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Zehntes Kapitel.

Deine Liebe lächelt nimmer
Nieder in mein tiefes Weh. (Lenau.)

Magdalene war nach Haralds Weggang in ein trostloses Grübeln versunken.

Sie gehörte nicht zu den Frauen, die durch ein gutes Buch oder durch eine nützliche Beschäftigung die Langeweile der Einsamkeit zu bannen wissen. Aber selbst wenn sie es verstanden hätte, heute wäre es ihr unmöglich gewesen. Ihr reger Geist erwog und verarbeitete unausgesetzt die Worte, die der Geheimrat vorher gesprochen, und doch konnte sie zu keinem ihr verständlichen Urteil gelangen. Hatte der alte Herr recht, wenn er derartige Anschauungen entwickelte? Dann ging sie freilich auf einem ganz falschen Wege mit ihrem ehrlichen Bemühen, durch verdoppelte Zärtlichkeit die Liebe des Gatten sich zurückzuerobern. Heute hatte es ja geschienen, als wollte der erlöschende Funke wieder aufflammen. Aber wäre es so gewesen, würde sie dann jetzt allein und verlassen sein, trotz Haralds Versprechen, bald zurückzukehren?

Sie trat an das geöffnete Fenster und blickte zu dem gestirnten Abendhimmel empor. Durch die Wipfel der Bäume, die die Straße zu beiden Seiten einfaßten, ging ein sanftes Rauschen und Raunen, aber Magdalene hörte es nicht. In ihrem Ohr klangen fort und fort die Worte des alten Geheimrats, daß nicht die zärtlichen Frauen es seien, die das Herz eines Mannes auf die Dauer zu fesseln verständen, sondern die klug berechnenden. So sehr war sie mit ihren Gedanken beschäftigt, daß sie ein starkes Pochen an der Thür völlig überhörte, und erst als diese geöffnet wurde, schrak sie aus ihrem Sinnen empor und musterte erstaunt die Eintretende.

»Was giebt's?« fragte sie erschreckt, Käthe, die Wärterin des Kindes, erkennend.

»Mit Hans ist etwas nicht in Ordnung, Frau Doktor. Er will absolut nicht schlafen, und sein Kopf und seine Händchen brennen wie Feuer.«

Magdalene fühlte, wie ihr das Herzblut stockte.

»Allmächtiger, er wird doch nicht krank sein? Als ich vorhin nach ihm sah, war er doch noch ganz munter. Ist denn das so plötzlich aufgetreten?«

»Ganz plötzlich. Vor einer Viertelstunde spielte er noch mit seinen Bausteinen, bis er plötzlich allerlei verworrene Worte sprach, die meine Aufmerksamkeit erregten. Ich glaubte erst, er wäre müde. Erst als ich sah, daß er die Augen weit öffnete, und als ich den unruhigen Glanz in ihnen bemerkte, wurde ich ängstlich.«

Tödlich erschrocken eilte Magdalene hinaus und stand gleich darauf an dem Bettchen des Kleinen. Das Kind warf sich hin und her, während fieberhafte Röte seine Wangen deckte.

Die junge Frau erkannte, daß hier schnelles Handeln geboten sei.

»Machen Sie ein Glas Limonade zurecht,« sagte sie, »und sagen Sie dem Diener, daß er meinen Mann holen soll. Er wollte nur bei dem kranken Kinde des Kaufmanns Wagner in der Prinzenstraße einen Besuch machen.«

Die Wärterin that, wie ihr geheißen, und schon wenige Minuten später kehrte der Diener zurück mit der Meldung, daß beim Kaufmann Wagner überhaupt niemand krank sei und der Herr Doktor dort keinen Besuch gemacht habe.

Magdalene fühlte etwas wie einen jähen Riß in ihrem Innern. Also hatte er ihr die Unwahrheit gesagt? Zu welchem Zweck? Um sie über das eigentliche Ziel seines Weges zu täuschen?

Ja, das war's. Er war zu den Amerikanerinnen gegangen, und um ihr nicht von neuem Grund zum Mißtrauen, zur Eifersucht zu geben, hatte er ihr den wahren Zweck seines Ausganges verschwiegen.

Schon war sie nahe daran, ihm die Täuschung zu verzeihen, zu der er sich ja doch nur hatte verleiten lassen, um ihr eine unruhevolle Stunde zu ersparen. Aber plötzlich entsann sie sich seiner kühlen, geschäftsmäßigen Beurteilung des Degenfeldschen Falles, und in demselben Moment glaubte sie völlig klar zu sehen. Was sie bisher nur dunkel geahnt hatte, das wurde ihr mit einem Male fest und bestimmt bewußt.

So furchtbar wirkte diese Erkenntnis auf sie, so sehr war sie in der Harmonie ihrer seelischen Kräfte gestört, daß sie fast die Sorge um ihr Kind darüber vergaß. Freilich nur kurze Zeit! Nachdem sie einige Sekunden, die Hände fest auf das Herz gepreßt, vor sich hingestarrt hatte, erinnerte ein angstvoller Schrei des Kleinen sie an ihre Mutterpflicht.

»Ich kann mich verhört haben, – nicht bei dem Kaufmann ist mein Mann,« sagte sie ruhig. »Fragen Sie sofort im Grand Hotel an, ob er dort ist, und nehmen Sie auf jeden Fall einige Zeilen mit!«

In fliegender Hast schrieb sie ihm, daß Hans erkrankt sei und sie ihn bitte, augenblicklich nach ihm zu sehen. Dann übergab sie das Briefchen dem Diener, ihm die größte Eile zur Pflicht machend.

Mistreß White hatte sich allmählich etwas beruhigt, dachte aber noch nicht daran, die Ruhe des Schlafzimmers aufzusuchen. Wenn die erregten Nerven ihr Spiel trieben, fürchtete sie sich vor der Stille und Dunkelheit. Sie wollte fröhliche Stimmen hören und vor allem die beruhigende Gewißheit haben, daß der Arzt in ihrer unmittelbaren Nähe weilte.

Da sie selbst nicht viel sprechen durfte, hatte man zu den Karten gegriffen. Der Gewinn sollte, wie Kitty vorschlug, Haralds unbemittelten Patienten zu gute kommen, ganz gleich, auf welche Seite er fiel.

Harald hätte sich am liebsten von dem Spiel ausgeschlossen, denn die Damen spielten ziemlich hoch, und er fürchtete, er würde in Verlegenheit kommen können, wenn das Glück ihm nicht hold wäre. Aber seine Befürchtung erwies sich als grundlos. Noch nie hatten die Karten so gut für ihn geschlagen, wie an diesem Abend, und bald hatte er einen kleinen Berg von Goldstücken vor sich liegen, so daß er getrost der Fortsetzung des Spieles entgegensehen konnte.

Nach und nach bemächtigte sich der kleinen Gesellschaft eine sehr behagliche Stimmung. Harald entfaltete in seiner Freude über den Gewinn seine ganze Liebenswürdigkeit und wußte durch amüsante Erzählungen und die humoristische Schilderung einzelner Erlebnisse aus seiner Studienzeit auch die Kranke dermaßen aufzuheitern, daß sie wiederholt in das herzliche Lachen ihrer Tochter einstimmte.

Da trat der Mulatte ein und brachte auf silbernem Teller ein Briefchen.

»So spät noch ein Brief?« sagte Mistreß White erstaunt und streckte die Hand darnach aus.

Der Diener erklärte, das Schreiben sei für den Herrn Doktor bestimmt.

»Sie gestatten?« wandte sich dieser an die Damen und öffnete den Briefumschlag. Er hatte die Schrift sofort erkannt, aber er wußte, daß Kittys Augen auf ihm ruhten, und keine Spur seines Gesichts verriet seine innere Erregung. Auch als er das Schreiben gelesen, war er vollkommen Herr seiner selbst. Ruhig steckte er das Papier in seine Brusttasche, und ebenso ruhig klang seine Stimme, als er sagte:

»Man ruft mich an ein Krankenlager. Da Sie, gnädige Frau, gegenwärtig meiner nicht bedürfen, so gestatten Sie wohl, daß ich dem Rufe Folge leiste.«

»In keinem Falle!« rief die Kranke ängstlich. »Ich bedarf Ihrer dringend. Mir ist zu Mute, als müßte heute noch eine fürchterliche Katastrophe eintreten. Ich bitte und beschwöre Sie, mich nicht zu verlassen.«

»Ich stehe sofort wieder zu Ihren Diensten, gnädige Frau, nur –«

»Was heißt sofort?« fiel sie ihm ins Wort. »Es giebt Fälle, in denen Sekunden eine Ewigkeit bedeuten. Schon der Gedanke, daß ich bei einem Anfalle, wie ich ihn vorhin hatte, hilflos sein könnte, quält mich außerordentlich. Ich will nicht allein sein.«

»Wenn es sich aber um einen ernsten Fall handelt, Mama?« warf Kitty ein.

»So giebt es doch noch genug andere Aerzte! Ist mein Leiden etwa nicht ernst? Ich habe schon wieder das Gefühl einer namenlosen Beängstigung. Es muß doch einen Kollegen geben, der Sie vertritt, Herr Doktor.«

»Regen Sie sich nicht unnütz auf, gnädige Frau. Ich werde Ihrem Wunsche entsprechen und hier bleiben. Der Fall, wegen dessen ich gerufen werde, erscheint mir keineswegs so dringend, daß ich sofort aufbreche.«

Harald glaubte wirklich, was er sagte. So sehr ihn Magdalenens Zeilen anfänglich beunruhigt hatten, so fest war er jetzt davon überzeugt, daß, wenn Hänschen wirklich erkrankt wäre, es sich nur um ein leichtes Unwohlsein handeln könnte, und daß Magdalene nur nach ihm geschickt hatte, um seine Heimkehr zu erzwingen.

Er nahm seinen Platz am Spieltische wieder ein, während Mrs. White die Karten emporhob, um sie zu mischen. Doch die Hände der Kranken flogen nervös hin und her, und einige Karten flatterten infolge dessen hinab auf den Teppich. Harald und Kitty bückten sich, jener, um die Karten aufzuheben, diese, um ihm zuzuflüstern:

»Handelt es sich wirklich nicht um einen schwereren Fall?«

»Nein,« erwiderte er ebenso leise, »meiner festen Ueberzeugung nach nicht.«

»Um so besser!« sagte Kitty, sich erhebend. Gleich darauf verließ sie mit dem Bemerken, sich noch etwas Geld holen zu wollen, das Zimmer.

Das junge Mädchen trat in ein schmales Gemach, das dem Mulatten zum Aufenthalt diente, und sagte zu dem diensteifrig emporspringenden Diener:

»Sollte nochmals nach dem Herrn Doktor geschickt werden, so bringen Sie eine Karaffe mit frischem Wasser herein. Ich werde dann wissen, um was es sich handelt, und selbst herauskommen, um den Boten abzufertigen. Mama ist so erregt, daß sie keinesfalls erfahren darf, daß der Arzt verlangt wird.«

Kitty ging hierauf in ihr Zimmer, versah sich mit Geld und kehrte dann in den Salon zurück.

»Fühlst du dich wieder wohler, Mama? Du siehst so gut aus, daß man an eine Krankheit kaum glauben könnte.«

»Ach, mein Aussehen hat wenig zu bedeuten – aber ich ängstige mich doch wohl in übertriebenem Maße. Es ist indessen ein so beruhigendes Gefühl, die Hilfe immer in der Nähe zu wissen. Einer Kranken muß man solche scheinbare Selbstsucht schon verzeihen.«

»Besonders, wenn kein anderer empfindlich darunter leidet,« ergänzte Kitty. –

Inzwischen wartete Magdalene mit wachsender Ungeduld auf die Heimkehr ihres Mannes. Sie hatte von dem Diener erfahren, daß Harald sich bei den Amerikanerinnen befand, und hoffte zuversichtlich, er würde sofort nach Kenntnisnahme ihres Schreibens nach Hause eilen.

In dieser Hoffnung sah sie sich jedoch bald getäuscht. Eine Viertelstunde um die andere verstrich, ohne daß Harald zurückkehrte.

Hänschens Kopf glühte. Seine Kehle rang sichtlich und hörbar nach Luft.

In höchster Angst warf sich die junge Mutter über den Kleinen und preßte ihn schluchzend an ihre Brust. Damit erschreckte sie indessen das Kind. Es rief angstvoll, die Frau mit dem wilden, schwarzen Haar solle ihn nicht seiner Mama nehmen, und ließ sich weder von Magdalene noch von der Wärterin beruhigen.

»Wenn nur erst der Herr Doktor käme!« klagte Käthe. »Soll der Franz nicht noch einmal hingehen?«

Einen Augenblick überlegte Magdalene. Dann sagte sie kurz:

»Ich gehe selbst.«

»Aber –«

»Meinen Abendmantel!«

»Die gnädige Frau können doch nicht so –«

»Thuen Sie, was ich sage! Der Diener soll inzwischen einen Wagen holen!« fuhr sie fort.

Sie warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel, ordnete oberflächlich die wirren Haare und eilte die Treppe hinunter nach dem Wagen.

Das Blut wallte und kochte ihr in den Adern und drängte wie ein Glutstrom nach den Schläfen. –

Mrs. White hatte ihre nervöse Aufregung überwunden. Keine Spur mehr von krankhafter Todesfurcht war an ihr zu bemerken. Während sie noch scherzte und lachte, fühlte sie, wie jene angenehme träumerische Müdigkeit ihre Sinne zu umnebeln begann, die dem Schlummer voranzugehen pflegt.

»Jetzt wäre ich gerade in der Stimmung, ein wenig Musik zu hören,« flüsterte sie, sich in ihrem Sessel zurücklegend.

Harald öffnete den Flügel und spielte mit gedämpften Akkorden ein eintöniges englisches Lied, während Kitty eine leichte Decke über die Füße der Mutter breitete.

In diesem Augenblick trat der Mulatte ein und brachte eine Karaffe voll eisgekühlten Wassers.

Kitty erhob sich und wandte sich nach der Thür. Im Vorbeigehen legte sie ihre weiße Hand auf des Arztes Schulter und sagte mit der gleichmütigsten, unbefangensten Miene:

»Lassen Sie sich, bitte, nicht stören! Mama wird in wenigen Minuten schlafen. Sie liebt es nun einmal, sich wie ein Kind einwiegen zu lassen.«

Er nickte und fuhr fort, dem Instrument leise, träumerische Klänge zu entlocken.

Kitty folgte dem Diener schweigend. Erst als sie annehmen durfte, daß weder ihre Mutter noch Harald sie hören könnten, richtete sie an den Diener die Frage:

»Hat man Ihnen einen zweiten Brief übergeben?«

»Nein, eine Dame fragte nach dem Herrn Doktor.«

»Eine Dame? Wo ist sie?«

»Ich habe sie ins Erkerzimmer geführt. Sie schien sehr ungeduldig zu sein und sah sehr erregt aus.«

»Schon gut!«

Rasch und energisch, wie in all ihren Handlungen, suchte Kitty die Fremde auf, konnte aber eine Bewegung des Erstaunens nicht unterdrücken, als sie in Magdalene dieselbe Dame erkannte, die bei ihrer kürzlich erfolgten Ausfahrt ihre und ihrer Mutter Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte.

»Darf ich fragen, was Sie hierher führt?« fragte sie, im Augenblick die Sicherheit verlierend, die ihr sonst jederzeit zu Gebote stand.

»Ich sandte vor länger als einer Stunde nach dem Doktor von Kroneck, und er weilt noch immer hier.«

»Allerdings, meine Mutter benötigt seiner Dienste.«

»Darf Ihre Frau Mama diese Dienste so ausschließlich in Anspruch nehmen? Andere haben, wenn nicht mehr, so doch mindestens das gleiche Recht darauf.«

Die junge Amerikanerin streifte sie mit einem kühlen Blicke. Trotzdem fühlte sie, wie das Herz ihr pochte. Eine Ahnung sagte ihr, daß die nächste Minute ihr eine unangenehme Ueberraschung bringen werde.

»Wie Herr Doktor Kroneck uns versicherte, handelt es sich um einen ganz unbedeutenden Fall,« sagte sie.

»So? Ich weiß nicht, was Herrn Doktor Kroneck berechtigt, ein Urteil über einen Krankheitsfall abzugeben, den er weder untersucht, noch durch eine Schilderung kennen gelernt hat. Ich meinerseits halte die Sache für sehr ernst.«

»Ich kann ja natürlich Ihre Angaben nicht widerlegen. Sobald Herr Doktor Kroneck dieses Haus verläßt, wird er zu Ihnen kommen.«

»Ich kann, ich darf nicht warten. Ich verlange vielmehr, daß er mir augenblicklich folgt.«

»So lange seine Hilfe hier nötig ist, muß er eben hier bleiben. Daß Sie das nicht einsehen wollen!«

Magdalene richtete sich hoch empor. Ihre kleine Gestalt schien förmlich zu wachsen, und ihre schwarzen Augen schossen sprühende Blitze.

»Daß ich das nicht einsehen will, fragen Sie? Nicht um mit Ihnen zu sprechen, bin ich hierher gekommen. Ich wünsche, daß Herr Doktor Kroneck mir folgt, ohne auch nur eine Minute länger zu zögern. Andernfalls werde ich mich nicht scheuen, mich persönlich an ihn zu wenden. Es scheint mir nichts anderes übrig zu bleiben.«

Von ihrer leidenschaftlichen Natur hingerissen, eilte sie vorwärts. Aber im nächsten Augenblick stand Kitty vor ihr, ihr den Ausgang zur Thür verwehrend.

»Halt,« rief sie gebieterisch, »keine Verletzung des Hausrechts! Ich sehe Sie heute nicht zum ersten Male, aber ich hielt Sie für eine Dame. Ihr Auftreten hier macht es mir indessen fast zur Gewißheit, daß ich mich getäuscht habe.«

»Ich könnte Ihre Meinung mit Leichtigkeit widerlegen, aber was liegt mir im Grunde daran, was Sie von mir denken! Für mich stehen ernstere Interessen auf dem Spiele. Gehen Sie also zu Herrn von Kroneck und fragen Sie ihn, ob er es mit seinem Gefühl als Arzt und Vater vereinbaren kann, hier am Flügel zu sitzen, während zu Hause sein Sohn jeden Augenblick die Augen für immer schließen kann.«

Kitty glaubte, ein Flor senke sich über ihre Augen. Ein jäher Blitz des Verständnisses zuckte durch ihre Seele.

»Sie wären –« brachte sie mühsam hervor.

»Ich bin Frau von Kroneck und darf nicht länger warten.«

Sekundenlang schienen Kittys Züge wie verzerrt vor Schmerz und Schreck. Dann nahmen sie ihren gewöhnlichen kühlen, ruhigen Ausdruck wieder an.

»Ich bedauere, daß Sie mir nicht gleich mitteilten, mit wem ich die Ehre habe. Ihre berechtigte Ungeduld soll natürlich nicht um einen Augenblick länger auf die Probe gestellt werden. Wollen Sie einstweilen Platz nehmen?«

Magdalene folgte der Aufforderung nicht. Sie blieb in der Mitte des Zimmers stehen und sah mit düsteren Blicken der jungen Amerikanerin nach, als diese sich jetzt entfernte. Jetzt wußte sie es, daß sie in dem Mädchen, das da soeben das Zimmer verließ, eine gefährliche und mächtige Nebenbuhlerin hatte. Nur einen flüchtigen Moment hatte die Amerikanerin ihre Selbstbeherrschung verloren, aber Magdalenens durch Mißtrauen geschärfte Augen hatten es wohl bemerkt.

Ein tiefer Atemzug hob die Brust der jungen Frau.

Sie hatte gesiegt, aber würde der Sieg von Dauer sein?

Eine Stimme klang in ihr, die sie mahnte, die Besiegte zurückzurufen, an ihr Pflichtgefühl, an ihren Edelmut zu appellieren und sie nicht als Feindin scheiden zu lassen. Aber sie folgte der Stimme nicht, konnte ihr nicht folgen. Stolz und Trotz bäumten sich in ihr dagegen auf. Gute Worte sollte sie geben? Sie, die sich auf dem Boden unantastbaren Rechtes befand? Nun und nimmermehr! Lieber den aufregenden Kampf fortsetzen, als einen demütigenden Frieden schließen! Wer verlangen darf, braucht nicht zu bitten. Das Bewußtsein, der Nebenbuhlerin in dem Kampfe um ihre Liebe eine empfindliche Wunde geschlagen zu haben, dieses Bewußtsein hätte sie nicht gegen eine Krone ausgetauscht.

Kitty hatte die Thür des Zimmers, in dem sie vielleicht den schmerzlichsten Schlag ihres Lebens erhalten, kaum hinter sich geschlossen, als ihre mühsam behauptete Fassung sie verließ. Schwer, wie die großen Tropfen eines Gewitterregens, rollten zwei Thränen über ihre Wangen, und in leidenschaftlichem Weh schlang sie die Hände ineinander. Erst jetzt kam es ihr voll zum Bewußtsein, wie sehr sie Harald liebte, und der Augenblick, da ihr diese Erkenntnis ward, bedeutete zugleich auch den Todesstoß für alle die Hoffnungen, die in ihr gelebt hatten. Alles, was sie wünschte, konnte sie sich gewähren, aber hier war ihrer Macht eine Grenze gezogen. Der Mann, dem ihr Herz gehörte, er war für sie verloren.

Wohl kam ihr der Gedanke, mit jener Frau, der er angehörte, um ihn zu kämpfen und nicht eher zu ruhen, bis sie den Sieg errungen. Aber gleich darauf schüttelte sie energisch das Haupt. Auf den Trümmern des Glückes einer anderen Frau wollte und konnte sie ihr eigenes Glück nicht aufbauen.

Sie drückte ihr Taschentuch an die feuchten Augen und ging, als sie auf diese Weise jede Spur der vergossenen Thränen verwischt, festen Schrittes in den Salon. Mrs. White schlummerte. Harald entlockte dem Instrument immer noch traumhaft-leise Akkorde.

Mit einem seltsamen Ausdruck in den großen Augen, der aus Liebe und Haß gemischt schien, umfaßte sie noch einmal die Gestalt des jungen Arztes. Dann trat sie an ihn heran und sagte leise:

»Wir dürfen Sie nicht länger zurückhalten, Herr Doktor. Man verlangt nach Ihnen.«

»Wie,« fuhr er auf, »zum zweiten Male?«

»Still, wecken Sie Mama nicht!«

Sie ging in das nächste Zimmer, mit einer kühlen Bewegung der Hand Harald auffordernd, ihr zu folgen. Leise schloß sie die Thür zum Salon, während Harald, kaum noch im stande, seine Aufregung zu verbergen, hastig fragte:

»Man hat also nochmals nach mir geschickt?«

»Ihre Frau Gemahlin ist hier, Herr Doktor. Hätte Mama geahnt, daß es sich um einen Krankheitsfall in Ihrer eigenen Familie handelt, so würde sie selbstverständlich nicht darauf bestanden haben, daß Sie hier blieben. Ich fürchte, sie wird sich lebhafte Vorwürfe darüber machen, obgleich Ihr Schweigen und die Thatsache, daß Sie den Fall als völlig belanglos hinstellten, sie vollauf entschuldigt. Was mich betrifft, so ist mir das Vorkommnis im höchsten Grade peinlich. Ich wäre Ihnen dankbar gewesen, wenn Sie die Rücksicht auf Mama nicht so weit getrieben hätten. Sie würden mir dadurch einen sehr unangenehmen Auftritt erspart haben. Und nun versäumen Sie, bitte, keine Minute mehr. Die Frau Doktor erwartet sie im Erkerzimmer.«

Bevor er noch etwas erwidern konnte, hatte sie das Zimmer mit einem leichten Neigen des Hauptes verlassen. Beschämt sah Harald ihr nach. Natürlich wäre an ein längeres Verschweigen seiner häuslichen Verhältnisse nicht zu denken gewesen. Aber daß Magdalene ihm mit der Enthüllung derselben eigenmächtig zuvorgekommen, empörte ihn, und als er ihr gegenüber stand, vermochte er nicht, seine Erregung über ihr Verhalten zu unterdrücken.

»Steht es wirklich so schlimm um Hans,« fragte er, »daß du mir hierher folgen mußtest?«

»Wie es um Hänschen steht, wirst du ja bald selbst beurteilen können. Gott gebe, daß wir ihn noch lebend antreffen.«

Kein Wort weiter wurde zwischen ihnen gewechselt. Schweigend verließen sie das Haus, schweigend fuhren sie heim.

Auf der Treppe zu ihrer Wohnung stürzte ihnen die Wärterin entgegen.

»Kränker geworden?« keuchte Magdalene und stützte sich schwer auf das Geländer.

»Ich weiß es nicht, aber das Fieber scheint sich noch verstärkt zu haben.«

Harald schob die Wärterin beiseite. Wilde Angst faßte ihn bei dem Gedanken, daß durch seine Pflichtvergessenheit das Leben seines Kindes gefährdet sein könnte, und ohne Hut und Mantel abzulegen, stürzte er an das Bettchen des Kleinen, um dessen Zustand einer sorgfältigen Untersuchung zu unterziehen.

»Ist Gefahr?« fragte Magdalene, die zitternd im Rahmen der Thür stehen geblieben war.

»Es hat nicht allzuviel auf sich,« sagte er, erleichtert aufatmend, »ich denke, Hänschen wird sich bald auf dem Wege der Besserung befinden. Es handelt sich um ein Erkältungsfieber, das zwar ziemlich heftig aufgetreten ist, dessen beunruhigende Erscheinungen aber einer Mutter wohl bekannt sein müßten.«

Sie hörte den Tadel nicht, der für sie in seinen Worten lag. Kaum fähig, den Jubel zurückzuhalten, mit dem das Urteil ihres Mannes sie erfüllte, eilte sie an das Bettchen und wollte Hänschen liebkosend in die Arme nehmen. Aber Harald verhinderte dies.

»Laß ihn doch!« sagte er grollend. »Du solltest dir doch selbst sagen, daß er unbedingt Ruhe nötig hat. Aber so bist du. Erst regst du das Kind durch deine unangebrachte Zärtlichkeit auf, und dann läufst du mir nach, um mich vor fremden Leuten bloßzustellen.«

Sie sah ihn herausfordernd an, sagte indessen nichts. Erst als sie sich mit ihm im Wohnzimmer befand, sagte sie:

»Hat sich Miß White über mich beklagt?«

»Das nicht gerade, aber aus ihren Worten ging doch hervor, daß du dich wie mich empfindlich kompromittiert hast. Du bist so mangelhaft erzogen, wie man es von dem Kinde eines Professors nicht erwarten sollte. Deine selige Mutter hätte dir wohl etwas mehr Lebensart beibringen können.«

»Schilt mich,« rief Magdalene, vor Entrüstung bebend, »schmähe mich, so viel du willst, aber hüte dich, in solchem Tone von meiner Mutter zu sprechen! Ich kann viel hinnehmen, aber das dulde ich nicht!«

»Die Wahrheit wolltest du ja niemals hören; ich kann sie dir aber leider nicht ersparen. Deine zügellose Heftigkeit, dein rücksichtsloses Wesen stürzen mich stets von neuem in die peinlichste Verlegenheit. Du begehst eine Unüberlegtheit nach der andern, und die Folgen deines voreiligen Handelns fallen dann auf mich zurück. Wozu war heute diese uns beide gleich demütigende Scene nötig? Hättest du nur noch eine Viertelstunde gewartet, so würde ich ohnehin gekommen sein.«

Ein ungläubiger Zug spielte um Magdalenens Lippen, und sie gab sich keine Mühe, ihn zu verbergen. Ihr Vertrauen zu Harald war dahin, und er sollte wissen, daß dem so war.

»Dem Himmel sei Dank,« sagte sie, »wenn meine Angst um Hänschen übertrieben war. Aber eine Veranlassung, meinen Schritt als einen unüberlegten und voreiligen zu bereuen, habe ich nicht. Ich that, was das geängstigte Mutterherz mir im Augenblick eingab, und erkannte bei dieser Gelegenheit, daß du ein falsches Spiel mit mir getrieben hast.«

»Willst du dich nicht etwas klarer ausdrücken?«

Die Frage klang höhnisch, doch vermied er es, ihrem Blicke zu begegnen.

Magdalene fuhr mit den nervös zitternden Händen über ihre Stirn und ihr dunkles, wirres Haar.

»Heute wurde mir eines klar,« antwortete sie.

»Und das wäre?«

»Miß White bildet sich ein, daß ihr etwas zu ihrem Glücke fehlt. Die Millionärin meint vermutlich, alles erkaufen zu können. Ist deine Liebe auch käuflich?«

»Was du nur immer für sonderbare Einfälle hast! Sicherlich sagte oder that Miß White nichts, was dich zu deiner Aeußerung berechtigt.«

»Nein, aber ich las es in ihren Gesichtszügen. Sie scheint bisher auch nicht gewußt zu haben, daß du verheiratet bist.«

»Du sahst von jeher Gespenster. Bei meiner Ehre kann ich versichern, daß meine Beziehungen zu der jungen Dame sich in den Grenzen der strengsten Höflichkeitsformen hielten, und eben deshalb hatte ich nicht die geringste Veranlassung, mit ihr über meine persönlichen Angelegenheiten zu reden. Ich kam und ging als Arzt.«

»Und umstricktest ihre Seele.«

»Lächerlich!«

Wieder begannen ihre Hände das unruhige Spiel.

»Du willst mich täuschen, Harald, aber das gelingt dir nicht mehr. Der Glaube an deine Aufrichtigkeit ist in mir erstorben, und ich weiß, daß er nie wieder lebendig werden wird. Jetzt, wo ich klar sehe, steht es bei mir fest, daß du von Anfang an mich belogen hast. Nur einen giebt's, der es gut und ehrlich mit mir meinte – Kurt! Doch dem lohnte ich schlecht. Ich brach ihm das Gelöbnis der Treue und stehe nun ebenfalls betrogen da. Aber ein Unterschied ist da: Kurt ergab sich in sein unverschuldetes Schicksal, und ich wehre mich wider mein verschuldetes. Vielleicht sollte ich aufhören, es zu thun, aber ich kann nicht.«

»Mit dir ist kein vernünftiges Wort zu sprechen.«

»Vielleicht doch! Ich glaube jetzt zu verstehen, warum du Frau von Degenfelds Entschluß so sehr bewundertest. Hieße es nicht, deinen Wünschen entgegenkommen, wenn ich mich zu einem gleichen Heroismus – so nanntest du es ja wohl? – bereit finden ließe? Antworte aufrichtig! Kannst du Nein sagen?«

»Leugnen will ich durchaus nicht, daß mir die Lösung einer übereilt geschlossenen und unglücklichen Ehe als Vorteil für beide Teile erscheint. Daß aber unsere Ehe eine glückliche genannt werden kann, wirst du kaum behaupten wollen. Wir sind eben,« fuhr er fort, als sie leise mit dem Kopfe nickte, »wir sind beide viel zu selbständige Naturen, als daß ein gegenseitiges Unterordnen möglich wäre. Freilich darf ich nicht unbetont lassen, daß das, was bei mir der Ausfluß einer starken Seele ist, bei dir nichts als Trotz und Eigensinn ist.«

Sie achtete gar nicht darauf, daß seine Worte anmaßend und verletzend zugleich waren. Sie dachte an jenen Augenblick, da er ihr in grausamer Rücksichtslosigkeit die Worte zugerufen hatte: »Wir thäten besser, für immer auseinanderzugehen!« Sie schauerte in sich zusammen, als fröstele sie. Aber gleichzeitig stand es auch fest bei ihr, daß sie, so unglücklich ihre Ehe auch war, niemals die Hand zur Trennung derselben bieten werde. Inzwischen fuhr Harald fort:

»Ich war, gleich vielen anderen, ein Mann mit guten Anlagen und stolzen Hoffnungen, die indessen, wie in unzähligen anderen Fällen, unerfüllt blieben. Mein Streben hätte Erfolg haben können, aber leider blieb er aus. An mir hat es sicherlich nicht gelegen, ich habe alles versucht, um ihn an meine Spuren zu fesseln. Doch gleichviel – Thatsache ist, daß wir uns heute den vielen geistigen Proletariern zurechnen dürfen, die nicht wissen, ob sie morgen noch die Möglichkeit haben, ihren Hunger zu stillen. Dein Vater kann, wie du behauptest, nichts für uns thun, mein Bruder will es nicht – was also soll werden? Wäre es mir vergönnt gewesen, dir durch meine Kenntnisse und Arbeit ein behagliches Dasein zu schaffen, keiner wäre glücklicher gewesen als ich. Aber nach den fortgesetzten Mißerfolgen muß ich die Hoffnung, einen auch nur halbwegs erträglichen Boden hier zu gewinnen, aufgeben. Dazu kommt, daß wir uns immer weniger verstehen, daß kaum ein Tag vergeht, ohne Klagen und Vorwürfe zu bringen. Diese fortwährende Gewitteratmosphäre ermüdet. Es läßt sich in der That nicht in Abrede stellen, daß diese Verhältnisse unhaltbar geworden sind, daß sie zur Selbstvernichtung führen.«

Magdalene war ganz in sich zusammengesunken und hatte das farblose Gesicht in beide Hände gestützt. Die dunklen Augen glühten fieberhaft.

»Da hieße es also, neue schaffen,« brachte sie tonlos heraus. »Am Ende müßten wir es wie Degenfelds machen?«

Er lachte gezwungen auf.

»Du sprichst wie ein Kind. Wie oft soll ich noch beteuern, daß deine Phantasie wieder allzu geschäftig ist, und daß gar keine Anhaltspunkte für deine Voraussetzungen vorhanden sind?«

Sie zerrte, ohne zu ihm aufzublicken, an den seidenen Quasten ihres Schlafrockes.

»Wenn ich mit meinen Vermutungen nun doch recht hätte – laß uns den Fall doch einmal ernstlich erwägen – wenn ich mich angesichts der ganzen Sachlage auf den Degenfeldschen Standpunkt stellen würde – das heißt, wenn du annehmen dürftest, daß ich es thue –«

»Nun?«

»Was würdest du mir dann für einen Vorschlag zu machen haben?«

Er sah sie forschend an. Es schien ihm, als sei die Ruhe der Vernunft in ihr eingezogen. Sogar die Hände hatten ihr nervöses Spiel aufgegeben und lagen schlaff ineinander verschlungen im Schoß. So erwiderte er denn langsam und seine Worte sorgfältig abwägend:

»Ich liebe dich, Magdalene, und nie wird eine andere Frau mir sein können, was du mir warst und noch bist. Aber sollen wir uns nicht, schon um des Kindes willen, zu einer That der Selbstverleugnung aufschwingen? Du wirst mir recht geben, wenn ich behaupte, daß die Sorge um das tägliche Brot wie giftiger Mehltau wirkt, der auch die schönsten Blüten welk und krank macht. An den unaufhörlichen Nadelstichen der Sorge, an den unübersteiglichen Schranken, die sie aufbaut, geht unser ehelicher Friede, gehen wir selbst zu Grunde. Das Schicksal ist stärker als wir, es reißt uns auseinander. Aber scheidend werde ich deine und Hänschens Zukunft zu einer unabhängigen machen.«

Sie sah, ohne zu antworten, vor sich nieder, während er sie erwartungsvoll anblickte. Plötzlich erhob sie sich. Jeder Blutstropfen war aus ihrem Gesicht gewichen, und müde und klanglos war ihre Stimme, als sie jetzt sagte:

»Damit hättest du natürlich deinen Pflichten genügt. Nur eins hast du dabei vergessen,« fuhr sie fort, und wie eisiger Hohn kam es von ihren Lippen, »und dieses eine ist, daß ich nun und nimmer auf den Handel eingehe. Dieser Ring ist die Kette, an der ich dich festhalte, und die ich freiwillig niemals aus der Hand gebe. Hörst du? Niemals! Glück, Friede, Vertrauen – alles liegt niedergebrochen, zu Boden getreten da, aber die göttlichen und menschlichen Gesetze lassen sich nicht umstürzen. Sie stehen mir zur Seite. Eher könntest du mein Leben, als deine Freiheit verlangen. – Jetzt haben wir uns ausgesprochen! Es giebt etwas, was noch mächtiger ist, als deine pflichtvergessene Selbstsucht, und das ist mein Gefühl und mein Recht.«

Mit wild lodernden Augen trat Harald auf sie zu.

»Du wagst es, mich zu verhöhnen?« knirschte er, und unwillkürlich ballten sich seine Hände.

Mit gellendem Aufschrei floh Magdalene aus dem Zimmer. Immer meinte sie verfolgende Schritte hinter sich zu hören, und nicht eher machte sie Halt, bis ihr Fuß strauchelte und sie zu Boden fiel, mit der Stirn an die scharfe Ecke eines Schrankes anschlagend.

Harald hatte indessen das Wohnzimmer nicht verlassen. Sein Blick war zufällig in den Spiegel gefallen, und erschrocken über sich selbst war er stehen geblieben. Er ging in sein Schlafgemach und warf sich angekleidet aufs Bett.

Lise, das Dienstmädchen, hatte den Schrei Magdalenens beim Niederfallen vernommen. Mit einem Licht in der Hand lief sie herbei und kniete neben der Regungslosen nieder.

»Um Gotteswillen, gnädige Frau, was giebt's denn?«

»Er will mich töten,« stöhnte Magdalene in fassungslosem Entsetzen, »er verfolgt mich!«

»Wer denn? Es ist ja niemand hier!«

Langsam richtete die junge Frau sich empor, sah mit wirrem Blick umher und brach dann in ein krampfhaftes Weinen aus.

Lise half ihr empor.

Als wäre er von Blei, so schwer hing der elfengleich zarte Körper an dem Arm des kräftigen Mädchens. Magdalenens Glieder schienen gelähmt. Sie ließ sich wie ein Kind zu Bett bringen und ein nasses Tuch um die verletzte Stirn binden.

»Soll ich den Herrn rufen?« fragte das Mädchen.

»Nein, nein! Bleibe bei mir! Ich will nicht allein sein, ich fürchte mich!«

»Wie die gnädige Frau befehlen. Ich will nur schnell in die Küche laufen und eine Citrone holen. Sofort bin ich wieder hier.«

Mit durstigen Zügen schlürfte Magdalene das kühlende Getränk, das Lise ihr bot.

»So – nun noch einen frischen Umschlag um die Stirn, und die gnädige Frau werden sicherlich gut schlafen.«

Des Mädchens Voraussetzung traf jedoch nicht zu. Immer wieder fuhr Magdalene jäh in die Höhe und starrte um sich.

Regte sich dort nicht die Gardine, als ob jemand sich dahinter versteckt hätte? Ein Mann mit wutverzerrten Zügen und drohend geballten Händen? Wenn er näher käme – –

Ein stöhnender Laut rang sich von Magdalenens Lippen. Angstvoll sprang Lise, die den Raum nicht verlassen hatte, hinzu.

»Was haben denn gnädige Frau?« fragte sie.

»Wir sind nicht allein,« brachte Magdalene stoßweise hervor. »Dort verbirgt sich jemand – siehst du, wie die Vorhänge schwanken? Das ist er!«

»Barmherziger Himmel, wer denn?«

Die Angst steckt an. Zitternd stand das Mädchen da und starrte auf die Gardine. Aber als sie sah, daß nichts sich rührte, fand sie ihren Mut wieder und riß die Vorhänge auseinander.

»Hier ist niemand, gnädige Frau!«

»Niemand? Aber ich habe doch eben – dort, dort! Jetzt sah ich im Spiegel etwas vorbeihuschen! Wir sind nicht allein, sage ich dir. Der Tod flattert mit Fledermausflügeln hier herum. Da – jetzt ist er oben an der Decke – gerade über mir – und nun – Hilfe, Hilfe!«

»Bleiben Sie doch nur liegen, gnädige Frau,« rief das Mädchen, Magdalene, die Miene machte, aus dem Bett zu springen, zurückhaltend. »Nichts ist im Zimmer, kein Mensch!«

Mit dem Aufgebot ihrer ganzen Kraft drückte sie die wilderregte Kranke nieder, die nun, gänzlich erschöpft, in tiefe Bewußtlosigkeit versank.

Jetzt vermochte aber auch Lise ihre Furcht nicht mehr zu unterdrücken. Sie lief durch die dunklen Zimmer und klopfte heftig an Haralds Thür.

»Herr Doktor, Herr Doktor, stehen Sie auf!«

»Was giebt's?«

»Die gnädige Frau muß schwerkrank sein. Sie rast förmlich. Schnell, Herr Doktor!«

Eilig folgte Harald dem Mädchen. Magdalene erkannte ihn nicht. Mit gläsernem Blick starrte sie vor sich hin und murmelte irre Worte.

»Eine heftige Nervenattacke, aber ohne Gefahr,« sagte Harald zu dem angstvoll dreinschauenden Mädchen. Er ging in sein Arbeitszimmer, holte ein kleines Fläschchen und flößte der Kranken einige beruhigende Tropfen ein.

»Solche Anfälle pflegen rasch vorüberzugehen,« wandte er sich abermals zu dem Mädchen, »aber für alle Fälle bleiben Sie hier. Sollte etwas vorkommen, so rufen Sie mich! Ich glaube indessen, die gnädige Frau wird nun schlafen.«

Er behielt recht. Magdalene schlief auch noch, als er vor Beginn seiner Sprechstunde wieder eintrat. Freilich war es kein erquickender Schlummer, sondern mehr eine von wilden Fieberträumen begleitete Betäubung.

Harald that der Zustand seiner Frau umsomehr leid, als er sich sagen mußte, daß seine Heftigkeit die Krankheit, wenn auch nicht hervorgerufen, so doch zum schnelleren Ausbruch gebracht hatte. Mitleidig sah er ihr in das fiebergerötete Gesicht, und ein leiser Seufzer stahl sich aus seiner Brust, als er nun ihre Hand in die seine nahm und die schlanken Finger mit leichtem Drucke umspannte. So saß er länger als eine Stunde an ihrem Lager. Und als ob seine Nähe von heilsamem Einfluß wäre, der Schlaf Magdalenens wurde allmählich ruhiger, bis ihre langen, gleichmäßigen Atemzüge ihm verrieten, daß der Anfall vorüber.

Leise, sorgsam bedacht, ihren Schlummer nicht zu stören, erhob sich Harald, um dem Mädchen noch einige Anweisungen zu geben. Dann verließ er das Haus, um die wenigen Kranken zu besuchen, die er zu behandeln hatte.

Auch Mrs. White suchte er auf. Weniger um zu sehen, wie es ihr ginge, als sich Gewißheit zu verschaffen, ob Magdalenens Schritt ihn bei ihr und ihrer Tochter unmöglich gemacht hätte. Er gab seine Karte ab mit der bangen Befürchtung, nicht empfangen zu werden. Doch wie immer führte der Diener ihn in den Salon, wo die beiden Damen ihn bereits erwarteten.

Kitty war etwas blasser als sonst. Aber in freundlicher Unbefangenheit wies sie ihm den gewöhnlichen Platz an und fragte:

»Wie befindet sich der Kleine, Herr Doktor? Mama hat sehr bedauert, daß Sie nicht gleich dem ersten Rufe Ihrer Frau Gemahlin folgten.«

»Es handelte sich, wie ich gleich voraussagte, um eine unbedeutende Erkältung.«

»Das freut mich aufrichtig,« sagte Mrs. White. »Hat sich Ihre Frau Gemahlin beruhigt?«

»Ich danke Ihnen, gnädige Frau, für Ihr freundliches Interesse. Meine Frau hat sich zwar noch nicht ganz erholt, doch es liegt kein Grund zu Besorgnissen vor. Und nun, meine Damen,« fuhr Harald fort, »lassen Sie mich für das Benehmen meiner Frau um Entschuldigung bitten.«

»Um Entschuldigung bitten?« wiederholte Mrs. White fragend. »Wer könnte es einer Mutter übel nehmen, wenn die Sorge um ihr Kind sie zu einem Schritte verleitet, den sie unter anderen Umständen gewiß nie thun würde?«

»Sie sind sehr gütig, gnädige Frau, daß Sie die Handlungsweise meiner Frau richtig beurteilen. Das giebt mir den Mut, auch meinerseits auf Ihre Verzeihung hoffen zu dürfen.«

»Ihrerseits? Wie soll ich das verstehen?« klang es kühl zurück.

Harald biß sich auf die Lippen.

»Ich habe nun seit Monaten schon die Ehre,« sagte er, »hier nicht nur als Arzt, sondern gewissermaßen auch als Freund empfangen zu werden. Trotzdem nahm ich noch niemals Veranlassung, mit Ihnen über meine persönlichen Verhältnisse zu sprechen.«

»Wir fragten nicht danach und konnten nicht das Recht auf vertrauliche Mitteilungen Ihrerseits beanspruchen. Nur bedauere ich lebhaft, daß meine Unkenntnis der Sachlage gestern zu einem so unangenehmen Vorfall führte.«

»Der mir im höchsten Grade peinlich war und ist. Aber es giebt Dinge, die zu berühren man sich scheut, weil sie eine Quelle beständiger Bitternis sind. Deshalb –«

»Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche, Herr Doktor,« sagte Mrs. White, und zu ihrer Tochter sich wendend, fuhr sie fort: »Du hast wohl die Güte, mein liebes Kind, nachzusehen, ob sich mein Ring wiedergefunden hat, den ich seit heute morgen vermisse.«

Kitty ging schweigend hinaus.

»Sie werden es begreiflich finden, Herr Doktor,« begann Mrs. White nach einer kleinen Pause, »daß ich meine Tochter an unserer Unterredung nicht teilnehmen lassen wollte. Wenn ich Sie recht verstehe, deuteten Sie an, daß Ihre Ehe keine glückliche ist. Das sollte mir von Herzen leid thun, denn Sie haben mir manche schwere Leidensstunde erleichtert und sich dadurch einen Anspruch nicht nur auf meine wärmste Dankbarkeit, sondern auch auf meine Teilnahme erworben.«

»Gestatten Sie, gnädige Frau, daß ich Ihnen die Geschichte meiner Ehe erzähle, und urteilen Sie dann selbst, ob ich Veranlassung habe, mich unglücklich oder glücklich zu fühlen.«

Mrs. White neigte zustimmend das Haupt und folgte aufmerksam der Schilderung, die Harald von seinem ehelichen Leben entwarf.

Doch das Urteil der Amerikanerin fiel anders aus, als er erwartet hatte.

»Ich kann,« sagte sie, als er schwieg, »augenblicklich nicht entscheiden, ob Ihre Frau Gemahlin die Schuld an Ihrer unglücklichen Ehe trägt. Dazu müßte ich sie erst persönlich kennen lernen. In jedem Falle bedauere ich Sie aufrichtig, Herr Doktor. Sie haben sich leider zu früh gebunden und müssen nun Ihr Los tragen.«

Sie erhob sich und reichte ihm die Hand. Den erstaunten Blick, den er bei ihren Worten auf sie geheftet hatte, bemerkte sie nicht oder wollte sie nicht bemerken. Noch einige Minuten sprach sie mit ihm über ihre Krankheit, dann wurde sie mehr und mehr einsilbig, und da auch Kitty sich nicht wieder sehen ließ, so sah Harald ein, daß er seinen Besuch unmöglich länger ausdehnen könne.

Er empfahl sich und befand sich wenige Sekunden später auf der Treppe, mit dem niederdrückenden Bewußtsein, daß er hier das letzte Mal gewesen und daß alle seine Hoffnungen vernichtet seien.

So hatte denn Magdalene gesiegt und mit einem einzigen kühnen Schritt alles niedergetreten, was er seit Monaten aufgebaut hatte.

Im höchsten Maße verstimmt, langte er in seiner Wohnung an.

»Die gnädige Frau ist noch immer sehr krank,« jammerte das Mädchen, das ihm sofort entgegengeeilt war, als es ihn die Thür aufschließen hörte. »Kommen Sie doch sofort, Herr Doktor, ich weiß nicht mehr, was ich thun soll.«

»Ich komme!«

Wie kalt und lieblos das klang! Selbst das Mädchen fühlte es und sah ihn bestürzt an.

Als er in Magdalenens Zimmer trat, schrie die junge Frau, aus halber Bewußtlosigkeit erwachend, laut auf.

»Wenn du dich vor mir fürchtest, so werde ich wieder gehen,« sagte er unsicher.

Da schlang sie ihre Arme um seinen Hals und rief schluchzend:

»Bleibe doch bei mir, Harald! Sieh, ich kann dich ja nicht frei geben, selbst wenn ich es wollte! Wenn der Kleine nicht da wäre, dann würde ich heute noch gehen – nicht um weiter zu leben, denn das wäre mir nicht möglich. Aber ich würde soviel von diesem Schlafmittel nehmen, daß es kein Erwachen mehr gäbe. Doch ich kann ja nicht. Wir sind nun einmal da, der Kleine und ich. Eine gute Mutter verläßt ihr Kind nicht, und wenn du auch einmal gesagt hast, ich wäre eine schlechte Mutter – es ist nicht wahr. Denn hätte ich tausend Leben, ich könnte sie für dich und Hans hingeben. Aber einer anderen gönne ich meinen Sohn nicht. Er soll niemals eine Fremde, die mich von meinem berechtigten Platze wegdrängt, Mutter nennen, niemals!«

»Wovon redest du nur wieder!« rief er, sich ihrer Umarmung entziehend, und drückte auf die Tischglocke. »Unser Schicksal ist entschieden. Vielleicht kam mir der Gedanke, es zu einem besseren zu gestalten, aber du stelltest dich meinen Plänen entgegen. So werden wir denn geduldig weiter leben, bis der eine oder der andere zusammenbricht oder bis wir beide zu Grunde gehen.«

»Harald, bin ich dir denn gar nichts mehr?« schluchzte sie auf.

Der Eintritt des Mädchens enthob ihn einer Antwort. Er gab einige Befehle und verließ dann das Zimmer. Das Wort der Liebe, das der Kranken schneller geholfen hätte, als alle Vorschriften und Arzneien, dieses Wort sprach er nicht.


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