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Neuntes Kapitel.

Harald versuchte noch mehrere Male, seine Gattin seinen Wünschen geneigt zu machen, und ließ es zu diesem Zweck weder an Liebkosungen noch an verletzenden Bemerkungen fehlen. Er erreichte indessen nichts damit.

Die junge Frau gewann mehr und mehr die Ueberzeugung, daß die Amerikanerin ihr das Herz ihres Gatten geraubt habe. Daß seinem Verhalten der Fremden gegenüber ausschließlich die Sucht nach Reichtum und einem sorgenfreien Leben zu Grunde liegen könnte, der Gedanke kam ihr nicht. Sie dachte auch jetzt noch viel zu hoch von ihm, als daß sie ihm solche Beweggründe zuzutrauen vermocht hätte. Sie glaubte vielmehr, daß es Schönheit und Liebenswürdigkeit wäre, was ihn zu jener hinzog, und je mehr sich diese Ansicht in ihr festigte, um so begieriger ward sie, die Nebenbuhlerin zu sehen und, wenn irgend möglich, kennen zu lernen.

Sie richtete es jetzt so ein, daß sie bei ihren täglichen Spaziergängen fast immer an dem Hotel vorüberkam, in dem Mrs. White abgestiegen war, und ihr Beginnen war schließlich auch von Erfolg gekrönt. Gerade, als ihr Weg sie auf der anderen Seite des Hotels vorüberführte, trat Harald aus dem Hausflur auf die Straße, begleitet von zwei Damen, in deren einer Magdalene unschwer Mrs. White erkannte. Mit solch zwingender Gewalt hefteten sich ihre Augen auf die Kranke, daß diese den Blick förmlich fühlte.

»Wer mag nur die junge Dame sein,« wandte sich die Amerikanerin an Harald, »die uns dort drüben so auffallend und scharf ins Auge faßt? Sie scheint, ihrer Kleidung nach zu urteilen, den besseren Ständen anzugehören; sonst möchte ich vermuten, daß sie ein Ansuchen hat und sich nur scheut, es vorzubringen.«

Harald, der gerade mit Kitty plauderte, wandte fast mechanisch den Kopf nach jener von Mrs. White bezeichneten Stelle. Im nächsten Moment zuckte er so heftig zusammen, daß ihn Kitty befremdet ansah. Er faßte sich indessen schnell und rief, sich zu einem leisen Lachen zwingend:

»Neugierde, gnädige Frau, nichts weiter! Es giebt eben Menschen, die mit ihrer Zeit nichts Besseres anzufangen wissen. Den Eindruck der Hilfsbedürftigkeit macht die Dame auf keinen Fall.«

Er winkte einen zufällig vorüberfahrenden Wagen heran und war den Damen beim Einsteigen behülflich. Kitty entging es dabei nicht, daß seine Hand leicht zitterte, und unwillkürlich kam ihr der Gedanke, daß jene Dame in irgend welchem Zusammenhange mit ihm stehe. Harald hatte jedoch schnell seine Selbstbeherrschung wiedergewonnen. Aeußerlich deutete nichts mehr auf die tiefe Erregung hin, in die Magdalenens Anblick ihn versetzt hatte. Mit gewohnter Liebenswürdigkeit und Gewandtheit unterhielt er die Damen, und den fragenden Blick, den Kitty am Anfange der Fahrt wiederholt auf ihn richtete, gab er so unbefangen zurück, daß das junge Mädchen ihren Argwohn ebenso schnell wieder fallen ließ, wie er aufgetaucht war.

Inzwischen stand Magdalene noch immer wie festgebannt an derselben Stelle, und ihre Augen verloren sich in der Richtung, die der Wagen genommen. War es denn denkbar, daß ihr Empfinden sie einen so falschen Weg geführt hatte, daß ihr Mißtrauen so gänzlich der Grundlage entbehrte? In allen ihren Voraussetzungen war sie ja in einem Irrtum befangen gewesen. Sie hatte eine zwar immer noch hübsche, aber doch alternde Frau gesehen, deren Gesicht den unverkennbaren Stempel schwerer Krankheit trug, und neben ihr ein hageres, unschönes Mädchen, dessen reizlose Erscheinung nun und nimmer dem Herzen eines mit so ausgesprochenem Schönheitsgefühl beseelten Mannes gefährlich werden konnte.

Nein, weder die eine noch die andere konnte Haralds Herz für sich erobert haben, das wußte sie jetzt, nachdem sie die beiden Damen gesehen hatte. Also war es vielleicht ihre Liebenswürdigkeit, ihr geistvolles Geplauder, das ihn zu ihnen hinzog? Auch diesen Gedanken wies Magdalene zurück. Liebenswürdige und geistvolle Damen gab es in ihrem Bekanntenkreise so viele, daß Harald vollauf Gelegenheit gehabt hätte, sich schadlos zu halten. Wenn er also den beiden Damen seine Gesellschaft in so bevorzugtem Maße widmete, daß selbst seine Frau darunter litt, konnte es dann aus einem anderen Grunde geschehen, als aus Pflichttreue und aus beruflichen Gründen?

Es wurde ihr plötzlich leicht und frei ums Herz, und sie mußte sich fast gewaltsam zur Ruhe zwingen, um nicht in lauten Jubel auszubrechen.

Das war ihr klar: ihre Eifersucht hatte nicht die mindeste Berechtigung gehabt. Wie einfältig von ihr, den Gatten so sehr zu quälen! Er that ja alles nur für sie, nur um ihr nichts versagen zu müssen. Und wenn er allein gehen wollte, so geschah es in der That nur Hänschens wegen. Seine Angst um das Kind war freilich übertrieben. Der Kleine war zwar Erkältungen leicht zugänglich, aber wenn sie während der Seereise ihn mit treuer Sorgfalt vor jedem schädlichen Einfluß behüten würde, so wäre sicherlich jede Gefahr ausgeschlossen, und daß sie das thun würde, wußte sie. Harald sollte sehen, eine wie gute Mutter sie war, und erkennen, wie unberechtigt sein Vorwurf gewesen, sie vernachlässige ihre mütterlichen Pflichten.

Eine Stunde mochte unter solchen und ähnlichen Betrachtungen verflossen sein, als Harald nach Hause kam. Mit einem Aufschrei der Freude sprang sie auf und warf sich an seine Brust. Ihr war, als müsse sie ein Unrecht, das sie ihm zugefügt, wieder gut machen.

Er schob sie kalt zurück.

»Laß mich!« sagte er in unfreundlichem Tone.

Betroffen, aus all ihren Himmeln gerissen, stand sie vor ihm und stammelte:

»Ich freute mich so sehr auf dein Kommen, Harald!«

Ihr demütiges Wesen, der sanfte, fast klagende Ton ihrer Stimme entwaffnete ihn, und einen Augenblick dachte er daran, sie in seine Arme zu ziehen. Aber der Groll war doch noch zu stark in ihm.

»Du bist lange ausgeblieben!« fuhr Magdalene fort und wies auf den festlich geschmückten Tisch. »Hast du Hunger?«

Er machte eine verneinende Bewegung und sagte:

»Selbst wenn es der Fall wäre, du sorgst dafür, daß er einem vergeht.«

»Ich?«

»Ja, du! Was ist dir nur in den Sinn gekommen, daß du dich vor der Wohnung von Mistreß White aufstelltest und sie beim Betreten der Straße anstarrtest, als wäre sie eine Bewohnerin des Mars? Die Dame bemerkte dein befremdliches Benehmen, durch das du mich in die unangenehmste Verlegenheit gesetzt hast.«

»Sei nicht böse, Harald!« bat Magdalene ängstlich. »Ich weiß, es war nicht recht von mir; aber sieh', deine Liebe ist für mich, was die Sonne für die Erde und Luft und Licht für die Blume ist. Du bist mir Lebensbedingung, und ich müßte zu Grunde gehen, würdest du mir genommen. Und weil ich das fürchtete, weil mich der Gedanke, jene andere könnte mir dein Herz abspenstig gemacht haben, folterte, deshalb wollte ich mir Gewißheit verschaffen. Aber nun ist ja alles wieder gut! Ich habe mich überzeugt, daß meine Befürchtungen grundlos waren, und bitte dich nur, mir zu verzeihen.«

Sie streckte ihm die Hand entgegen, die er in plötzlich aufwallender Zärtlichkeit an seine Lippen führen wollte. Aber Magdalene entzog sie ihm schnell.

»Nicht so,« bat sie leise, »küsse mich, wie ein Mann, der seine Frau lieb hat, küssen soll!«

Er lächelte und drückte einen Kuß auf ihre Lippen. Und dieser eine Kuß gab ihr den ganzen Frohsinn wieder, den seine unfreundliche Begrüßung verscheucht hatte. Sie lachte fast übermütig, ihre Augen blitzten, als wäre noch nie eine Thräne des Schmerzes in ihnen aufgestiegen, und ihre zierliche Gestalt streckte sich förmlich im Vollbewußtsein ihrer anmutigen Jugendfrische.

Harald konnte sich auch jetzt dem Zauber ihrer Persönlichkeit nicht entziehen. Er legte den Arm um sie und küßte sie auf das wellige Haar und auf die Augenlider.

»Du bist ein süßes, kleines Närrchen,« sagte er, »und deine lieben Augensterne scheinen nun einmal meinen Himmel bilden zu sollen. Ich zürnte dir ernstlich, als ich heimkehrte, doch nun ist aller Groll verflogen. Ich werde dich wieder malen, Magdalene – weißt du, als was?«

»Nun?«

»Als Maria Magdalena. So ungefähr stelle ich sie mir vor – immer im Zwiespalt mit sich selbst.«

»O nein, niemals!« rief Magdalene. »Maria Magdalena beschloß ihr Leben unter Thränen. Der Allmächtige bewahre mich davor, ihr jemals in dieser Hinsicht zu gleichen! Auch that ich nie etwas Unrechtes, wenn es mir auch leider nicht möglich ist, mich von aller Schuld dem Vater gegenüber freizusprechen. Schon oft kam mir der Gedanke, daß ich wider das vierte Gebot sündigte. Aber es heißt doch, das Weib soll Vater und Mutter verlassen und dem Manne folgen.«

»Um Gotteswillen,« rief Harald lachend, »kann man denn nie einen gelegentlichen Einfall äußern, ohne daß du ihn gleich allen möglichen Auslegungen unterwirfst!«

Bestürzt sah sie ihn an. Er aber fuhr mit erzwungener Fröhlichkeit fort:

»Kommen wir nicht wieder auf den Einfall zurück! Ich male dich meinetwegen als Rahel, als Salome, kurz, als was du willst. Fürs erste aber wollen wir einmal die Kunstwerke prüfen, die deine geschickten Händchen hier auf dem Tische aufgebaut haben. Der fortgesetzte Anblick und Duft all der guten Sachen regt schließlich doch den Appetit an.«

Sie lächelte schon wieder glückselig. Geschäftig entkorkte sie eine Flasche und goß ein, daß es wie flüssiges Gold in den Römern funkelte. Mit ihrem lachenden Gesichtchen und den strahlenden Augen glich sie einer Hebe.

Harald war viel zu sehr Genußmensch, um zu verschmähen, was die flüchtige Stunde ihm bot. Wer ihn und Magdalene heimlich beobachtet hätte, würde geglaubt haben, ein glückliches, in den ungetrübten Wonnen der Flitterwochen schwelgendes Ehepaar vor sich zu sehen.

Diesen freundlichen Eindruck empfing auch Sanitätsrat Dr. Steiner, als er nach flüchtigem Klopfen den dicken grauen Kopf durch die geöffnete Thür steckte.

»Wie – so spät noch bei Tische und zärtlich wie ein Paar Turteltauben!« rief er lachend. »Da will ich doch nicht stören. Ich komme zu gelegenerer Zeit wieder.«

»Bleiben Sie doch, wertester Herr Kollege!« rief Harald aufspringend, und Magdalene fügte hinzu:

»Der Freude, einen so werten Gast hier zu sehen, dürfen Sie uns auf keinen Fall berauben!«

»Wer könnte wohl einer so liebenswürdigen Einladung widerstehen!« rief der alte Herr und ließ sich schwerfällig auf den Stuhl nieder, den Harald ihm anbot. »Hoffentlich ist der Sessel fest genug, um meine zwei Centner zu tragen. Ich fürchte, ich werde auf meine alten Tage noch nach Karlsbad gehen und eine kleine Hungerkur durchmachen müssen.«

»Aber heute fangen wir noch nicht damit an, nicht wahr, Herr Sanitätsrat?« neckte Magdalene und legte eilfertig ein drittes Gedeck auf.

»Nein,« rief er lachend, »heute wollen wir noch einmal den Spuren des Lukullus folgen!«

Er band sich die Serviette vor und fuhr fort:

»Kinder, ist's hier gemütlich! Da bereut man wirklich, daß man als Junggeselle seine Tage beschließen muß. Na, Ihr Wohl, meine Gnädige! Prosit, Herr Kollege!«

Hell klangen die Gläser aneinander. Magdalenens Gesicht strahlte vor Freude, und sie gab ihrer Empfindung rückhaltlos Ausdruck.

»Das war eine gute Idee von Ihnen, Herr Sanitätsrat,« rief sie, »daß Sie gerade jetzt uns aufsuchten. Und nun langen Sie zu! Sie müssen sich auf Karlsbad würdig vorbereiten.«

»Sie sind in der That zu beneiden, Herr Kollege,« meinte der Sanitätsrat. »Himmel, wär' das Leben, wenn mir ein freundliches Geschick solch ein liebenswürdiges, frohsinniges Frauchen beschieden hätte! – Aber, damit ich den eigentlichen Zweck meines Herkommens nicht vergesse – sagen Sie, wie geht es unserer amerikanischen Patientin?«

»Sie beginnt sich recht wohl zu fühlen.«

»Freut mich! Freut mich wirklich aufrichtig! Lange anhalten wird die Besserung freilich nicht, aber drei, vier Jahre dürften der lebenslustigen Dame immerhin noch vergönnt sein. Und was macht Miß Kitty?«

Kroneck zuckte mit gleichgültiger Miene die Achseln.

»Je nun, ihr geht's anscheinend gut.«

»Merkwürdiges Mädel! Sieht fast wie ein verkleideter Junge aus. Von der Mutter hat sie jedenfalls keinen einzigen Zug. Diese muß in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen sein.«

»Schön und reich,« seufzte Magdalene, »das sind fast zu viel Glücksgaben auf einmal. Ein altes Sprichwort sagt, daß der eine mit einem goldenen, der andere mit einem hölzernen Löffel im Munde geboren wird. Mistreß White gehört zur ersteren Klasse.«

»Da sind Sie freilich in einem Irrtum befangen,« erwiderte der Rat, den die Freuden des Mahls immer redseliger machten. »Ihr ist es nicht an der Wiege gesungen worden, daß ihr Leben einmal so von Glanz und Reichtum umgeben sein würde. Wie ich von einem Bekannten erfuhr, der in Geschäftsverbindung mit dem Whiteschen Handelshause steht, ist sie das einzige Kind eines deutschen Auswanderers, der lange Zeit auf keinen grünen Zweig kommen konnte, aber ein unternehmender Kopf war, bald dies, bald jenes versuchte und sich stets, wenn auch mühsam, über Wasser hielt. Wahrscheinlich würde er im Kampfe ums Dasein schließlich doch untergegangen sein, wäre ihm nicht das Schicksal in Gestalt seines reizvoll erblühten Töchterleins zu Hilfe gekommen. Nelly war damals sechzehn Jahre alt. Sie stand einem kleinen Blumengeschäft vor, das ihr Vater gerade eingerichtet hatte, und bald war es in New-York eine ausgemachte Sache, daß die holdeste Blume des ganzen Ladens Nelly selbst war. Alt und jung bemühte sich um ihre Gunst, aber sie war klug genug, keinem den Vorzug zu geben und alle in respektvoller Entfernung zu halten. Auch Mister White hörte von der stolzen Schönheit, und es reizte ihn, sie zu gewinnen. Aber nur zu bald gelangte er zu der Ueberzeugung, daß es hier keinen raschen Sieg zu erkämpfen gab. Nelly wußte jede Huldigung von seiner Seite höflich, aber entschieden abzuwehren, und ebenso schickte sie ihm alle die kostbaren Geschenke, durch die er ihre Neigung gewinnen zu können glaubte, sorgfältig verpackt zurück. Das ging wochenlang so fort, bis der Amerikaner, in dessen Herzen die schönen Augen Nellys arge Verwirrung angerichtet hatten, eines Tages kurzen Prozeß machte und in bester Form um das junge Mädchen anhielt. Daß ein solcher Freier das Jawort erhielt, ist schließlich selbstverständlich.«

Eine kleine Pause trat ein. Harald, der ziemlich gelangweilt zugehört hatte, machte keine Miene, sie zu unterbrechen, nur Magdalene sagte leise:

»Er muß sie sehr geliebt haben!«

»Möglich,« bemerkte der Rat, »aber in erster Linie stand doch wohl sein Eigensinn. Und dann scheint Mistreß White nicht nur ein schönes, sondern auch ein kluges Mädchen gewesen zu sein. Sie verstand es, seine Liebe sich zu erhalten und zu schüren, und erlangte dadurch eine Herrschaft über den Mann, die sie anscheinend auch heute noch ausübt. Die zärtlichen Frauennaturen sind es gewöhnlich nicht, denen die Kunst eigen ist, das Herz des Gatten dauernd an sich zu fesseln. Dazu ist, ich möchte sagen, eine kühle, ruhige Ueberlegung erforderlich, eine gewisse Koketterie, die gerade den reinsten, aufopferungsfähigsten Frauen fehlt. Eine heißliebende Frau schöpft beständig aus dem unversiegbaren Quell ihrer Zärtlichkeit und spendet mit vollen Händen, was sie zu geben hat. – Aber ich langweile Sie wohl mit meiner Lebensweisheit? Sie sind ja beide ganz still geworden.«

»Was könnten wir Besseres thun,« bemerkte Harald, während ein spöttisches Lächeln um seine Lippen zuckte, »als schweigend die Erfahrungen des Alters in uns aufzunehmen?«

Magdalene blickte erschrocken zu dem Sanitätsrat auf. Sie glaubte, wie sie selbst, würde auch er den Sarkasmus aus den Worten ihres Gatten herausgehört haben, und fürchtete, der alte Herr könnte sich verletzt fühlen.

Dieser erwiderte ihren Blick jedoch so unbefangen, daß sie ihre Besorgnis sofort schwinden ließ. Gleichwohl empfand sie das Bedürfnis, ihres Mannes Worte abzuschwächen.

»Ihre Ausführungen interessieren mich in hohem Maße, Herr Sanitätsrat,« sagte sie, sein Glas von neuem füllend. »Sie meinen also, daß Mistreß White jene Kunst, den geliebten Mann an sich zu fesseln, besitzt?«

»Besaß, meine Gnädige; denn der Tod hat die Arme bereits gezeichnet.«

»Harald hofft aber doch, sie zu retten?«

»Ach, kaum glaublich! Hand aufs Herz, Herr Kollege, glauben Sie wirklich, daß Sie sie dem Tode werden entreißen können?«

»Das wohl nicht,« lautete Haralds Antwort, »aber verlängern läßt sich die Lebensfrist der Kranken jedenfalls.«

»Daran zweifle auch ich nicht. Doch kann es sich im günstigsten Falle um einige wenige Jahre handeln!«

»Das meinte ich auch nur. Aber wollen wir nicht dieses wenig angenehme Gebiet verlassen?«

Magdalene war jedoch nicht gewillt, auf Haralds Vorschlag einzugehen. Der argwöhnische Zug trat wieder scharf auf ihrem Gesicht hervor, und ihr Glas an das des Sanitätsrats anklingen lassend, sagte sie:

»Sie glauben also nicht, daß Mistreß White noch die Fähigkeit besitzt, einen Mann dauernd an sich zu fesseln?«

»Nein, meine Gnädige, das glaube ich nicht,« erwiderte Doktor Steiner lächelnd. »Ihre Zeit ist nur noch kurz bemessen, und wohl oder übel muß sie von dem Schauplatz ihrer einstigen Triumphe abtreten.«

»Ist das Ihre aufrichtige Meinung?«

»Gewiß, meine Gnädige. Im übrigen ist Mistreß White eine viel zu kluge Frau, um sich nicht zur rechten Zeit zurückzuziehen.«

»Weshalb kam sie dann aber nach Deutschland?«

»Soviel ich weiß, nur, um ihre Tochter einen Blick in andere Verhältnisse thun zu lassen, vielleicht auch, um hier einen geeigneten Mann für sie zu suchen. Die junge Dame ist eine eigene Natur und hat wiederholt erklärt, daß ihr die jungen Herren der amerikanischen Gesellschaft unsympathisch sind.«

Magdalene sah einen Augenblick nachdenklich vor sich hin.

»Aber sie ist häßlich!« sagte sie dann.

»Häßlich? Nun, das kommt auf den Geschmack an. Zum mindesten hat sie ein Paar schöne Augen. Meinem Geschmack entspricht sie allerdings auch nicht. Es giebt indessen viele Mädchen, die noch weniger hübsch sind und trotzdem zu fesseln wissen, und wenn auch in Miß Kittys Wesen nichts liegt, was auf einen Mann einen nachhaltigen Eindruck machen könnte, etwas hat sie doch vor vielen ihres Geschlechts voraus.«

»Und das wäre?«

»Sie ist eine der reichsten Erbinnen jenseits des großen Wassers,« erwiderte Doktor Steiner, und als Magdalene belustigt auflachte, fuhr er fort: »Ihnen kommt das komisch vor, gnädige Frau, und vielleicht haben Sie ein Recht, darüber zu lachen. Denn Sie wissen nicht, können nicht wissen, welch selbstsüchtigen Zielen die jungen Leute der modernen Zeit nachstreben. Die Geld- und Magenfrage steht heute überall im Vordergrunde. Einst wandte unser ritterliches deutsches Empfinden sich mit tiefer Verachtung gegen das spekulante Amerikanertum, das in jeder Lebenslage nur die materielle Seite berücksichtigt. Aber diese Zeiten sind längst vorüber. Glauben Sie mir, der alte Goethe kannte die Menschen, und ein Ausfluß seiner Menschenkenntnis und Lebenserfahrung war es, wenn er seinem Gretchen die Worte in den Mund legt: ›Am Golde hängt, nach Golde drängt doch alles.‹ Miß Kitty White entbehrt des persönlichen Liebreizes, und trotzdem wird unter Tausenden kaum einer sich besinnen, sie zu seinem Weibe zu machen, wenn ihm die Gelegenheit dazu geboten wird.«

»Sie müssen sehr gering von unserer männlichen Jugend denken, daß Sie ihr eine solche Würdelosigkeit zutrauen. Ich kann mich zu Ihrem Standpunkte nicht bekennen.«

»Das freut mich um Ihretwillen, meine Gnädige, daß Sie den Sinn fürs Ideale noch nicht verloren haben. Aber glauben Sie einem alten Manne! Die Welt ist alt und morsch geworden, und wer auf ihr wandelt, greift nach jeder erreichbaren Stütze, wenn er fühlt, daß er den Boden unter den Füßen verliert. Und nun genug davon! Es ist hohe Zeit, daß ich mich empfehle.«

»Gott sei Dank!« murmelte Harald, der seine Ungeduld kaum länger verbergen konnte. Laut aber fügte er hinzu: »Ich werde mir erlauben, Sie ein Stückchen zu begleiten, Herr Rat.«

»Das kann ich unter keinen Umständen gestatten!« rief der alte Herr. »Einmal dürfen Sie Ihr junges Frauchen nicht ohne zwingenden Grund allein lassen, und dann, je weniger Umstände Sie mit mir machen, um so lieber ist es mir. Gott befohlen und herzlichen Dank für die liebenswürdige Aufnahme, gnädige Frau! Adieu, lieber Herr Kollege! – Doch da fällt mir ein – die Geschichte von dem dicken Günther von Degenfeld kennen Sie doch?«

»Allerdings! Er schuldet Ihnen, wenn ich nicht irre, sechstausend Mark, die Sie nicht wiederbekommen können.«

»Ich habe sie bereits.«

»Na, dann gratuliere ich bestens! Aber wie ist denn das zugegangen? Es hieß ja doch, der Erlös aus dem Gute würde nicht einmal die darauf lastenden Hypotheken decken?«

»So wissen Sie es also noch nicht? Da muß ich Ihnen die Geschichte doch noch schnell erzählen.«

Harald brannte vor Ungeduld der Boden unter den Füßen. Er hatte den Damen seinen Besuch versprochen und konnte es kaum noch erwarten, bis sein Gast sich verabschieden würde. Aber er mochte nicht unhöflich erscheinen und zwang sich deshalb zur Ruhe.

»Daß Degenfeld sich seit längerer Zeit in einer geradezu trostlosen Lage befand,« begann der Sanitätsrat, »dürfte Ihnen nichts Neues sein. Seine Frau brachte ihm bei der Verheiratung ein prächtiges Rittergut mit, doch verstanden beide wenig von der Wirtschaft, und die Folge davon war, daß eine Hypothek nach der andern aufgenommen wurde. Als das nicht mehr möglich war, machte Degenfeld bei seinen zahlreichen Freunden und Bekannten ziemlich erhebliche Anleihen, ohne jemals daran denken zu können, die geliehenen Gelder zurückzuzahlen. Auch ich zählte zu den sogenannten Leidtragenden und hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, jemals wieder in den Besitz meines Geldes zu kommen, als plötzlich ein Umschwung in Degenfelds Verhältnissen eintrat, den niemand geahnt hatte.«

»Und das war?« fiel Harald ein.

»Degenfeld mochte wohl eingesehen haben, daß er sich nicht anders retten könne, als durch eine reiche Heirat, und da sich eine Dame fand, die ein bedeutendes Vermögen besaß und nicht abgeneigt war, ihren bürgerlichen Namen mit einem adeligen zu vertauschen, so griff er schnell entschlossen zu und ist jetzt von allen Schwierigkeiten befreit.«

»Aber Degenfeld war doch verheiratet?« wandte Harald in maßlosem Erstaunen ein.

»Allerdings, aber schließlich ist eine Ehe ja nicht unlösbar. Seine Frau wies freilich den Gedanken, sich von ihm zu trennen, mit aller Entschiedenheit zurück. Aber den immer erneuten Vorstellungen Degenfelds gegenüber, der ihr versprach, auskömmlich für ihre Zukunft sorgen zu wollen, wurde ihr Widerstand schwächer und schwächer, und endlich willigte sie in die Trennung der Ehe ein. Sehen Sie, meine Gnädige,« wandte er sich an Magdalene, die, ihren Ohren nicht trauend, seiner Erzählung gefolgt war, »so etwas ist in unserer Zeit möglich. Aber nun nochmals Gott befohlen!«

Die Thür schloß sich hinter ihm, und die beiden Gatten waren miteinander allein. Eine Weile saßen sich beide schweigend gegenüber, dann rief Magdalene völlig unvermittelt:

»Pfui, wie erbärmlich!«

»Wie?« fuhr Harald, der in seine eigenen Betrachtungen versenkt gewesen war, zerstreut empor.

»Dieser elende Handel, der da mit dem Heiligsten auf der Welt getrieben worden ist!«

»Ach, du meinst die Degenfeldsche Ehescheidung?«

»Ist's möglich, daß eine Frau sich so weit erniedrigt, wie diese Frau von Degenfeld es gethan haben soll?«

»Erniedrigt? Ich begreife dich nicht. Sie handelte sehr vernünftig, ja, wenn man berücksichtigt, daß der Ehe auch Kinder entsprossen sind, in gewissem Sinne heroisch.«

Magdalene sah ihren Gatten starr an. Sie fühlte, wie ihr die Röte der Scham über seine Worte ins Gesicht stieg.

»Das nennst du heroisch?« rief sie entrüstet. »Zwei Menschen schwören sich vor Gottes Altar Treue bis zum Tod, um kalt und gleichgültig auseinanderzugehen, sobald Sorgen an sie herantreten? Ist das nicht eine Verhöhnung der Heiligkeit der Ehe? Kann ein Priester, der es ernst mit seinem Amte meint, eine solche zweite Ehe einsegnen?«

»Das ist, wie du eben gehört hast, geschehen,« sagte Harald ruhig. »Es mag Degenfeld und seiner Gattin schwer genug geworden sein, sich zu trennen; aber wo die Not gebietet, müssen des Herzens Wünsche schweigen.«

»Wie kannst du da überhaupt von Herz sprechen! Nichts als Habsucht ist es gewesen, was beide veranlaßt hat, die Ehe zu lösen.«

»Es wäre völlig zwecklos, wollten wir das Gespräch fortsetzen,« sagte Harald, sich erhebend. »Ich muß überdies fort. Das Kind des Kaufmanns Wagner ist erkrankt. Ich hoffe indessen, bald wieder hier zu sein.«

Mit flüchtigem Gruße verließ er das Zimmer. Auf der Straße angelangt, schlug er thatsächlich den Weg ein, der zu des genannten Kaufmanns Wohnung führte; denn er argwöhnte, daß Magdalene ihm nachblicken würde. In der nächsten Querstraße aber warf er sich in eine Droschke und fuhr nach dem Grand-Hotel.

Hier wurde er von Miß Kitty allein empfangen.

»Mama fühlte sich etwas angegriffen und schlummert jetzt,« sagte das junge Mädchen. »Wenn es Ihnen recht ist, bleiben wir einstweilen hier. Papa hat unser Haus völlig neu einrichten lassen und uns die Photographien gesandt. Interessiert es Sie, die Bilder zu sehen?«

»Es wird mir ein Vergnügen sein!« beeilte sich Harald zu erwidern.

Sie holte eine elegante Ledermappe und breitete die Bilder vor ihm aus.

»Das ist Mamas Empfangssalon, dies der meinige. Hier sehen Sie Papas Arbeitszimmer und die Kontorräume, hier das Speisezimmer, an das sich die Wohnräume anschließen. Hinter dem Hause breitet sich der parkähnliche Garten aus, von dessen schönsten Partien Papa ebenfalls einige photographische Aufnahmen hat machen lassen.«

Haralds Auge haftete mit lebhaftem Interesse auf den Bildern.

»Eine herrliche Besitzung,« sagte er für sich, und laut fügte er hinzu: »Mancher Fürst dürfte Ihren Herrn Vater um sein Heim beneiden.«

»Mein Vater ist auch ein Fürst,« sagte Miß Kitty, »ein Fürst in der Welt des wirtschaftlichen Lebens. Ich bin stolz auf ihn.«

Sie hielt inne, als erwarte sie eine Antwort. Als Harald aber nur zustimmend den Kopf neigte, fuhr sie fort:

»Als Mann der eigenen Kraft, der mit rastlosem Eifer Stein auf Stein fügte, bis der Bau einer Weltfirma unerschütterlich vor ihm stand, weiß mein Vater auch andere nach ihrem vollen Werte zu schätzen. So hält er auch sehr viel auf Sie, Herr von Kroneck, und ist Ihnen aufrichtig dankbar für die erfolgreiche Behandlung der Mama. Das mag wie eine leere Phrase klingen; doch werden Sie es nach ihrem vollen Werte bemessen, wenn sie berücksichtigen, daß mein Vater niemals ein Freund von Redensarten gewesen ist. Ich bin überzeugt, auch Sie werden finden, daß er ein seltener Mann ist.«

»Wenn es mir überhaupt jemals vergönnt sein wird, die Bekanntschaft Ihres Herrn Vaters zu machen.«

Es war ein eigentümlicher Blick, mit dem das junge Mädchen ihn betrachtete. In ihren Augen lag es wie Bestürzung, gemischt mit einem trotzigen Siegesbewußtsein.

»So lehnen Sie Mamas Antrag ab? Nach Ihren wiederholten bitteren Bemerkungen zu urteilen, glaubte ich, Sie würden Deutschland je eher, desto lieber verlassen.«

»Ich würde es thun, gnädiges Fräulein, doch ich fürchte, die Verhältnisse sind stärker als ich.«

»Sollten Sie nicht bei ernstem Wollen die Verhältnisse überwinden können? Ich meine, jeder Mensch ist Herr seines Geschicks, sofern er nur mit der erforderlichen Entschlossenheit handelt.«

Ihre Stimme hatte einen fremden, verschleierten Klang angenommen, als sie das sagte, und unter den langen Wimpern leuchtete ein Strahl warmen Empfindens hervor, der ihrem Gesicht einen eigenartigen Liebreiz verlieh.

Harald blieb ihre Bewegung nicht verborgen. Er wußte, daß es von seiner Seite nur eines Wortes bedurfte, um die stolze Erbin an seine Brust sinken zu sehen. Aber er wußte auch, daß man mit Frauen wie Kitty nicht ungestraft spielen darf. Welchen Zweck hätte schließlich ein solches Spiel auch gehabt? Die Wahrheit ließ sich auf die Dauer nicht verbergen. Es war keine flüchtige Liebesgeschichte, um die es sich für ihn handelte, sondern es galt, das Glück an dem flatternden Gewande zu packen und festzuhalten.

Wäre Harald noch frei gewesen, so wäre jetzt der Augenblick zur Verwirklichung all seiner heißen Wünsche da gewesen. Aber er war gebunden, und es war keine Aussicht vorhanden, die Fesseln abzustreifen. So glich er einem Tantalus. Die lockende Frucht hing so nahe, daß er, um sie zu pflücken, nur die Hand auszustrecken brauchte. Und doch durfte er es nicht wagen; denn – Magdalene war keine Hertha von Degenfeld.

»Wie wortkarg und verstimmt Sie heute sind!« sagte das junge Mädchen, das nicht entfernt ahnte, welch finstere Gedanken sich hinter seiner gefurchten Stirn bargen. »Handelt es sich wieder um Unannehmlichkeiten im Beruf?«

»Ich fange fast an, die Lust an ihm zu verlieren,« preßte er bitter hervor.

»O, das dürfen Sie nicht!« wehrte sie ab. »So vieles Unangenehme Ihr Beruf auch mit sich bringen mag, er muß Ihnen doch das Höchste bleiben. Und vergessen Sie auch nicht, daß die Erde überall Raum und Gelegenheit zur Bethätigung für einen tüchtigen Mann bietet. Der Prophet gilt nun einmal nichts in seinem Vaterlande, aber er hat die Möglichkeit, sich eine neue Heimat zu gründen, wo er sich zur Geltung zu bringen vermag. Unsere eigentliche Heimat ist ja doch nur dort, wo es uns gut geht. Ich beispielsweise sehne mich nur deshalb nach New-York zurück, weil ich dort glücklich bin und ganz nach meinen Neigungen leben kann. Von einer Vaterlandsliebe, die nur an der Scholle hängt und auch dann von ihr sich nicht losreißen kann, wenn der mit Schweiß und mühseliger Arbeit bestellte Boden keine Früchte trägt, von einer solchen Vaterlandsliebe weiß ich nichts. Wäre ich ein Mann und würde ich sehen, daß all mein Ringen um Erfolg vergeblich ist, keinen Augenblick würde ich zögern, mein Glück an einem anderen Orte zu versuchen. – Wenn nun das Stückchen Erde, auf dem ich zufällig geboren bin und dem ich aus natürlichen Gründen meine beste Kraft widmen möchte, mir keinen Raum gönnt, um den Fuß fest aufzusetzen, schnüre ich kurz entschlossen mein Bündel und sehe, ob dieser Raum anderswo vorhanden ist.«

»Dazu müßten Sie aber im Besitze völliger Freiheit und Unabhängigkeit sein,« warf er wider seinen Willen ein.

»Und was beeinträchtigt Sie in Ihren freien Entschließungen? Können Sie es mir nicht sagen?«

Sie zog, um sich den Anschein der Unbefangenheit zu geben, ein kleines silbernes Cigarettenetui hervor und hielt es Harald hin. Aber dieser bemerkte doch, daß ihre Augen mit forschendem Ernst auf ihm ruhten.

»Weshalb sollte ich Sie mit der Schilderung von Verhältnissen behelligen, für die Sie unmöglich ein Interesse haben können?« sagte er ausweichend.

»Sie scheinen ein sehr geringes Maß von Teilnahme für die Angelegenheiten eines anderen bei mir vorauszusetzen. Ich gebe gern zu, daß ich nicht gerade übermäßig gefühlvoll bin, aber ich nehme doch menschliches Empfinden und freundschaftliche Teilnahme für mich in Anspruch. Deshalb richte ich nochmals an Sie die Frage: Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie veranlaßt, Mamas Anerbieten zurückzuweisen?«

Sie sah mit festem, eine Antwort verlangendem Blicke zu ihm empor, während eine leichte Röte über ihr Antlitz zog.

Wie ein Blitz zuckte in Harald die Erkenntnis auf, daß jetzt der Augenblick gekommen sei, ihr von seiner schwierigen Lage zu sprechen. Aber ein unbestimmtes Gefühl ließ ihn doch noch zögern.

»Haben Sie mir nichts zu sagen, Herr Doktor?« fragte sie nochmals, doch wandte sie den Blick zur Seite. »Ich würde Ihr Vertrauen zu ehren wissen.«

Leise, fast schüchtern brachte sie die letzten Worte hervor und besiegte damit den letzten Widerstand, den Harald ihr noch entgegensetzte.

»Ich hätte Ihnen gar vieles mitzuteilen, gnädiges Fräulein,« sagte er, »und wenn ich bisher schwieg, so geschah es, weil es, wie in vieler Menschen, so auch in meinem Leben einen dunklen Punkt giebt, den ich nur ungern berühre. Auch jetzt wird es mir schwer, darüber zu sprechen und nur die feste Ueberzeugung, daß Sie aufrichtigen Anteil an meinem Schicksal nehmen, giebt mir den Mut dazu.«

Seine Augen tauchten tief in die des jungen Mädchens, das den Blick verwirrt zu Boden senkte. Dann fuhr er fort:

»Um es kurz zu sagen, ich habe vor Jahren einen übereilten Schritt gethan, und die Folgen dieser Uebereilung hemmen mich jetzt in meiner Bewegungsfreiheit. Nicht verschlossen ist meinem Blick der Weg, der zu Licht und Sonnenschein führt, und doch kann ich ihn nicht gehen, weil ein Hindernis ihn sperrt.«

»Welches Hindernis? Wozu überhaupt diese gewundene Sprache? Mit schlichten Worten würden wir uns viel leichter und schneller verstehen. Ich bin nicht romantisch veranlagt, Herr Doktor, und sehe Welt und Verhältnisse immer vom Standpunkte meines Vaters an, das heißt: so unpoetisch und nüchtern, wie sie sind. Was also ist es, in kurzen, dürren Worten, was Sie mir zu sagen haben?«

Ihre sachlichen Einwendungen stießen seinen Feldzugsplan um wie ein Kartenhaus. Er hatte beabsichtigt, sie durch seine beredte Sprache auf den Kernpunkt vorzubereiten, ihr mehr anzudeuten, was ihn unfrei machte, als es zu enthüllen. Jetzt hieß es, den Weg ungeschminkter Wahrheit betreten. Gerade auf diesem jedoch fühlte Harald sich so unsicher und schwankend, wie ein Seefahrer, der nach jahrelanger Meerfahrt wieder auf festem Boden steht.

Mrs. Whites plötzliches Erscheinen überhob ihn indessen der geforderten Antwort. Er eilte der Kranken entgegen und zog ihre schlanken Finger an die Lippen.

»Ich hörte zu meinem Bedauern, gnädige Frau, daß Sie sich nicht ganz wohl fühlen. Doch bin ich überzeugt, daß nichts weiter als die drückende Hitze auf Ihr Befinden eingewirkt hat.«

»Glauben Sie das wirklich?« fragte Mrs. White, und als er lebhaft seine soeben ausgesprochene Versicherung beteuerte, fuhr sie fort: »Es macht mich so ängstlich, daß meine Kräfte sich gar nicht heben wollen.«

»Wie können Sie das behaupten? Haben wir nicht bereits einen großen Fortschritt erzielt?«

»Es giebt Tage, wo ich das ebenfalls meine, aber dann kommt immer wieder ein entmutigender Rückschlag.«

»Derartige Schwankungen bleiben leider niemandem erspart. der sich in der Genesung befindet; doch ist bei Ihnen jeder Grund zu ernsten Bedenken ausgeschlossen.«

»Sie machen mir immer Mut, Herr Doktor,« sagte sie mit glücklichem Lächeln. Aber gleich darauf lagerte auf ihrem Gesicht wieder der müde Ernst, der in der Regel darauf ruhte, und ebenso müde klang ihre Stimme, als sie fortfuhr: »Wenn Sie bei mir sind, richte ich mich an Ihrer Zuversicht auf; bin ich aber allein, so überfällt mich ein Angstgefühl, das kaum zu ertragen ist. Mich foltert dann immer die quälende Frage, ob ich nicht, wenn die Blätter welken, gleichfalls Abschied von der schönen Erde nehmen muß.«

»Aber Mama!« rief Kitty bestürzt, und Harald fügte hinzu:

»Mein Wort, gnädige Frau! Ihre Befürchtungen entbehren jeglichen Grundes.«

Es war ihm völlig ernst mit dem, was er da sprach. Er glaubte fest daran, daß ihr noch mehrere Jahre beschieden sein würden.

Mrs. White warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Die rotverschleierte Lampe gab ihrem Gesicht einen rosigen Schein und täuschte auf diese Weise über ihre erschreckende Blässe.

»Ich sehe jetzt wirklich etwas besser aus,« gab sie zu.

»Quäle dich doch nicht beständig mit solch trüben Gedanken, Mama!« bat Kitty. »Du wirst sehen, in kurzem bist du wieder gesund wie ein Fisch im Wasser. Soll ich dir etwas vorsingen? Oder ist es dir lieber, wenn Herr Doktor von Kroneck dir etwas vorspielt? Er wird gewiß so liebenswürdig sein, deinen Wunsch zu erfüllen.«

Harald machte eine zustimmende Verbeugung, doch Mrs. White lehnte ab.

»Nein,« sagte sie, »keine Musik. Sie würde mich heute zu sehr erregen. Plaudern wir lieber ein wenig!«

»Ganz, wie du wünschest.«

Kitty klingelte und ließ Wein und einige Erfrischungen bringen. Von den letzteren genoß Mrs. White nur wenig, dagegen sprach sie dem Sekt zu, den ihr Harald zu trinken verabreicht hatte, und das schäumende, prickelnde Getränk verfehlte seine belebende Wirkung nicht.

Leider hielt sie nicht lange an. Die Kranke hatte einen ihrer schlimmsten Abende, und die bangen Todesgedanken, die durch die beruhigenden Worte des Arztes verscheucht worden waren, kehrten alsbald zurück. Auch die Lustigkeit, zu der sie sich zwang, änderte daran nichts. Sie konnte das fürchterliche Gefühl, daß der ewige Vernichter mit ehernem Schritt langsam, aber unaufhaltsam näher kam, nicht loswerden, und plötzlich, mit beiden Händen des Arztes Arm fassend, rief sie:

»Ich will nicht sterben! Helfen Sie mir!«

Harald riß die fast Ohnmächtige ans Fenster, dessen Flügel er schnell öffnete. Die frische Abendluft war heilsam, der Anfall ging vorüber, und Mrs. White sank in einen Armstuhl, den Kitty schnell herangeschoben hatte.

Das junge Mädchen hatte nicht einen Augenblick die Fassung verloren. Jetzt wandte es sich zu Harald und sagte:

»Wie kann man sich nur so entsetzlich um die kürzere oder längere Dauer des irdischen Daseins aufregen! Dem Papa sowohl wie mir wäre das ganz unmöglich. Aber Mama ist nun einmal so, und man muß damit rechnen. In jedem Falle bitte ich Sie, uns heute abend nicht zu verlassen; denn wenn einer hier beruhigend zu wirken vermag, so sind Sie es. Ich allein kann da gar nichts ausrichten. Versprechen Sie mir zu bleiben, bis Mama sich zurückziehen will?«

»Ich stehe ganz zu Ihren Diensten, mein gnädiges Fräulein.«

Harald mochte es selbst wohl nicht fühlen, wie er in diesem Hause immer tiefer in die Netze verstrickt wurde, die seine falsche Auffassung von Pflicht und Mannesehre ihm gelegt hatte, während daheim sein treues Weib mit Sehnsucht der Stunde harrte, die ihr den Gatten wiederbrachte.


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