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Vierzehntes Kapitel.

Alexandra richtete mit Hilfe ihrer Schwester alles auf das behaglichste für Magdalene ein und sah mit Spannung ihrer Ankunft entgegen. Würde sie das Herz Magdalenens gewinnen?

Es war in später Stunde, als die Erwartete eintraf. Alexandra schloß sie liebevoll in ihre Arme und führte sie dann auf ihr Zimmer. Als sie dort allein waren, sagte Magdalene mit thränenden Augen:

»Ich fügte dir so viel Leid zu und kränkte dich so tief, daß ich kaum wagte, zu euch zu kommen!«

»Weil du mich verkanntest. Das alles ist längst vergeben und vergessen, mein armes, liebes Kind!«

Aber Magdalene beruhigte sich noch nicht. Angstvoll fragte sie aufs neue:

»Kannst du mich denn immer noch lieben, die ich doch den Tod meines Kindes verschuldet habe?«

»Das ist nicht wahr!«

»Doch, doch –« Magdalenens Stimme dämpfte sich zu unheimlichem Flüstern. »Würdest du denn das nicht auch gethan haben, wenn du einen Mann so geliebt hättest, wie ich Harald liebte, und so unglücklich gewesen wärest?«

»Nein! – Und du thatest es ebenfalls nicht, Lene.«

»Doch! Harald sagte, er könne das Leben an meiner Seite nicht mehr ertragen. Das waren furchtbare Worte, die ich nicht vergessen konnte. Sie brannten wie Feuer in meiner Seele. Ich dachte, er würde sich ein Leid anthun, und da wollte ich lieber selbst in den Tod gehen. Lange, lange saß ich an dem Waldteich, fest entschlossen, den nächsten Morgen nicht zu erleben. Aber da spielte Hänschen vor mir im Grase und ich sagte mir: Eine gute Mutter verläßt ihr Kind nicht!«

»Und dann?«

»Dann weiß ich nichts mehr. Wenn ich zurückdenken will, senkt es sich wie tiefes Dunkel herab. Als ich wieder erwachte, war Hänschen im Teich ertrunken, und mich Armseligste unter den Armseligen dieser Erde ließ man nicht mit dem Kinde sterben. Mich rief man wieder zum Bewußtsein des unsäglichsten Elends zurück.«

Sie sprang auf und schritt händeringend im Zimmer auf und ab. Es währte lange, ehe Alexandra die Verzweifelte, von bittersten Selbstvorwürfen Gequälte beruhigen konnte.

*

Mehr noch als an die Stiefmutter schloß sich Magdalene allmählich an Leonore an, welche vorläufig nebst Christine in dem Landhäuschen blieb.

Wöchentlich kamen Feldern, seine Gemahlin, Kurt und Major von Hillern zu Besuch. Die Kinder hielt man fern, um Magdalene vor traurigen Eindrücken zu bewahren.

Leonore hatte immer eine tiefe Abneigung gegen Lene gefühlt, jetzt aber siegte das Mitleid über diese Empfindung. Auch meinte sie, Kurt liebe die verlassene Gattin seines Bruders immer noch, und es gewährte ihr eine schmerzlichsüße Befriedigung, zu thun, was in ihren Kräften stand, um der Schwermütigen Interesse an Welt und Leben wieder zu wecken.

Es war ein rührendes Bild, wenn beide nebeneinander saßen oder Arm in Arm durch den Garten gingen. Das Mädchen blühend-schön, die Frau so blaß und zart, daß sie kaum noch dieser Welt anzugehören schien.

Nach Harald fragte sie nie mehr, und man vermied es, seinen Namen vor ihr auszusprechen, wohl aber war es ihre Lieblingsbeschäftigung, sich mit Hänschens Sachen, die sie verlangt hatte, zu schaffen zu machen, jedes Röckchen und Mützchen zärtlich zu streicheln und das kleine Schaukelpferd, sowie die anderen Gegenstände, die einst sein jubelndes Entzücken erregten, immer wieder sorgfältig zu verpacken.

»Tröste dich doch endlich, Lene,« bat Leonore. »Sieh, der Kleine ist ein schöner, seliger Engel geworden, und du bist ja nicht die einzige Mutter, die ihr Teuerstes verlor. Hänschen starb nach Gottes Ratschluß. In seinen Willen mußt du dich finden. Was er will, ist wohlgethan, auch wenn wir mit unserem kurzsichtigen Menschenverstand seine Wege nicht verstehen können.«

»Er starb, weil ich eine Verzweifelte war. Ich bin eine schlechte Mutter gewesen. Wer sagte mir denn schon früher einmal, daß ich es sei? Ich kann mich nicht darauf besinnen –«

Wieder fuhr sie sich über die Stirn, als verursache ihr jedes Nachdenken Schmerzen.

Betrübt verstummte auch die freundliche Trösterin und trat, um ihre Bewegung zu verbergen, ans Fenster.

Horch! – Waren das nicht Hufschläge? Leonore eilte in den Garten! Es war Kurt, der eben aus dem Walde auf die Dorfstraße einlenkte.

»Wie geht's, Fräulein Lorchen?« fragte er, als er abgestiegen war.

»Ach, schlecht,« erwiderte sie, die Frage auf Lene beziehend. »Sie ist wieder so unruhig. Wenn man ihr nur Trost und Frieden bringen könnte!«

»Den wird die Unglückliche hienieden wohl nicht mehr finden.«

»Ich sinne unablässig auf Mittel, sie von ihren grausamen Selbstvorwürfen zu befreien. Und da kam mir vorhin ein Gedanke, aber –«

»Sprechen Sie ihn aus! Ihrer gütigen, reinen Seele entstammend, kann er nur segensreich sein.«

Seine Augen ruhten so ernst und doch mit einem solchen Ausdruck tiefempfundener Liebe auf ihr, daß sie ihr Herz erbeben fühlte. War es denn möglich, daß sich noch erfüllen sollte, was sie seit langer Zeit so heiß ersehnte, aber zu hoffen kaum gewagt hatte? In scheuer Hilflosigkeit suchte sie seinem Blick auszuweichen, während eine rosige Glutwelle ihr liebliches Gesicht überflutete.

»Nun, Fräulein Lorchen, wollen Sie mir den guten Gedanken nicht anvertrauen?«

»Er wird schwer auszuführen sein,« erwiderte sie zaghaft, »doch könnten wir wohl den Versuch machen. Ich glaube, daß der liebevoll tröstende Zuspruch eines Geistlichen Magdalene wohlthun würde.«

»Darin pflichte ich Ihnen bei. Aber wir müßten die Begegnung mit Magdalene möglichst unauffällig herbeiführen.«

»Doch wie könnte das geschehen?«

»Sie stellen sich die Möglichkeit vielleicht zu schwer vor! Der hiesige Dorfpfarrer ist mir seit Jahren befreundet. Er ist ein gütiger, warmfühlender Herr, der sein Leben in den Dienst der Armen und Verlassenen gestellt hat. An meine Besuche ist Magdalene gewohnt, und es wird ihr, denke ich, nicht auffallen, wenn ich einen alten Freund mitbringe, den ich wie zufällig getroffen habe.«

»Das wäre wohl möglich,« meinte Leonore lebhaft.

Kurt reichte ihr freundlich die Hand und verabschiedete sich von ihr, um den Pfarrer aufzusuchen. Er traf den ehrwürdigen Greis zu Hause an, der auch keinen Augenblick zögerte, Kurt zu begleiten, nachdem er gehört hatte, um was es sich handelte.

Als Leonore Kurt mit dem Geistlichen kommen sah, eilte sie zu Magdalene, um sie auf den unerwarteten Besuch vorzubereiten.

»Kurt ist gekommen,« sagte sie, liebevoll ihren Arm um die Schultern der unglücklichen Frau legend, »und bittet um die Erlaubnis, dir einen alten, lieben Freund vorstellen zu dürfen.«

Magdalene antwortete nicht. Mit ihren großen Augen starrte sie das junge Mädchen an, als wolle sie auf dem Grunde ihrer Seele lesen, was dieser Besuch zu bedeuten habe. Fast mechanisch schloß sie den Schrank zu, der ihre Schätze barg, immer den Blick auf Leonore geheftet, die sich das rätselhafte Wesen Magdalenens nicht zu deuten wußte und erleichtert aufatmete, als Kurt mit dem Geistlichen eintrat.

Der Oberförster war gerade im Begriff, Magdalene zu begrüßen und den Geistlichen mit ihr bekannt zu machen, als Magdalene einen lauten Angstschrei ausstieß und den Versuch machte, aus dem Zimmer zu fluchten. Aber schon stand der Pfarrer vor ihr und sagte mit freundlicher Milde:

»Wenn Ihnen mein Besuch nicht gelegen ist, dann gehe ich wieder.«

Die gütige Stimme des Greises drang an Magdalenens Herz. Heiße Thränen lösten sich aus ihren Augen, und als der Pfarrer mit väterlicher Herzlichkeit ihr leise über das Haar strich, wurde sie ruhiger und folgte seinen Worten mit sichtlicher Teilnahme. Als aber der Geistliche im Laufe des Gesprächs die Frage an sie richtete, warum sie nie das schön gelegene, friedliche Kirchlein besuche, bemächtigte sich ihrer wieder eine gewisse Erregung.

»Nein,« sagte sie, scheu an ihm vorbei blickend, »ein Gotteshaus darf ich nicht mit einer solchen Schuld auf dem Gewissen betreten!«

Kurt und Leonore verließen in unauffälliger Weise das Zimmer und gingen in den Garten hinaus, während der Pfarrer in seiner milden Art Magdalene zu beruhigen versuchte. Doch wenn es ihm auch gelang, sie zu einer Schilderung der Ereignisse jenes Tages, an dem das Unglück geschehen war, zu veranlassen, den Glauben an ihre Schuld vermochte er ihr nicht zu nehmen.

»Sie erinnern sich,« sagte er liebevoll, »der begleitenden Umstände, die den Tod ihres Söhnchens herbeiführten, nur unklar und bezichtigen sich trotzdem einer Schuld, die, wie ich überzeugt bin, nur in Ihrer Einbildung besteht.«

»Ich hing an ihm mit unendlicher Liebe, aber gerade deshalb wollte ich Hänschen auf dieser Welt nicht allein zurücklassen. Lange habe ich mit mir gerungen, aber je mehr ich gegen den unseligen Gedanken ankämpfte, um so stärker wurde die Gewißheit in mir, daß es keinen anderen Ausweg gebe als den Tod. Und als ich endlich den Entschluß gefaßt hatte, da schrie es in mir: Nimm ihn mit! Dann wurde es finster um mich.«

Ihre Stimme war zu einem leisen Flüstern herabgesunken, und als sie geendet, erschütterte ein heftiges Schluchzen ihren zarten Körper. Voll unsäglichen Mitleids nahm der Geistliche die Hände der Unglücklichen in die seinen.

»Und sollten Sie es wirklich gethan haben«, sagte er milde, »so giebt es einen gütigen Vater im Himmel. Sie handelten in einem Augenblick der Verzweiflung. Gott verzeiht Ihnen die unbewußt vollbrachte That.«

»Ich danke Ihnen! – Sie meinen es gut mit mir. Aber wenn ein Engel vom Himmel käme, um mir des Allmächtigen Vergebung zu bringen, meine Schuld würde nicht geringer vor mir.«

Der Geistliche sah ein, daß seine Bemühungen vergeblich waren, und verabschiedete sich mit dem schmerzlichen Bewußtsein, daß menschliche Hilfe hier nutzlos sei.

»Es ist unmöglich«, sagte er zu dem Oberförster, der ihn draußen mit Leonore erwartete, »dieser todeswunden Seele Linderung zu bringen. Nur ein Höherer kann helfen.«

Langsamen Schrittes verließ der Geistliche den Garten.

Finster sah Kurt eine Weile vor sich hin. Dann kam es grollend über seine Lippen:

»Wenn ich bedenke, daß er, an dem ich mit so inniger Liebe hing, all dieses Elend verschuldet hat, ich könnte ihn mit diesen meinen Händen –«

Er kam nicht weiter. Eine kleine Hand faßte seine zornig geballte Rechte.

»Es giebt Menschen,« sagte Leonore mit ruhiger, bittender Stimme, »die auch einer ehrlichen Entrüstung nicht mehr würdig sind. Jahre meines Lebens würde ich darum geben, läge es in meiner Macht, Magdalene gesund zu machen. Solange sie meiner bedarf, soll sie nicht allein stehen. Als treue Schwester und Pflegerin bleibe ich ihr zur Seite.«

In des Oberförsters Augen leuchtete es auf.

»Und Sie wollen dieses Opfer auf sich nehmen?«

»Sie steht mir nahe,« erwiderte Leonore, leicht errötend. »Wohl gab es eine Zeit, wo ich an sie nicht ohne Bitterkeit denken konnte. Aber diese Zeit ist vorüber.«

Mit einem Blick, in dem sich das warme Gefühl widerspiegelte, das ihre Worte in ihm hervorgerufen, umfaßte der Oberförster ihre schlanke Gestalt. Schon öffneten sich seine Lippen zu der Frage, die zu stellen er bisher sich stets gescheut hatte, als plötzlich wieder der alte Zweifel in ihm aufstieg und ihm den Mund verschloß.

Aber wenn auch die Frage ungesprochen blieb, deutlicher als Worte sprachen seine Augen. In holder Verwirrung blickte Leonore zu Boden, als blende sie der Strahl warmer Liebe, der ihr aus seinem Blick entgegenleuchtete. Wortlos ließ sie es geschehen, daß er das Sträußchen nahm, das ihre zitternden Finger umschlossen hielten, wortlos duldete sie es, daß er zum Abschied ihre Hand an seine Lippen zog. Sie wußte es jetzt, daß ihre Liebe erwidert wurde, und ein bisher ungekanntes Gefühl beglückender Seligkeit gab ihr die innere Ruhe wieder.

In ihrem Sinnen wurde sie durch die alte Christine gestört, die mit einer hauswirtschaftlichen Frage an sie herantrat. Zerstreut gab sie ihr Bescheid und begab sich dann ins Haus, um nach Magdalene zu sehen.

Magdalene lag auf einer Ottomane und hatte eine schwere Decke über sich gebreitet. Sie fröstelte jetzt immer, und selbst an heißen Tagen vergaß sie nie, ein Tuch um die Schultern zu legen, wenn sie ins Freie ging.

Leonore strich ihr sanft über die Stirn und fragte sie, ob sie nicht etwas schlafen wolle. Aber Magdalene schüttelte leise den Kopf.

»Ich kann nicht schlafen,« murmelte sie. »Wenn ich die Augen schließe, stürmen immer wieder alle die unseligen Bilder auf mich ein. Ich sehe den Felsen und die glühenden Rosenbüsche, ich sehe Hänschen und den Waldteich, ich sehe – ach,« unterbrach sie sich plötzlich und sprang empor, »ich muß hinfahren und den Waldteich noch einmal sehen!«

Leonore suchte ihr den Gedanken auszureden, aber es war vergebens. Mit dem ganzen Starrsinn ihres Wesens hielt sie daran fest, und auch Feldern, der mit seiner Gattin Tags darauf zum Besuch kam, vermochte nicht, sie in ihrem plötzlichen Entschlusse wankend zu machen.

Der Professor beunruhigte sich in hohem Maße darüber. Er fürchtete, Magdalene würde durch den erneuten Anblick der Unglücksstätte nur noch unruhiger werden.

»Widersprich ihr nicht,« sagte Alexandra ernst. »Du machst ihre Aufregung dadurch nur schlimmer. Magdalene würde sich wie eine Gefangene vorkommen, wollten wir sie, ihrem Wunsche entgegen, hier zurückhalten.«

»Aber ohne Aufsicht darf sie nicht reisen!«

»Davon ist auch keine Rede. Leonore und ich werden sie begleiten, und auch Christine kann mitfahren. Ich verspreche dir, sie nicht aus den Augen zu lassen.«

Nur ungern gab der Professor nach, aber er konnte sich den überzeugenden Gründen Alexandras nicht verschließen. So traten denn die Damen und die alte Dienerin die Reise an, begleitet von den besten Wünschen der Zurückbleibenden.

Magdalene gab keinen Anlaß zu irgendwelchen Befürchtungen. Sie weinte ab und zu wohl leise vor sich hin, war aber im allgemeinen ruhig und gefaßt. Je näher sie aber dem Ziel der Reise kamen, umsomehr wuchs ihre Erregung.

Mit grellem Pfeifen hielt der Zug vor der Halle der kleinen Bahnstation, und Magdalene öffnete ungeduldig die Coupeethüre.

»Willst du nicht meinen Arm nehmen?« fragte Leonore.

»Nein, nein, laßt mich!«

Mit raschen Schritten schlug sie den wohlbekannten Weg ein.

Schweigend folgten ihr die Schwestern und Christine, sorgsam bemüht, in ihrer Nähe zu bleiben.

»Jetzt kommen wir gleich an die Mühle,« flüsterte Alexandra. Doch in demselben Augenblick wandte sich Magdalene nach rechts und schlug einen kleinen Waldweg ein.

»Wohin willst du?« rief Alexandra besorgt.

»Dorthin, wo ich zuletzt mit Hänschen war,« lautete die in fliegendem Atem bestimmt gegebene Antwort.

»Sie meint den Teich!« flüsterte Christine erregt.

»Nein, nein,« beruhigte Alexandra sie, »nur das Plätzchen, wo sie so oft und gern mit dem Kleinen weilte.«

Sie vermochten der rasch dahin Eilenden kaum zu folgen.

»Wäre nur Kurt bei uns!« raunte Leonore der Schwester zu. »Mir ist, als ob jeden Augenblick ein großes Unglück geschehen müßte.«

»Nur Ruhe!« mahnte Alexandra, »Ruhe und Besonnenheit!« Dabei fühlte sie selbst eine namenlose Todesbangigkeit, und das Herz klopfte ihr zum Zerspringen.

Immer näher kamen sie dem Waldteich. Auch Alexandras mutige Zuversicht begann zu schwinden, als sie jetzt, den schnurgeraden Waldweg entlang blickend, das stille Wasser schimmern sah. Sie ließ die Augen nach allen Seiten schweifen, ob nicht jemand in der Nähe wäre, der helfend beispringen könnte. Aber es war niemand da. Nur ein kleines Mädchen lauerte, Beeren sammelnd, am Wegrande und wünschte den Damen freundlich guten Tag. Als das Kind jedoch Magdalene sah, sprang es mit einem Rufe des Schreckens empor und eilte hinweg.

Leonore aber rief der Kleinen einige beruhigende Worte zu. Hätte man sie gefragt, warum sie dies that, sie wäre um die Antwort verlegen gewesen. Es war, als ob eine Ahnung ihr sagte, daß dieses Kind Magdalene den Seelenfrieden wiedergeben könnte. Liebreich sprach Leonore auf sie ein, und es gelang ihr auch bald, das Kind zu beruhigen. Nur seine Augen hafteten angstvoll auf Magdalene, die verwundert stehen geblieben war und die Kleine anstarrte.

»Warum erschrecktest du, als du uns sahst, mein Kind?« fragte Leonore ängstlich.

»Vor Ihnen habe ich keine Angst,« sagte die Kleine, »nur vor der toten Frau dort.«

»Was sprichst du nur, mein Kind? Die Dame lebt ja doch.«

»Sie lebt? Aber ich habe ja doch selber gesehen, wie sie ins Wasser gesprungen ist.«

Ein gellender Schrei klang durch den Wald. Magdalene hatte ihn ausgestoßen. Jetzt schritt sie mit wankenden Knieen auf das Kind zu und rief mit vor Aufregung heiserer Stimme:

»Was hast du gesehen?«

Aengstlich schmiegte sich das Kind an Leonore an, aber gleichzeitig sagte es, und es klang fast trotzig:

»Ja, ich habe es gesehen, wie die Frau ins Wasser sprang.«

»Was sahst du?«

Die Kleine sann einen Augenblick nach und erzählte dann stockend:

»Ich war an jenem Tage am Waldteich – der Vater hatte es mir zwar verboten, dorthin zu gehen! – ich und die Dame dort, und dann war auch noch ein kleiner Junge da, der auf der Wiese herumsprang, während die Dame auf einem großen Stein saß und schlief. Der kleine Junge wollte etwas fangen – einen Vogel, dachte ich zuerst. Aber dann sah ich, daß es ein Frosch war, und rief hinter einem Busch hervor: ›Du fängst ihn nicht!‹ Und der Junge rief wieder: ›Ich fange ihn doch!‹ und lief hinter ihm her bis dahin, wo die Wasserlilien stehen. Dort bückte er sich, um ihn zu haschen, und fiel dabei ins Wasser. Ich schrie auf und sah nur noch, daß die Frau emporsprang und ins Wasser lief.«

Ein schwerer Seufzer löste sich aus Magdalenens Brust, während sich ihre Hände falteten. So war sie doch nicht die Mörderin ihres Kindes! Von dieser schwersten Schuld war sie frei! Heiße Thränen rannen über ihre Wangen nieder; sie kündeten, daß der Frieden in Magdalenens Herz eingekehrt war.

Inzwischen wandte sich Alexandra an das Kind mit der Frage, weshalb es das alles nicht schon früher erzählt habe.

»Ich hatte Angst,« lautete die Antwort, »der Vater würde mich strafen, weil ich an den Teich gegangen war. Bitte, sagen Sie es dem Vater nicht!«

»Nein, mein Kind, wir werden ihm nichts sagen, gehe nur ruhig wieder heim!«

Alexandra klopfte die Kleine freundlich auf die gebräunten Wangen und wandte sich dann Magdalene zu. Das blasse Gesichtchen der jungen Frau war wie verklärt, die Augen hatten den starren, unruhigen Ausdruck verloren, tief aufatmend, schloß sie Alexandra in die Arme und weinte – stille Thränen innerer Erlösung.

*

Ein freundlicher Empfang harrte Magdalenens in dem Landhäuschen. Feldern, durch einen Brief seiner Gattin von allem unterrichtet, zog sein schwergeprüftes Kind tief ergriffen an seine Brust und drückte einen innigen Kuß auf ihre Stirn. Unter Thränen lächelnd sah Magdalene ihn an. Dann sagte sie:

»Die Schatten sind gewichen, ich fühle mich getröstet und mit Gott versöhnt. Zwar die Schuld, daß ich, von thörichter Leidenschaft verblendet, nicht besser über mein Kind gewacht habe, wird ewig auf mir lasten. Doch der da sprach: ›Sie hat viel geliebt, darum ist ihr auch viel vergeben‹, wird mir verzeihen. Nun ruhen alle Wünsche und Hoffnungen, nur noch nach Frieden steht mein Verlangen.«

Und dieser stille, wunschlose Friede verließ Magdalene nicht mehr. Sie, die einst so Wilde und Trotzige, hatte mit dem Leben abgeschlossen. Das Schicksal konnte ihr nichts mehr geben oder nehmen.

Deshalb zögerte auch Leonore nicht länger, zu dem Vater zurückzukehren.

»Ich bin nun überflüssig hier,« sagte sie, als sie Kurt ihr Vorhaben mitteilte. »Mein guter Vater wird alt und entbehrt mich. Er soll nicht länger allein sein.«

»Ich habe gestern bereits mit Ihrem Vater gesprochen,« fiel ihr Kurt ins Wort, »und ihm den Vorschlag gemacht, seinen Lebensabend in meiner Försterei zu verbringen.«

»Und wie lautete seine Antwort?«

»Er sagte zu, unter der Bedingung, daß auch Sie mit übersiedeln.«

Er sah ihr tief in die Augen, und zaghaft, leise sagte er:

»Darf ich hoffen, Lorchen, daß Sie kommen, um Glück und Sonnenschein in mein Haus, in mein Herz zu tragen? Wirst du mir in die grüne Waldeinsamkeit folgen?«

Da sank sie ihm an die Brust, und unter Thränen lächelnd, brachte sie über ihre Lippen:

»Ich will dir folgen, Kurt, denn ich liebe dich!«

*

Lange noch, nachdem Leonore ihren Mädchennamen mit dem Namen von Kroneck vertauscht hatte, sah man die einsame Bewohnerin des Landhäuschens täglich in die kleine Dorfkirche wandern, um vor dem Gekreuzigten zu knieen.

Jeder grüßte ehrfurchtsvoll die blasse Frau mit dem immer noch jugendlichen Antlitz und dem gebleichten Haare. War sie doch der gute Engel all' der Armen und Leidenden, die die kleine Gemeinde zählte. Und viel zu früh starb sie, als ein plötzlicher Tod sie hinwegnahm und sie mit ihrem tiefbetrauerten Kinde für immer vereinte.

Als Feldern feuchten Auges an dem Grabe seiner Tochter stand, drückte Alexandra ihm leise die Hand.

»Wenn je eine Seele,« tröstete sie, »rein und geläutert zu den Pforten der Ewigkeit emporgegangen ist, so ist es die ihre. Gebieten wir unseren selbstsüchtigen Thränen und gönnen wir diesem armen, hartgeprüften Herzen den schwer errungenen Frieden!«

Der Schmerz um die Frühgeschiedene wandelte sich allmählich zur stillen, wehmutsvollen Erinnerung.

Feldern führte ein trautes, zufriedenes Familienleben, und auch in der Oberförsterei waltete das Glück. Aber weder hier noch dort vergaß man je, den Hügel zu schmücken, unter dem Magdalene ausruhte von allem Erdenleid, und wer an ihrem epheuumsponnenen Grabe vorüberschritt, der blieb unwillkürlich stehen und sagte:

»Hier schläft eine Unvergessene!«

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