was macht unser Nietzsche –?«

Aber Ferdl, der sonst die nassen Busseln gibt, erwiderte meinen Gruß nicht. Er ging mit zusammengepreßten Lippen weiter. War er denn böse? An der Ecke sah er sich wütend um: »Daß du es nur weißt! Ludomir verachtet dich. Ich kenne keine ›Neue Freie Presse‹ mehr, kenne kein ›B. T.‹, und deine Zeitung mit deinen Gedichten kannst du selbst lesen – –!«


 << zurück weiter >>