J. F. Cooper
Wildtöter
J. F. Cooper

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XIII.
Ein Gefangener erhält Urlaub

Sobald vom Feinde nichts mehr zu sehen war, näherten sich Hetty und Judith von der einen und die Arche von der anderen Seite dem Kastell, Hetty stieg als erste auf die Plattform und ging ins Haus, um sich vom Wegzug der Mingos zu überzeugen. »Ich bin in allen Zimmern gewesen, Judith, sie sind leer. Nur der Vater schläft in seinem Lehnstuhl, aber sehr unruhig, wie mir scheint!«

»Sollte Vater etwas zugestoßen sein?« fragte Judith, als sie auf der Plattform stand, und die Mädchen gingen zusammen in das Gemach. Der alte Mann saß in einer Ecke des Zimmers, sein Kopf war auf die Brust herabgesunken. Eine Mütze war ihm tief über das Gesicht gezogen. Mit einer schlimmen Ahnung zog Judith die Mütze ab. Entsetzlich – Blut floß überall vom zuckenden, bloßgelegten Schädel, die Indianer hatten ihn bei lebendigem Leibe skalpiert.

»Wasser!« stöhnte er jetzt, – seine Stimme klang dumpf und fremd – »gebt mir doch Wasser, ihr närrischen Mädels! Wollt ihr mich denn verdursten lassen?«

Sie flößten ihm Wasser ein und er schien wieder etwas zu sich zu kommen. Er starrte ängstlich um sich, seine Augen öffneten sich weit, er schien zu begreifen, daß er sterben mußte, und wollte sprechen. »Vater«, sagte Judith mit tränenerstickter Stimme, »Vater, können wir dir helfen? Können wir etwas für dich tun?«

»Vater«, wiederholte langsam der alte Mann, »nein Judith und Hetty, ich bin nicht euer Vater. Seht in der Truhe nach, dort werdet ihr alles finden! Gebt mir noch Wasser, mehr Wasser!«

Die Mädchen gehorchten, das Bekenntnis des Sterbenden hatte sie eigenartig berührt. Während sie so ständig um den Vater bemüht waren, ihm die letzten Stunden zu erleichtern, waren mit der Fähre Hurry, Chingachgook und Wah-ta-Wah zur Biberburg zurückgekehrt. Hurry, der ohne Waffen gegen die Wilden gefochten hatte, glaubte auch Hutter unverletzt, um so mehr war er erstaunt, als er seinen Gefährten so übel zugerichtet vorfand. Er konnte noch einige Worte mit dem Alten wechseln, dann waren dessen Kräfte aufgezehrt und Stimme und Atem versagten ihm. Es war zu Ende gegangen.

Der Tag verstrich ohne weitere Ereignisse. Die Huronen rührten sich nicht, und so trugen sie denn gegen Abend den Toten auf die Arche hinüber. An der Stelle, an der auch Hettys und Judiths Mutter lag, wollten sie ihn in den See versenken. Hetty, die den Platz genau kannte, stellte sich zu Hurry an das Steuer und zeigte ihm, wie er es zu halten hatte. Als sie den Platz erreicht hatten, warf Hurry den Anker aus und ließ den in ein großes Tuch gehüllten Leichnam in den See gleiten. Während die Arche langsam nach dem Kastell zurückkehrte, trat Judith zu ihrer Schwester, die traurig auf das Wasser hinabsah, das neben der Leiche der Mutter nun auch die des Mannes barg, den sie, so lange für ihren Vater gehalten hatte.

»Schwester«, sagte Judith freundlich, »ich habe über manches mit dir zu reden, laß uns in ein Kanu steigen und ein Stück von der Arche abrudern. Die Geheimnisse zweier Waisen sind nicht für jedermanns Ohren bestimmt.«

»Du weißt«, begann Judith, als sie im Boote saßen, »daß Tom Hutter nicht unser Vater war. Dennoch hat sein Tod nun alles verändert: wir zwei Mädel können nicht allein hier am See bleiben, schon Vater ist es sauer geworden, sich durchzuschlagen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als in die Ansiedlungen zu gehen.«

»Ach«, erwiderte Hetty trübselig, »es tut wir weh, von hier zu gehen. Hier sind die Bäume und die Berge, und der See und die Quellen im Wald, da ist mir wohl. Du bist schön und klug, und eines Tages wirst du einen Mann haben, warum gehen wir dann fort?«

»Wer sollte mich denn zur Frau haben wollen?«

»Hurry . . . .«

»Rede nicht von ihm«, sagte Judith heftig, »wir haben uns ausgesprochen. Noch heute wird er uns verlassen, und das nächste Fort benachrichtigen. Aber lassen wir das jetzt. Die Sonne geht unter und die Arche treibt uns davon. Heute nacht werden wir erst einmal die Truhe ganz auspacken, vielleicht sehen wir dann weiter. Ich denke, es wird noch genug darin sein, um alle Huronen damit zu kaufen. Laß mich nur Wildtöter erst frei haben, er wird schon Rat wissen.«

Sie ruderten langsam auf die Arche zu, als Judith plötzlich inne hielt.

»Ist das nicht ein Kanu da drüben?«

»Ich habe es schon lange gesehen, aber wollte nicht davon sprechen. Es kam vom Indianerlager her und es saß ein einzelner Mann darin. Ich glaube, es ist kein Irokese, sondern Wildtöter.«

»Wildtöter! Das ist unmöglich! Wildtöter ist gefangen!«

»Schau nur selbst, Schwester, eben kommt das Boot wieder zum Vorschein!«

Das Kanu tauchte hinter der Burg auf und hielt auf die Arche zu. Es war wirklich Wildtöter!

»Willkommen, Freund Wildtöter, willkommen!« rief ihm Judith entgegen, als die beiden Kanus zusammentrafen. »Wir haben einen schlimmen Tag hinter uns, sind die Huronen menschlicher geworden oder habt ihr ihnen ein Schnippchen geschlagen?«

»Keines von beiden, Judith«, erwiderte der Jäger, »die Mingos sind und bleiben Mingos. Und mit dem Schnippchen schlagen ist es vorbei, ein Indianer läßt sich nur einmal übertölpeln.«

»Aber wie kommt ihr denn hierher?«

»Ganz einfach! Ich bin auf Urlaub.«

»Auf Urlaub? Ich weiß wohl, was das Wort bei einem Soldaten bedeutet, aber bei einem Gefangenen?«

»Es bedeutet genau dasselbe. Nämlich, daß ein Mann die Erlaubnis erhält, das Lager auf eine bestimmte Zeit zu verlassen, nach deren Ablauf er zurückkehren muß.«

»Und die Indianer haben euch so einfach ohne Bewachung laufen lassen? Wie wollen sie wissen, daß ihr zurückkehrt?«

»Sie haben doch mein Wort«, sagte der Jäger schlicht, »wären auch schöne Narren gewesen, wenn sie mich ohne das hätten gehen lassen.«

»Und ihr denkt wirklich daran, euer Wort zu halten und euch den Grausamkeiten der Wilden wieder auszuliefern?«

Wildtöter starrte die schöne Fragerin einen Augenblick an, ohne zu begreifen.

»Ich verstand nicht ganz, Judith«, sagte er, »oder meintet ihr, Chingachgook und Hurry würden es nicht zulassen? Da kennt ihr die beiden noch nicht. Der Delaware wäre der letzte, der etwas einzuwenden hätte, und Hurry – nun, der kümmert sich wenig um andere Leute und denkt mehr an sich selbst.«

»Und wann ist euer Urlaub um?« fragte Judith.

»Morgen mittag, und ich werde keine Minute früher, als es geboten ist, eure liebe Gesellschaft verlassen, um mich jenen Landstreichern wieder zu überliefern. Sie fürchten schon ein Eingreifen der Garnison und wollten die Frist um keinen Augenblick verlängern. Aber wir reden immer nur von mir, dabei seid ihr nach dem Tode Hutters selbst übel genug dran. Ich habe schon alles bei den Irokesen erfahren. Jetzt braucht ihr den Rat eines guten Freundes.«

»Was den Freund angeht, der seid ihr selbst. Hurry will uns verlassen. Wenn er fort ist, werdet ihr gewiß eine Stunde für mich übrig haben. Hetty und ich, wir wissen nicht mehr, was wir tun sollen.«

Indessen hatten sie die Arche erreicht und Wildtöter begrüßte seine Gefährten. Als er ihnen die Art seines Urlaubs auseinandersetzte, wurde Chingachgook nachdenklich. Zwar dachten die Huronen für die nächste Nacht an keinen Angriff, – Wildtöter hatte auch das verloren geglaubte Kanu mitgebracht –, aber sie hatten gewisse Vorschläge zu machen, auf die Wildtöter die Antwort holen sollte.

Inzwischen war es schnell dunkel geworden, sie hatten das Kastell erreicht und versammelten sich im Haus. Die Mädchen bereiteten das Abendessen. Während Hurry bei dem Schein eines brennenden Fichtenspans seine Mokassins instand setzte und Chingachgook in düsterem Nachdenken dasaß, unterzog der junge Jäger Hutters Lieblingsbüchse »Killdeer« – Wildtöter genannt – einer genaueren Betrachtung. Das Gewehr war etwas länger als gewöhnliche Büchsen, der Schaft mit eingelegtem Silber verziert und in allen seinen Teilen vollkommen gearbeitet. Es schien das Meisterstück eines hervorragenden Waffenmeisters zu sein.

»Ein großartiges Ding, Hurry,« rief Wildtöter aus, »eigentlich zu schade, daß es nun in Weiberhände kommen soll. Wenn es der richtige Mann in die Hände bekommt, er müßte zum König der Wälder damit werden!«

»Dann sollt ihr es behalten, Wildtöter«, sagte Judith, die zugehört hatte und den jungen Jäger mit glänzenden Augen ansah, »werdet ihr der König der Wälder damit. Es könnte nicht in bessere Hände kommen.«

Hurry, der schon gehofft hatte, Judith würde die Büchse ihres Vaters ihm als Andenken vermachen, machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl, schließlich war es ihm aber wichtiger, sich fertig zu machen, um nur fortzukommen.

Nach dem Abendessen versammelten sich alle noch einmal draußen auf der Plattform, um zu hören, was Wildtöter zu berichten hatte. Die Nacht war sternenhell, die Berge lagen schwer und schwarz ringsumher, und von tausend Gestirnen blitzte und funkelte das leis bewegte Wasser. »Nun, Wildtöter«, begann Judith, »was haben die Huronen uns also zu sagen?«

»Als die Mingos, die die Burg überfallen hatten, zurückkehrten«, erzählte Wildtöter, »hielten sie untereinander Rat, und auf ihren Gesichtern war zu lesen, daß sie schlimme Gedanken hegten. Nachdem sie geraume Zeit geraucht und gesprochen hatten, eröffneten sie mir ihren Beschluß. Sie glauben, daß der See mit allem Drum und Dran in ihrer Gewalt sei, und daß man mir vertrauen könne. Darum schicken sie durch mich diesen Wampun-Gürtel« – Wildtöter holte einen mit Perlen und Muscheln besetzten Gürtel hervor und zeigte ihn Chingachgook – »sie lassen dir sagen, Große Schlange, daß du dich auf deinem ersten Kriegsgang gut gehalten hast und ungekränkt über die Berge in deine Heimat zurückkehren kannst. Wah-ta-Wah aber, die sich heimlich aus dem Lager entfernt habe, müsse bei den Huronen bleiben. Die nächste Botschaft gilt euch, Judith«, fuhr Wildtöter fort, »sie sagen euch, der Herr der Biberburg sei nun auf den Grund des Sees hinabgetaucht und werde nie wieder kommen. Da müsse es den Mädchen bald an Wigwams und Nahrung fehlen. Die Hütten der Huronen seien besser als die der Bleichgesichter, so möget ihr denn zu ihnen kommen, und einer der tapfersten Krieger, der erst vor kurzem sein Weib verloren hat, werde euch – die Wilde Rose – gern auf die Bank an seinem Herde setzen. Der schwachsinnigen Schwester werde es bei den roten Kriegern nie an guter Aufnahme fehlen.«

»Und ihr gebt euch dazu her, mir eine solche Botschaft zu überbringen?« rief Judith bekümmert, »haltet ihr mich für gut genug, die Sklavin einer Rothaut zu werden?«

»Ich habe nur berichtet, was man mir aufgetragen hat«, entgegnete Wildtöter, »was ihr antworten sollt, darüber habe ich noch kein Wort verloren. Wenn ich Hurry Harry wäre, würde ich antworten: Wildtöter, gehe hin und sage den Gaunern, daß sie mich nicht kennen. Ich bin ein Mann von weißer Haut und werde nie zwei arme Mädchen im Stich lassen, um meinen Skalp und mein Leben zu retten. Sie mögen ein ganzes Fuder Tabak aus ihrer Friedenspfeife rauchen, ich werde mich nie auf ihre Vorschläge einlassen. Jawohl, das würde ich antworten, wenn ich Hurry Harry heißen würde.«

Hurry war nicht wenig verlegen über diesen Wink. Er wäre auch gewiß geblieben, wenn Judith ihm ein Wörtchen gesagt hätte, aber sie schwieg. Verstohlen sah er zu ihr hinüber. Das erboste ihn aufs neue.

»Sagt ihnen also gefälligst, Wildtöter, daß Hurry Harry es für einen Blödsinn hält, sich als einzelner Mann mit einem ganzen Stamm herumzuschlagen. Wenn Judith ein Einsehen hat, kommt sie mit ihrer Schwester mit zum Fort, andernfalls werde ich mich entfernen, sobald die Kundschafter der Mingos sich aufs Ohr gelegt haben.«

»Nein, Hurry«, erwiderte Judith abweisend und entschieden, »wir gehen nicht aufs Fort, und danken für dein Anerbieten.«

»Das ist also erledigt«, meinte Wildtöter, »Hurry muß wissen, was er zu tun hat. Aber nun zu Wah-ta-Wah. Was sagst du dazu, Mädchen?«

Wah-ta-Wah erhob sich. »Sage den Huronen, Wildtöter«, begann sie in großartiger Entrüstung, »sage ihnen, daß sie blind sind wie die Maulwürfe. Bei meinem Volke stirbt die Rose auf dem Reis, aus dem sie entsprungen ist, und die Tränen des Kindes fallen auf das Grab der Eltern, und das Korn reift, wo der Samen ausgestreut ist. Die Mädchen der Delawaren sind nicht wie die Wampun-Gürtel, die man von Stamm zu Stamm sendet. Auch das Rotkehlchen und die Schwalbe kehren jedes Jahr zu ihren alten Nestern zurück, soll ein Weib treuloser sein als ein kleiner Vogel? Wah-ta-Wah hat nur ein Herz, und das gehört dem Sohne des Unkas!«

Wildtöter hatte dieser delawarischen Rede mit Entzücken zugehört und wandte sich nun an seinen Freund. »Chingachgook, jetzt hast du das Wort!«

»Höre, was die Große Schlange den Wölfen mitzuteilen hat, die durch unsere Wälder jagen. Sie sind nicht einmal Wölfe, sondern Hunde, denen die Delawaren die Ohren und Schwänze verstümmeln werden. Sie können wohl junge Weiber stehlen, sie aber nicht verwahren. Chingachgook nimmt, was ihm gehört, ohne die Hunde aus Kanada erst um Erlaubnis zu fragen. Er wird Wah-ta-Wah bei sich behalten und sie wird ihm sein Wildbret kochen, sie beide werden Delawaren genug sein, um das ganze Rudel Huronen nach Hause zu treiben!«

Sie erhoben sich, und Hurry verkündete seinen Entschluß, in einer Stunde die Gesellschaft zu verlassen. Gegen neun Uhr fuhr er dann mit Wildtöter, der ihn an Land ruderte, davon. Der Riese wurde an jene Uferstelle gerudert, wo sie bei ihrer Ankunft den See erreicht hatten. »Ihr werdet dafür sorgen, Hurry, daß gleich nach eurer Ankunft in der Garnison eine Abteilung Soldaten gegen die Mingos abgeschickt wird, und ihr würdet sie am besten begleiten, da ihr jeden Pfad hier kennt«, sagte Wildtöter zum Abschied. »Mir ist ja nicht viel zu helfen, aber Judith und Hetty könnt ihr retten.«

»Was euch angeht«, erwiderte Hurry mit Teilnahme, »so ist das doch eine üble Geschichte. Ich wünschte von ganzem Herzen, der alte Hutter und ich hätten die ganze Mingobrut damals skalpiert.«

»Besser wäre es für mich und uns alle, ihr hättet es niemals versucht«, entgegnete Wildtöter, »und daß ihr das junge Mädchen erschossen habt, hat uns furchtbar geschadet.«

»Aber ihr wollt euch doch nicht im Ernst diesen Bestien wieder ausliefern? Das wäre ja der reine Wahnsinn!«

»Es gibt Leute, die es wahnsinnig nennen, wenn jemand sein gegebenes Wort hält. Von mir soll keine Rothaut sagen können, daß ich meines gebrochen habe.«

Mit flüchtigem Handschütteln riß sich Hurry los, die edle Gesinnung Wildtöters zu verstehen, war ihm unmöglich. Wildtöter lauschte ihm eine Weile nach, wie er im Gehölz verschwand, und schüttelte den Kopf über den Lärm, den er dabei unvorsichtigerweise machte. Dann ruderte er langsam zur Burg zurück.


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