Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

.

Erstes Kapitel.

Drum prüfe, wer sich ewig bindet,
Ob sich das Herz zum Herzen findet.

(Schiller.)

Unruhig schritt der Universitätsprofessor Feldern in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Die weißen wohlgepflegten Hände auf dem Rücken, den interessanten Kopf mit dem vollen, braun gewellten, nur an den Schläfen von einigen Silberfäden durchzogenen Haar tief gesenkt, durchmaß er den weiten Raum, der die Stätte seiner fruchtbaren Geistesthätigkeit bildete, und nur auf einige Sekunden trat er an eines der beiden weitgeöffneten Fenster, um mit einem tiefen Atemzuge die würzige, erfrischende Luft des milden Sommerabends einzusaugen und den Blick über die grünen Wiesen und die goldig schimmernden Felder streifen zu lassen, die unweit des von ihm bewohnten Hauses ihren Anfang nahmen und sich bis zu dem ausgedehnten, etwa eine halbe Stunde entfernt liegenden Laubwalde erstreckten. Aber gleich darauf nahm er seinen Gang durch das Zimmer wieder auf, und die tiefen Falten, die auf seiner breiten Stirn lagen, ließen erkennen, daß nichts von der Ruhe und dem Frieden, die über dem freundlichen Landschaftsbilde schwebten, in seine Seele geflossen war.

Thatsächlich lastete eine schwere Sorge auf dem Gelehrten um das Teuerste, was er auf Erden sein eigen nannte: die Sorge um seine Kinder. Während seiner siebzehnjährigen Ehe hatte der Professor wenig Veranlassung gehabt, in die Erziehung der Kinder einzugreifen. Mit freundlichem Ernst und mit jener selbstlosen Liebe, wie nur eine Mutter sie zu spenden vermag, hatte seine Gattin die Schritte der Kleinen gehütet und von dem durch seine Berufsgeschäfte vollauf in Anspruch genommenen Manne alles ferngehalten, was ihn mit Kummer oder Sorge hätte erfüllen können. Seitdem aber vor zwei Jahren Regina, sein heißgeliebtes Weib, die Augen für immer geschlossen, ermangelten die Kinder einer gewissenhaften, sorgfältig geregelten Leitung. Magdalene, des Professors älteste Tochter, bedurfte derselben freilich nicht mehr. Sie war beim Tode der Mutter bereits sechzehn Jahre alt und hatte eine vortreffliche Erziehung genossen, die sie seither noch bedeutend erweitert und vertieft hatte. Dennoch beschäftigten sich des Professors Gedanken in erster Linie mit ihr, und je mehr er sich klar darüber ward, daß in Magdalenens Wesen in letzter Zeit eine auffallende Veränderung vorgegangen, um so mehr verdüsterten sich seine Züge, um so unruhiger wurde sein Gemüt.

Magdalene war ein Mädchen von hervorragender Schönheit. Allerdings hatte diese Schönheit etwas Seltsames, Fremdartiges an sich. Die feingegliederte, zierlich, aber regelmäßig gebaute Gestalt war unter Mittelgröße. Blauschwarzes, krauses Haar, das in seiner Fülle kaum zu bändigen war, umrahmte die weiße Stirn und quoll hinter den winzig kleinen Ohren hervor. Das feingeschnittene Gesicht war von einer zarten Blässe, trug aber nichts Krankhaftes an sich. Dennoch konnte, wer Magdalene zum ersten Male sah, eines eigenartigen Gefühls sich nicht erwehren, eines Gefühls, das eine seltsame Mischung darstellte von Bewunderung und Wehmut. Denn so stark auf der einen Seite der Zauber ihrer Schönheit war, so beklemmend wirkte auf der anderen Seite die tiefe Melancholie, die über ihrem so jugendlichen und doch so ernsten Gesicht lagerte, und die noch gehoben wurde durch die großen, nachtschwarzen Augen. Es war, als ob die Zukunft ihre Schatten vorauswürfe und in den abgrundtiefen Augen alle die Leiden wiederspiegelte, die diesem jungen Mädchen vom Schicksal noch auferlegt werden sollten.

Im allgemeinen war Magdalene eine ernste, ruhige Natur. Aber wie unter der kalten Lava der Funke glimmt und jeden Augenblick seine verheerende Kraft äußern kann so lebte auch in der Brust des jungen Mädchens eine heiße, leidenschaftliche Seele, fortwährend bereit, in lodernder Glut loszubrechen. Magdalenens Mutter hatte sich sorgfältig bemüht, dieses Feuer, das sie mit banger Sorge für die Zukunft ihres Kindes erfüllte, zu ersticken. Aber mit so grenzenloser Liebe Magdalene an der Mutter hing, so bereitwillig sie sich jederzeit ihren Wünschen fügte, alle Versuche, das Empfinden der Tochter in ruhige Bahnen zu leiten, waren fehlgeschlagen; der eigenwillige, von starkem Selbstbewußtsein durchdrungene Sinn des Mädchens ließ sich nicht in Fesseln schlagen.

Vielleicht war es ein schwerer Fehler gewesen, daß die Mutter niemals Veranlassung genommen hatte, mit dem Gatten hierüber zu sprechen. Sie hatte sich nicht dazu entschließen können, weil sie Feldern zu sehr liebte, um seinen heiteren Gleichmut durch die Sorge um das Schicksal Magdalenens zu erschüttern, zum Teil wohl auch deshalb, weil sie bis zu ihrem Ende die Hoffnung hegte, daß in der Entwickelung des Charakters der Tochter eine Wandlung eintreten würde. Der Professor war zum ersten Male in jenen Tagen, die dem Tode seiner Gattin folgten, Zeuge der maßlosen, ungezügelten Heftigkeit gewesen, die seine älteste Tochter beseelte. Er hatte sich indessen darüber keine ernsteren Gedanken gemacht, weil er wußte, wie zärtlich Magdalene die Mutter geliebt hatte, und weil er sich sagte, daß der Schmerz der Tochter, so zügellos er auch zum Ausdruck kam, durch den herben Verlust eine Berechtigung erhielt.

Im Hause des Professors verkehrten die beiden Brüder Kurt und Harald von Kroneck. Der Oberförster, Kurt von Kroneck, war des Professors liebster Freund, der jüngere Bruder des Oberförsters, Harald von Kroneck, hatte bis vor Jahresfrist an der Universität, an der Feldern lehrte, medizinische Studien betrieben. Durch Kurt in das Haus des Professors eingeführt, als Magdalene gerade das vierzehnte Lebensjahr zurückgelegt hatte, war der junge, flotte Student, der so lustig zu plaudern verstand, für das frühreife Kind bald der Gegenstand besonderen Interesses, das sich zu einer tiefen Herzensneigung auswuchs, je mehr Magdalene sich vom Kindesalter entfernte. Niemand, auch Magdalenens Mutter nicht, bemerkte die keimende Liebe, nur Harald entging es nicht, wie er von Tag zu Tag einen stärkeren Einfluß auf das Mädchen gewann. Anstatt aber alles zu vermeiden, was dem Gefühl Magdalenens für ihn Nahrung geben konnte, ließ er seine glänzenden Anlagen in den hellsten Farben leuchten, um das Herz des herrlichen Mädchens zu gewinnen.

Der Professor hatte ein gutes Einkommen, doch kostete der Haushalt gar zu viel, als daß er ein nennenswertes Vermögen hätte ansammeln können. Harald selbst aber war völlig mittellos und ausschließlich auf die Unterstützung seines Bruders angewiesen, der von seinem Paten außer einem kleinen, unweit der Oberförsterei gelegenen Landhause ein bedeutendes Vermögen geerbt hatte. Harald wußte, daß er Magdalene wohl nie werde als seine Gattin heimführen können, wenn er aber trotzdem das erwachende Feuer der Liebe in Magdalene schürte, so that er es, weil es seiner Eitelkeit schmeichelte, diese liebliche Mädchenknospe zu gewinnen. Für ihn war nur die Gegenwart vorhanden, die Zukunft kümmerte ihn nicht. Er lebte mehr dem Augenblick und nahm wohl die Annehmlichkeiten und Freuden des studentischen Lebens wahr, konnte sich aber nicht dazu entschließen, die Pflichten, die ihm oblagen, zu erfüllen. Kein Wunder, daß er nicht einmal das erste Examen in der vorgeschriebenen Zeit hatte machen können, und daß Feldern, der die Hohlheit von Haralds Charakter längst erkannt hatte, hin und wieder ein äußerst herbes Urteil über den jungen Mann fällte.

So lange dieser noch in ihrer Nähe weilte, hatte Magdalene zu den tadelnden Worten des Vaters geschwiegen. Wohl blitzten ihre Augen, und heller Widerspruch leuchtete aus ihnen hervor. Aber Worte lieh sie ihm niemals. Einmal, weil sie von Kindheit an eine ehrfurchtvolle Scheu vor ihrem Vater gehabt hatte, sodann aber, weil sie sich nicht für berechtigt hielt, für Harald einzutreten, so lange sie nicht die Gewißheit hatte, daß er ihre Neigung erwiderte. Ganz anders, nachdem Harald sich nach Heidelberg begeben hatte, um dort seine Studien fortzusetzen und zu beenden. Wohl hatte er sich auch vor seiner Abfahrt nicht erklärt. Aber der Blick, den er in der Stunde des Abschieds auf ihr hatte ruhen lassen, war von so inniger Wärme durchglüht gewesen, daß sie nicht länger zweifeln zu können glaubte, daß sein Herz auch ihr gehöre.

Dieses Bewußtsein war es auch, was sie fortan mehr und mehr jede Scheu abstreifen ließ, wenn der Vater sich nach Haralds Abreise in abfälliger Weise über den jungen Mann äußerte.

»Der Oberförster,« sagte er, »handelt wie ein Vater an ihm, erntet indessen schlechten Lohn dafür. Kurt ist bisher nur Haralds wegen ledig geblieben. Allein dieser mit den herrlichsten Anlagen ausgestattete junge Mann hat kein rechtes Ziel vor Augen und kann sich zu ernster Arbeit nicht aufschwingen. Er spielt vortrefflich Klavier, ist ein gesuchter Gesellschafter; doch sein erstes Examen bestand er nicht, und alle Opfer, die Kurt ihm bringt, nimmt er wie etwas Selbstverständliches an. Es ist eine traurige Sache um einen Menschen, der nichts von Dankbarkeit weiß und nichts von dem Drange, auf eigenen Füßen zu stehen.«

Aus Magdalenens Antlitz war bei diesen Worten jeder Blutstropfen gewichen, ihr Atem ging tief und schwer, und ihre Stimme klang hart und schneidend, als sie entgegnete:

»Du thust Harald von Kroneck unrecht, Papa. Ich bin überzeugt, daß Harald unter dem Gefühl der Abhängigkeit von seinem Bruder Kurt schwer leidet und daß er alles aufbieten wird, um das Joch dieser Abhängigkeit sobald wie möglich von sich zu werfen. Daß er das erste Examen nicht in der vorgeschriebenen Zeit ablegte, kann doch unmöglich gegen ihn sprechen. Wie viele mag es geben, die noch später als Harald das erste Examen bestanden haben und trotzdem die tüchtigsten Männer geworden sind! Jedenfalls ist Harald ein selten begabter Mensch, der sicherlich den Beweis, daß er Ausgezeichnetes zu leisten vermag, nicht schuldig bleiben wird.«

Ehe noch Feldern die Zeit zu einer Entgegnung fand, war Magdalene hinausgegangen, um auf ihrem Zimmer in ein krampfhaftes Schluchzen auszubrechen. Seit jenem Tage war ein Mißklang in dem bisher so harmonischen Verhältnis zwischen Vater und Tochter zurückgeblieben. Feldern war am folgenden Tage auf die Angelegenheit zurückgekommen, aber Magdalene hatte ihm ein eisiges Schweigen entgegengesetzt und sich unter dem Vorwande, daß der Kopf sie schmerze, alsbald auf ihr Zimmer zurückgezogen. Das Gleiche that sie, so oft der Professor den Versuch machte, eine Aussprache mit ihr herbeizuführen. Schließlich gab Feldern, der nicht im entferntesten ahnte, mit welcher Innigkeit seine Tochter an Harald von Kroneck hing, alle Versuche auf, da er glaubte, daß es sich nur um eine jugendliche Schwärmerei handele, der der Nährboden um so eher entzogen würde, je weniger von dem jungen Manne die Rede wäre.

Trotzdem stellte sich das herzliche Einvernehmen, das früher zwischen ihm und Magdalene geherrscht hatte, nicht wieder ein. Einen so freundlichen Ton er der Tochter gegenüber anstimmte, konnte er sich doch nicht verhehlen, daß sie ihm auswich, daß sie jede Gelegenheit, mit ihm allein zu sein, fast ängstlich vermied. Das verletzte ihn zwar tief, aber es war doch nicht der einzige Grund für die Sorge um seine Tochter.

Feldern war dem ernsten Kurt von Kroneck ebenso sehr zugethan, wie ihm dessen Bruder unangenehm war, und als er wahrzunehmen glaubte, daß in des Oberförsters Herzen ein wärmeres Gefühl für Magdalene sich regte, erfüllte ihn dies mit aufrichtiger Freude. Denn niemandem hätte er die Zukunft seines Kindes lieber anvertraut, als Kurt von Kroneck, dessen lauteren Charakter er in den verschiedensten Fällen kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hatte. Um so schmerzlicher berührte es ihn, als er sah, daß Magdalene des Oberförsters Neigung nicht zu erwidern schien.

Jedes, auch das unerfahrenste Weib, vermag in der Seele des Mannes zu lesen, sobald er von einer tieferen Neigung erfaßt wird. Auch Magdalene war es kein Geheimnis mehr, daß der Oberförster sie liebte, wenn auch noch nie ein zärtliches Wort ihr gegenüber von seinen Lippen gekommen war. Immer, auch wenn sie allein mit ihm war, verharrte er in ruhiger Zurückhaltung. Aber der freudige Schimmer, der aus seinen Augen strahlte, wenn sein Blick auf ihr ruhte, und der herzliche, warme Ton, den er im Gespräche mit ihr anschlug, verriet ihr, daß er Hoffnungen hegte, deren Erfüllung oder Zerstörung in ihren Händen lag.

Niemals hatte Magdalene von dem Oberförster eine unfreundliche Aeußerung über Harald vernommen. Trotzdem hatte sie das Gefühl, daß er den Vater gegen ihn aufreize. So oft Kurt mit ihr zusammen war, drängten sich über ihre Lippen eine Menge Fragen, wie es Harald in Heidelberg gefalle, und ob seine Studien einen erfreulichen Fortgang nähmen. Aber die Furcht, harte Worte über ihn zu hören, verschloß ihr jedesmal den Mund. Diese fortwährende Unsicherheit gebar schließlich den fest ausgeprägten Gedanken, daß Kurt dem Bruder nicht wohlgesinnt sei, wenn er ihm auch die Mittel zur Fortsetzung seiner Studien gebe, und die weitere Folge davon war, daß ihre Stimmung gegen den Oberförster keine freundlichere wurde.

Während Professor Feldern noch sich klar darüber zu werden suchte, auf welche Ursache das zurückhaltende Wesen, das Magdalene dem Oberförster gegenüber an den Tag legte, zurückzuführen sei, wurde dieser selbst gemeldet. Feldern empfing den Freund mit warmer Herzlichkeit. Auf Kurts ohnehin schon ernstem Antlitz lag ein Ausdruck, den man fast feierlich hätte nennen können, wenn sich nicht etwas wie Zaghaftigkeit hinzugesellt hätte. Auch daß seine Hand zitterte, entging dem Professor nicht, der sich die außergewöhnliche Erregung bei dem sonst so ruhigen, gelassenen Manne nicht zu erklären vermochte und deshalb die Frage an ihn richtete:

»Was hast du, Kroneck? Du hast eine so feierliche Miene aufgesteckt und befindest dich offenbar in großer Erregung, daß ich aufs äußerste gespannt bin, zu hören, was dich zu mir führt.«

»Es ist in der That eine eigenartige Veranlassung,« sagte der Oberförster, auf dem Sessel Platz nehmend, den ihm Feldern hingeschoben hatte. »Es kann dir nicht entgangen sein, daß ich seit einem halben Jahre öfter in dein Haus komme, als dies früher der Fall war. Hast du dir nie die Frage vorgelegt, was mich so oft hierher zog?«

»Doch wohl dasselbe Gefühl, das ich für dich hege, das Gefühl einer festen, treuen Freundschaft.«

»Je nun,« erwiderte Kroneck verlegen, »das natürlich auch. Aber ich wäre doch wohl nicht ganz so häufig gekommen, hätte dein Haus nicht noch einen anderen Anziehungspunkt für mich. Ich bin kein Freund von vielen Redensarten, Feldern, und deshalb laß mich's dir kurz sagen: ich liebe deine Tochter. Du weißt, ich bin unabhängig und wohl in der Lage, mir eine eigene Häuslichkeit zu gründen. Willst du das Schicksal deines Kindes in meine Hände legen?«

»Ich wüßte nicht, was ich lieber thäte, bester Freund,« sagte der Professor, Kronecks Hand mit herzlichem Druck umspannend, »aber glaubst du auch Magdalenens Neigung sicher zu sein?«

»Ich habe bisher noch nicht Gelegenheit genommen, ihr von meiner Liebe zu sprechen. Trotzdem hoffe ich, daß sie mich nicht zurückweisen wird. Ich bin freilich älter als deine Tochter, aber meine Liebe zu ihr ist so innig, daß ich überzeugt bin, daß sie auch in ihrem Herzen die Gegenliebe entzünden muß. Ich will auch vorläufig noch nicht mit dem Geständnis meiner Neigung an sie herantreten. Ich glaubte nur, es dir und mir schuldig zu sein, daß klarste Offenheit zwischen uns herrscht, bevor ich mit Magdalene spreche.«

»Ich kann dir nur wiederholen,« entgegnete Feldern, »daß ich mich aufrichtig freuen würde, wenn unsere Freundschaft durch verwandtschaftliche Beziehungen eine noch festere Grundlage erhielte. Was ich bei Magdalene für dich thun kann, soll gewiß gern geschehen.«

Mit Worten warmen Dankes verabschiedete sich der Oberförster. Feldern sah ihm vom Fenster aus noch lange nach, und erst als seine elastische Gestalt hinter einem hochliegenden Kornfeld verschwunden war, nahm er seinen Rundgang durch das Zimmer wieder auf.

Leider mußte er sich sagen, daß das, was er soeben vernommen, seine Sorgen um Magdalene eher vermehrte als verminderte. Denn daß seine Tochter des Oberförsters Neigung nicht erwiderte, darüber gab er sich keiner Täuschung hin. Aber je mehr er sich die ausgezeichneten Eigenschaften des Freundes ins Gedächtnis rief, um so mehr gewann die Ueberzeugung in ihm Raum, daß Magdalene den trefflichen Mann mit der Zeit doch lieben lernen würde.

Dieser Gedanke beruhigte ihn dermaßen, daß es ihm möglich schien, die unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen. Aber kaum hatte er zu diesem Zwecke Licht angezündet, als abermals an die Thür gepocht wurde, und der Hauslehrer Dr. Gruber hereintrat, der die beiden jüngeren Geschwister Magdalenens unterrichtete. Feldern hatte den stillen, pflichttreuen Mann gern, und besonders bewunderte er die unerschöpfliche Geduld, mit der jener sein schweres Amt ausübte.

Nach dem Tode der Mutter hatte Magdalene es übernommen, den Bildungsgang der Geschwister zu überwachen. Aber der wilden Lise und dem noch wilderen Max war sie nicht gewachsen; alle Versuche, ihnen die erforderliche Achtung vor ihrem Willen einzuflößen, schlugen fehl. Das hatte auch Feldern bald genug eingesehen, und da er selbst die Zeit nicht erübrigen konnte, um selbst die Ausbildung der Kinder in die Hand zu nehmen, so hatte er einen jungen Lehrer, der ihm als fleißiger und zuverlässiger Mann bekannt war, in sein Haus genommen und ihm die Erziehung der Kinder übertragen.

Feldern schätzte sich glücklich, daß er in dem Schulamtskandidaten Dr. Gruber einen Mann gefunden hatte, der durch seinen ruhigen Ernst wie durch sein freundliches Wesen die Gewähr zu bieten schien, daß die Erziehung der Kinder nunmehr einen regelmäßigen Verlauf nehmen werde. Es berührte ihn daher äußerst peinlich, als ihm der Lehrer jetzt erklärte, daß er eingesehen habe, daß er für die Kinder nicht der geeignete Mann sei, und um seine Entlassung bitten müsse.

»Sie sind keineswegs bösartig!« sagte er. »Aber es steckt in ihnen eine Fülle von Lebenslust und Lebenskraft, gegen die ich machtlos bin und die meines Erachtens auch nur durch die zarten Hände einer Frau in die richtigen Bahnen gelenkt werden können. Den Kindern fehlt eben die Mutter, die durch ihre hingebende Liebe an einem Tage mehr bei ihnen erreicht, als der Lehrer oder die Erzieherin in einem Jahre.«

Der Lehrer hatte längst das Zimmer verlassen, und noch immer klangen seine Worte dem Professor in die Ohren. Hatte er sich doch selbst schon vor einiger Zeit die Frage vorgelegt, ob es sich nicht empfehlen würde, den jüngeren Kindern eine zweite Mutter zu geben. Damals hatte er auf einer Reise, die er in beruflichen Geschäften hatte machen müssen, den pensionierten Major von Hillern und dessen Töchter kennen gelernt, von denen namentlich die ältere, Alexandra, durch ihr echt weibliches Wesen, durch ihre heitere Ruhe und gleichmäßige Liebenswürdigkeit und nicht minder durch ihre vornehme Bildung einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Unauslöschlich hatte sich ihr Bild in seine Seele gegraben, und ebenso hatte ihn der Gedanke, daß Alexandra von Hillern vielleicht das einzige Weib auf der weiten Welt sei, das seine verstorbene Gattin zu ersetzen vermöchte, seither nicht verlassen. Dennoch hatte er die Wünsche, die sich in seinem Innern regten, zum Schweigen gebracht. Nicht etwa, weil er eine Bewerbung um Alexandras Hand für aussichtslos gehalten hätte. Er war freilich nicht mehr weit vom fünfzigsten Lebensjahr entfernt, aber er hatte in den wenigen Tagen, die in Alexandras Gesellschaft zu verleben ihm vergönnt gewesen, die Empfindung gehabt, daß sie sich in hohem Maße für ihn interessierte und wohl geneigt wäre, ihm als Gattin in sein Haus zu folgen. Wenn er trotzdem es unterlassen hatte, die entscheidende Frage an sie zu richten, so war es seiner älteren Tochter wegen geschehen, deren hingebende Liebe zu der verstorbenen Mutter er viel zu genau kannte, als daß er sich hätte verhehlen können, daß sie seiner abermaligen Verheiratung den größten Widerstand entgegensetzen würde. Um aber gegen ihren Willen ihr eine Stiefmutter zu geben, dazu liebte er nicht nur Magdalene zu sehr, dazu schätzte er auch Alexandra zu hoch.

Alles das ging dem Professor durch den Kopf, während er in fast nervöser Unruhe seinen Arbeitsraum durchschritt. Immer wieder sagte er sich, daß alle Sorgen um die Erziehung der Kinder ein Ende nehmen würden, wenn Alexandra von Hillern die Stelle der Mutter bei ihnen vertreten würde. Aber so oft er sich auch ihr segensreiches Wirken in seinem Hause ausmalte, so oft er der Vorstellung Raum gab, wie ihre weiche Frauennatur die Liebe der beiden jüngeren Kinder im Fluge erobern würde, immer wieder glaubte er auch das düstere, gramentstellte Antlitz Magdalenens vor sich zu sehen, die grollend abseits stand und alle Zärtlichkeiten, die ihr von der neuen Mutter entgegengebracht würden, ablehnend zurückwies.

Endlich kam Professor Feldern zu einem festen Entschluß. Er klingelte und trug der alten Christine, die seit vielen Jahren in seinem Hause bedienstet war, auf, Magdalene in sein Zimmer zu bitten. Wenige Augenblicke später stand Magdalene vor ihm und fragte, indem sie den Vater mit einem merkwürdig forschenden Blicke streifte, nach seinem Begehr.

»Ich habe dich rufen lassen,« sagte er, »um dir mitzuteilen, daß ich in kurzer Zeit, vielleicht schon morgen, eine Reise nach G. machen werde, die mich einige Tage fernhalten dürfte. Bevor ich aber abreise, möchte ich im klaren sein über eine Angelegenheit, die mich seit geraumer Zeit lebhaft beschäftigt.«

Magdalene zuckte zusammen. Sie hatte das Gefühl, daß sie vor einem entscheidenden Augenblicke ihres Lebens stand, daß sie werde Rede stehen müssen über ihre Liebe zu Harald. Die Worte des Vaters deuteten unfehlbar darauf hin, mehr aber noch der ernste Blick, den er dabei auf sie richtete. Sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg und sich weiter ergoß bis unter das dunkle Haargewirr, das auf ihre Stirn fiel. Aber sie war auch sofort entschlossen, mit aller Entschiedenheit für ihre Liebe einzutreten.

Der Professor setzte sich und forderte seine Tochter auf, das Gleiche zu thun. Dann begann er:

»Du bist jetzt achtzehn Jahre alt, Lene, stehst also in einem Alter, wo du wohl über deine Zukunft selbst entscheiden kannst. Ich brauche dir nicht erst zu sagen, daß ich dich schwer vermissen würde, wenn du mein Haus verließest, um einem Manne, dem du dein Herz geschenkt, zu folgen. Aber ich will dir auch nicht verhehlen, daß es mich glücklich machen würde, deine Hand in die eines braven Mannes zu legen, dessen ehrenhafte Gesinnung und gesicherte Lebensstellung die genügende Bürgschaft für deine Zukunft bieten.«

Er hielt ein, gleichsam als erwarte er, daß Magdalene sich nunmehr äußern würde. Als diese indessen schwieg, fuhr er fort:

»Um es kurz zu machen, – mir ist bekannt, daß Kurt von Kroneck danach trachtet, deine Neigung zu gewinnen. Er ist zwar älter als du, aber sein gerader, ehrlicher Sinn, seine festen, ehrenhaften Grundsätze und nicht zum wenigsten seine warme Neigung für dich geben mir die Gewähr, daß du an seiner Seite glücklich werden würdest, wenn du also –«

»Nein,« unterbrach sie ihn rasch, »davon kann gar nicht die Rede sein!«

Sie sagte es mit solcher Entschiedenheit, daß der Professor nicht umhin konnte, mißbilligend den Kopf zu schütteln.

»Empfindest du keine Neigung für den Oberförster?« fragte der Professor etwas verwundert.

Sie zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Dann sagte sie:

»Ich habe bis zum heutigen Tage keine Veranlassung gehabt, mir über meine Gefühle nach dieser Richtung Rechenschaft abzulegen. Das aber kann ich dir sagen, Papa, daß er meinem Herzen nicht näher steht, als jeder andere unserer Bekannten. Ich hoffe, du wirst nicht verlangen, daß ich einem ungeliebten Manne die Hand zum Lebensbunde reiche.«

»Selbstredend liegt es mir völlig fern, ein derartiges Verlangen an dich zu stellen. Deine Wahl ist frei. Dennoch möchte ich dir raten, mein Kind, nicht kurzer Hand den Gedanken an eine Verbindung mit Kurt von Kroneck zurückzuweisen, sondern ernst mit dir zu Rate zu gehen und dich zu prüfen, ob er dir nicht doch mehr werden kann, als du bisher geglaubt hast.«

»Ich glaube nicht, Papa, daß sich meine Meinung ändern wird.«

»Wer weiß! Es giebt wenig Männer, die an Kurt von Kroneck heranreichen, dessen lauterer Charakter und tiefe Herzensbildung über jeden Zweifel erhaben ist, und es erscheint mir keineswegs ausgeschlossen, daß er in deinem Herzen Raum gewinnt, sobald du dir die Mühe nimmst, ihn näher kennen zu lernen.«

»Gut, Papa! Obwohl ich nicht glaube, daß deine Voraussetzung jemals eintreffen wird, so will ich dir doch, da du es wünschest, das Versprechen geben, mich wegen meiner Neigung zu Kurt von Kroneck ernstlich zu prüfen.«

Der Professor erhob sich und drückte einen herzlichen Kuß auf die Stirn seines Kindes. Auch Magdalene geriet in eine seltsam weiche Stimmung, und am liebsten wäre sie dem Vater um den Hals gefallen und hätte ihm ein Geständnis von ihrer Liebe zu Harald abgelegt. Aber sie konnte es nicht über sich gewinnen, das Geheimnis ihres Herzens preiszugeben. So drückte sie nur einen innigen Kuß auf die Hand des Vaters und verließ schweigend das Gemach, um sich auf ihr Zimmerchen zurückzuziehen.

Noch lange saß sie dort am geöffneten Fenster und blickte in die mondhelle Nacht hinaus.

Jetzt, wo sie noch einmal ruhig und kühl den Inhalt ihrer Unterredung mit dem Vater an sich vorübergleiten ließ, fühlte sie sich in hohem Maße unbefriedigt. War es nicht ihre Pflicht gewesen, dem Vater zu sagen, was seine Hoffnungen in Bezug auf Kurt von Kroneck ganz aussichtslos machte? Hätte sie nicht wenigstens erklären müssen, daß ihr Herz nicht mehr frei sei?

Aber nein, das wäre doch wohl übereilt gewesen und hätte höchstens wieder zu unliebsamen Erörterungen geführt. Wozu auch sollte sie den Vater von ihren Gefühlen für Harald in Kenntnis setzen, während sie noch gar nicht die volle Gewißheit hatte, daß ihre Neigung erwidert wurde? Sie hoffte es, ja sie glaubte es, aber sie wußte es nicht.

Ein Lächeln flog über ihr Antlitz, aber gleich darauf wurde sie wieder ernst.

War sie wirklich berechtigt, zu glauben, daß Harald sie liebe? Und auf welche Gründe stützte sich denn dieser Glaube? Niemals war über Haralds Lippen ein Wort der Liebe gekommen, niemals hatte er, seit er in Heidelberg studierte, irgendwelche Nachricht ihr zugehen lassen. Wenn er sie wirklich liebte, hätte er nicht Mittel und Wege finden müssen, um ihr Nachricht zu geben?

Seltsam, zum ersten Male kam ihr dieser Gedanke, aber er ließ sie nicht mehr los. Sie suchte ihn dadurch zu verscheuchen, daß sie sich in die Stunden der Vergangenheit zurückversetzte. Mit welcher Zärtlichkeit hatte nicht sein Blick oftmals und besonders bei seiner Verabschiedung auf ihr geruht. Solch ein Blick, so suchte sie sich zu beruhigen, kann nur der Ausdruck einer innigen Liebe sein. Aber täuschte sie sich auch nicht? War nicht etwa das warme Feuer, das aus seinen Augen strahlte, nur ein Gebilde ihrer Phantasie gewesen? Hatte vielleicht ihre eigene Liebe ihr ein Bild vorgespiegelt, das nur in ihrer Einbildung, in ihren Wünschen lebte?

Die Hände hinter dem Kopfe verschränkt, lehnte sie sich zurück und richtete die Augen auf den sterngestickten Nachthimmel. Hätten ihr doch die Sterne Antwort geben können auf alle die bangen Fragen! Aber die gingen kalt und gleichgültig ihre Bahn, während drunten ein armes Menschenherz sich quälte und heiß mit den bösen Zweifeln rang, die zum ersten Male in ihm aufgestiegen waren und nicht mehr weichen wollten. So sehr war Magdalene in ihre Gedanken vertieft, daß sie gar nicht hörte, wie die Thür geöffnet wurde und jemand sich ihr näherte. Es war die alte Christine, die ausnahmsweise später als gewöhnlich ihr Lager aufsuchen wollte und einen tiefen Seufzer zu hören geglaubt hatte, als sie an des jungen Mädchens Zimmer vorüberging.

»Wie,« fragte sie, »noch immer nicht im Bett? Es ist ja bald Mitternacht, Fräulein Lenchen!«

»Schon so spät? Die Nachtluft ist so köstlich, daß man gar nicht merkt, wie die Zeit entschwindet. Aber jetzt will ich doch auch zur Ruhe gehen.«

Sie that es. Aber noch lange nicht senkte sich der Schlaf auf ihre Augen, und als er endlich kam, nahm sie ihre glühenden, sehnsüchtigen Gedanken mit in den Traum hinüber. Dieser spann ein schimmerndes Netz aus ihnen, durch das Herz und Sinn der Schlummernden umstrickt wurde, bis die goldigen Strahlen der Morgensonne durch das Fenster lachten und glitzernd über Boden und Wände huschten.


 << zurück weiter >>