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XXVIII

Wie an jedem Morgen schritt der Philosoph, umgeben von einer kleinen Schar engster Freunde und Akusmatiker, durch die Straßen der Stadt gegen den Meeresstrand hinab, um dort die heiligen Gebete und Waschungen zu verrichten.

Ein außergewöhnlich schöner und erfrischender Tag schien bevorzustehen. Denn eine kühle Brise strich über Kroton und alle Umrisse leuchteten in zehnfacher Schärfe.

Trotzdem sah er in den Straßen, durch die sie gingen, kein fröhliches Antlitz. Wie verwandelt war die selbstsichere Heiterkeit, die vor wenigen Wochen noch alle Bürger gekennzeichnet hatte. Und es war auch hinlänglicher Grund für diese gedrückte Stimmung: Seit vorgestern weilte die sybaritische Gesandtschaft im Weichbilde der Stadt!

Telys nämlich, nicht damit zufrieden, den Mord an den Krotoniaten geduldet zu haben, hatte die Herausforderung noch ins Ungemessene gesteigert, so daß kaum einer mehr daran zweifelte, er wolle durch einen ruhmvollen Krieg, eine Vernichtung der verhaßten krotonischen Nebenbuhlerin, seine Stellung als Tyrann gegenüber den noch immer nicht vollends unterdrückten Aristokraten befestigen. Hatte er doch die unerhörte Kühnheit aufgebracht, zu Führern der Gesandtschaft Kleon und Archibulos zu bestellen, von denen der erste selbst einer der Gesandtenmörder war, während der andre einen der Mörder, den jüngst verstorbenen Timokles, zum Vater hatte. Aber nicht genug war das alles dem übermütigen Tyrannen. Er ließ dazu noch durch diese Gesandten den Krotoniaten die sofortige Auslieferung der fünfhundert Verbannten befehlen, widrigenfalls Kroton den Krieg als erklärt betrachten sollte.

Seit der ersten Botschaft der Sybariten beriet der Rat der Tausend ohne Unterbrechung. Hin und wider wogten die Meinungen. Ja, es wurden sogar Stimmen laut, die es als einzige Lösung betrachteten, für den Augenblick den Schimpf auf sich zu nehmen und die Verbannten auszuliefern. Denn besser sei es noch stets, fünfhundert Fremdlinge als die ganze eigene Stadt dem Untergange preiszugeben. Pythagoras aber, der am gestrigen Abende um seine Ansicht gefragt worden war, hatte vor seinen Akusmatikern erklärt, es sei in dieser Angelegenheit nur eine Entscheidung möglich und er begreife nicht, wie man sich mit Menschen herumzanken könne, denen er nicht einmal gestatten würde, vor die Altäre zu treten; geschweige denn, Schutzflehende von diesen Altären fortzureißen. Außerdem wäre auch jedes Nachgeben nutzlos, denn Telys habe es darauf abgesehen, einen Krieg zu erzwingen und würde auch im Falle des augenblicklichen Zurückweichens neue unerfüllbare Forderungen stellen.

Da die sybaritischen Gesandten im Vertrauen auf die Macht ihrer Heimatstadt und bauend auf die ihnen wohlbekannte Rechtlichkeit der Krotoniaten ihre Anmaßung in jeder Beziehung auf die Spitze trieben, war es nicht verwunderlich, daß einer von ihnen sich zum Vortrage des Philosophen begeben hatte und mit sattem Lächeln die für ihn höchst wunderliche Götterweisheit anhörte. Er verließ erst in auffälliger und störender Art die Zusammenkunft der Akusmatiker, als er vernahm, wie Pythagoras über Sybaris dachte.

Selbstverständlich hatte er den Führern der Gesandtschaft sogleich vom Gehörten Mitteilung gemacht und hinzugefügt, daß ihre Sendung scheinbar auf dem besten Wege zum Erfolge sei; denn dem Ratschlage eines Pythagoras werde man in dem mit Dummheit geschlagenen Kroton sicherlich blindlings gehorchen. Dann aber stände ja dem erwünschten Kriege nichts mehr entgegen. – –

Nach all diesen Geschehnissen war es begreiflich, daß der Philosoph nur gedrückte Mienen erblickte, als er die Straßen durchschritt.

Er unterhielt sich, als sie eben auf die Agora heraustraten, in leisem Tone mit seinen Vertrauten und merkte gar nicht, daß zwei prunkvoll gekleidete Männer mitten im Wege standen und dem kleinen Zuge hämisch lächelnd entgegenblickten.

Plötzlich, als sie schon ganz nahe herangekommen waren, ertönte die Stimme des einen:

»Auf ein Wort, erhabener Pythagoras aus Samos! Nur auf ein kleines Wort! Wir haben mit dir als Gesandte der Sybariten zu sprechen!«

Pythagoras blickte erstaunt auf, da er nicht gewohnt war, auf diesem heiligen Gange je eine Störung zu erleiden. Deshalb auch verstand er nicht gleich den vollen Sinn der Rede.

»Nun, hörst du nicht?« fügte der zweite Sybarite bei.

»Es sind Kleon und Archibulos, die uns da den Weg vertreten!« flüsterte einer der Akusmatiker dem Pythagoras zu, der stehengeblieben war und die beiden, die höhnisch grüßten, zürnend ansah.

»Gewährst du uns die Unterredung, Erhabener?« fragte Kleon ungeduldig.

»Mach schnell, wenn du etwas zu sagen hast!« erwiderte Pythagoras, der schon ahnte, daß das Gespräch nicht ohne Streit ablaufen würde.

»Da du also so gnädig bist, uns Gehör zu schenken«, setzte Kleon fort, »so gestatte, daß wir dich zuerst auf die Ungehörigkeit deiner gestrigen Worte hinweisen. Du dürftest wissen, daß Gesandte stets unter besonderem Schutze stehen und nicht von jedem Beliebigen beleidigt werden dürfen. Und dann wage ich es noch, nachdem ich dir die Vorgeschichte erzählt haben werde, dich zu bitten, gleichsam als Schiedsrichter die Tötung der krotoniatischen Gesandten zu beurteilen. Willst du hören, warum unsrem langmütigen Volke endlich die Geduld riß, warum ...«

»Fort, dir sprech' ich nicht Recht!« donnerte Pythagoras, der nur mühsam die letzten Sätze noch ertragen hatte.

Kleon aber wurde fahl im Antlitze. Einen Augenblick schien es, als wolle er die Hand zum Schlage heben. Plötzlich hatte er sich jedoch wieder so weit in der Gewalt, daß ein fratzenhaftes, verzerrtes Grinsen auf seinem Antlitze spielte. Und er lachte heiser auf:

»Also für Apollon hältst du dich? Oder gar für die Pythia?« Und er schüttelte sich in geheuchelter Lustigkeit.

Archibulos aber, der bemerkte, daß die Schlagfertigkeit seines Freundes, in krampfhaft verhaltener Wut zu ersticken drohte, der weiters sah, daß sich von allen Seiten schon Neugierige herandrängten und zu einer drohenden Menge anwuchsen, wollte in sybaritischer Art den Auftritt mit einem frechen Scherzwort beendigen. Deshalb sagte er mit verstellter Treuherzigkeit:

»Wenn dir schon Kleon zuwider ist, großer Weisheitserforscher, so könntest du gleichwohl vielleicht mir einen Gefallen erweisen?!«

Und als ihn Pythagoras erstaunt anblickte, setzte er fort:

»Man hat mir nämlich berichtet, deine Seele habe die Fähigkeit, zu wandern. Und da wollte ich dich bitten, wenn du wieder einmal in die Unterwelt hinabsteigst, einen Brief mitzunehmen, den ich an meinen eben verstorbenen Vater richten will. Vergiß aber nicht, auch die Antwort zurückzubringen!« Und er sah noch immer in der angenommenen Maske dem Weisen ins Antlitz.

Dieser aber erhob sich plötzlich zu ganzer Größe, trat nahe an den Spottenden heran und lachte so wild auf, daß alles Volk erschrak.

Dann sagte er mit lauter, harter Stimme:

»Deine Bitte ist unerfüllbar, Sybarite! Denn ich beabsichtige nicht, in der Unterwelt den Ort der Verdammten aufzusuchen, wo Mörder bestraft werden. Verstehst du mich, frecher Spötter?«

Während aber ein heller Ruf des Beifalls und lautes Hohngelächter von allen Seiten auf scholl und die Menge mit den Rufen: »Jetzt ist's genug!« »Werft sie ins Meer!« »Nieder mit den Frevlern!« die Gesandten von Pythagoras abzudrängen begann, schritt er ohne ein Zeichen von Bewegung weiter. Nur einmal wandte er sich noch um und rief befehlend:

»Laßt sie laufen! Wehe dem, der Kroton schändet und das Recht der Gesandten in sybaritischer Art verletzt! Die Strafe werden die Götter über sie verhängen für den Übermut! Nicht wir!«

Sofort zerstreuten sich die Angreifer und sahen nur lachend den beiden Sybariten nach, die sich, fast laufend, mit bleichen Antlitzen davonmachten, daß die Prunkgewänder im Staube nachschleiften.

Pythagoras aber ward sodann von der ganzen Volksmenge in ehrfürchtigem Schweigen bis zum Strande des Meeres geleitet. Und alle beteten, als er sein Haupt vor den Göttern neigte. Denn sie wußten jetzt, daß der Krieg mit dem furchtbaren Sybaris fast unvermeidlich geworden war. –

Sosehr waren alle in das Gebet und in die Gedanken vertieft, die als dumpfer Unterton gleichsam die Verehrung der Götter mitschwingend begleiteten, daß kaum einer wahrgenommen hatte, wie eine Reihe mächtiger Schiffe das nahe Vorgebirge umrauschte und in schneller Fahrt dem Hafen von Kroton zustrebte.

Plötzlich ertönte ein Ruf aus der Menge. Denn die Morgensonne hatte die Borde der Fünfzigruderer gestreift und ein helles, glimmerndes Aufblitzen von Panzern und Helmen, Schwertern und Lanzenspitzen aus der rauchigen Unbestimmtheit des frühen Lichtes gerissen.

»Sybaritische Schiffe! Wir sind verloren!« schrie ein Kleinmütiger.

Pythagoras aber, der sich erhoben hatte und jetzt auch der Erscheinung entgegensah, erwiderte mit weithinschallender Stimme:

»Seid ihr von Sinnen, ihr Krotoniaten? Erkennt ihr die eigenen Schiffe nicht? Kommt zu den Molen! Wir werden Alkaios empfangen, der hier mit Bundesgenossen naht!«

Und Pythagoras hatte sich nicht getäuscht.

Als er mit der stets noch anschwellenden Schar seiner Begleiter zu den Landungsplätzen kam, warf eben das erste Schiff die Taue gegen das Ufer. Und Kopf an Kopf standen auf seinem Verdecke mächtige Hopliten, die das Volk Krotons mit wildem spartanischen Schlachtgesang begrüßten.

Alkaios aber schritt an der Seite des Feldherrn, des riesigen Dorieus, über die schwingende Brücke des ausgelegten Steges.

Pythagoras schloß seinen vertrauten Akusmatiker in die Arme. Dann fragte er:

»Wie gelang es dir so schnell, die Bundesgenossenschaft dieser herrlichen Streiter zu gewinnen?«

Alkaios aber erwiderte lächelnd:

»Nur die ersten zweitausend begleiten mich. Sechstausend werden ihnen folgen. Spartanische Kolonisten sind es, die eben im Begriffe waren, sich in Sikelien niederzulassen. Jetzt aber wollen sie noch vor ihrer Ansiedlung den Bewohnern von Groß-Hellas zeigen, wie Lakedaimonier die Waffen zu führen gewohnt sind.«

»Das wollen wir!« fiel Dorieus ein. »Hoffen wir doch, daß wir dann in Ruhe unsre neue Stadt werden erbauen können. Groß-Hellas soll Spartaner fechten sehen!«

Überwältigend war der Eindruck, unglaublich der Stimmungsumschwung, als die klirrenden Hopliten unter dem Schmettern eherner Salpingen durch die Straßen zur Agora dröhnten und dort Aufstellung nahmen.

Von allen Seiten strömte in hellen Scharen das Volk heran, und nicht lange währte es, bis in feierlichem Aufzuge der Rat der Tausend angeschritten kam und die Bundesgenossen gebührend begrüßte.

Herolde liefen nach allen Richtungen, da sogleich beschlossen worden war, eine entscheidende Volksversammlung über die Antwort an die sybaritischen Gesandten abstimmen zu lassen; eine Maßregel, die zwar mit der aristokratischen Staatsform nicht im Einklange stand, dennoch aber in diesem Augenblicke, der über das Geschick aller Bürger die Lose warf, ergriffen wurde, da man auch die Ballung aller Kräfte der Stadt dem Feinde entgegenstemmen wollte.

So drängten sich in kurzer Zeit ungeheure Massen auf der weiten Agora und harrten schweigend der Anträge, die von den Rednern gestellt werden würden.

Dorieus stand auf der erhöhten Rednerbühne und Milon und Demokedes und noch manche andre, die höchstes Ansehen genossen.

Zuerst wurde dem Volke verkündet, was an Hilfe von den Dorern zu erwarten sei, und Dorieus ließ es sich nicht nehmen, mitzuteilen, daß er voll und ganz sich der Führung des großen Milon unterordnen würde, was ungeheuren Stolz und Beifall bei den Krotoniaten hervorrief.

Dann aber trat noch ein Ereignis ein, das die neugewonnene Zuversicht der Bürger vervielfachte. In prunkvollen Sänften bahnten sich nämlich plötzlich die Fürsten der Messapier, Lukaner und Peuketier, umgeben von ihrem Gefolge, einen Weg durch das Gedränge und betraten die Rednerbühne. Und der Lukanerfürst sprach im Namen aller die inhaltschweren Worte:

»Bürger von Kroton! Wir sind vor euch erschienen, da wir vernahmen, daß sybaritische Mörder es gewagt haben, den erhabenen Weisen öffentlich zu verhöhnen. Diese eine Tat ist für uns Grund genug, euch im bevorstehenden Kampfe gegen diese Elenden mit dreißigtausend Leichtbewaffneten, mit Bogenschützen, Reitern und Schleuderern, zu unterstützen. Denn dieses Volk der Sybariten soll nicht weiter mit seinem Übermute italiotischen Boden schänden und beflecken! Seid guten Mutes, Krotoniaten! An Zahl und Waffen werden sie uns stets überlegen sein, unser Zorn aber wird ihre verweichlichten Scharen zerschmettern!«

Der Jubel des Volkes kannte keine Grenzen.

»Fast vierzigtausend Streiter Zuwachs!« »Die besten Hopliten der Hellenen, die tapfersten italischen Leichtgewaffneten als Bundesgenossen!« »Wehe den Sybariten!« »Und Milon als Feldherr!« »Nieder mit Sybaris!« »Nieder mit den Feiglingen und Mördern!« »Sie haben Pythagoras verhöhnt!« »Wehe ihnen!« So schwirrte es wild durcheinander.

Plötzlich aber stand Milon selbst am Rande des Sockels und hob den Arm. Und alle schwiegen. Denn er würde jetzt sprechen, er, von dem die Heersäulen dem Feinde entgegengeführt werden sollten. Denn keiner zweifelte mehr daran, daß man den Kampf aufnehmen müsse. Milon aber dröhnte mit seiner furchtbaren Stimme, die so mächtig war wie seine muskelstarrende Brust:

»Noch ist die Antwort nicht beschlossen, die wir den Mördern geben wollen. Zwei Wege stehen noch offen.

Vielleicht wird Friede sein, wenn wir die fünfhundert Sybariten, die als Schutzflehende zu uns geflohen sind, ausliefern. Bedenkt das wohl, ihr Männer!«

Doch selbst die Löwenstimme ging unter im tosenden Brüllen, das sich erhob. »Krieg!« brüllte es und »Krieg!« und noch einmal »Krieg!« Und dann drang ein einzelner heiserer Ruf durch den gräßlichen Lärm: »Herbei mit den Gesandten! Sie sollen von uns selbst die Antwort haben! Und sollen Pythagoras noch um Verzeihung flehen!«

»Er hat recht!« »Euoi Pythagoras!« »Heil dem Weisen!« »Her mit den Gesandtenmördern!« tönte es sofort zurück.

Als sich aber das Branden endlich geglättet hatte, sprach Milon weiter:

»Sie werden geholt werden, die Gesandten! Aber umgeben von den Hopliten, ihr Bürger! Denn eure Wut kennt keine Überlegung, was ja begreiflich ist. Niemand jedoch soll einst sagen können, daß auch Krotoniaten sich mit dem Blute von Gesandten befleckten!«

Und er flüsterte dem Dorieus einige Worte zu. Dieser stieg von der Rednerbühne herunter und rückte mit etwa hundert Schwergewaffneten ab, während das Volk in summender Erregung harrte.

Als aber nach kurzer Zeit die Sybariten, umgeben von den Streitern, ankamen, da tönte ihnen ein derart schrilles Sausen des Hasses entgegen, daß ihre Antlitze sich zu fahlem Grau verfärbten und sich in namenlosem Entsetzen verzerrten. Doch nur für einige Herzschläge. Denn als sie merkten, daß der gepanzerte Ring um sie stets dichter und undurchdringlicher ward, während sich der Raum, in dem sie standen, zusehends lichtete, um ihnen Bewegungsfreiheit zu lassen, gewannen sie sogleich wieder ihre herausfordernde Haltung zurück und trugen ein aufreizendes Lächeln zur Schau.

Milon aber setzte seine Rede fort:

»Auf dem heiligen Boden von Elis«, rief er, »geschmückt mit dem sechsten Siegeskranze, habe ich dem Pythagoras zugeschworen, daß ihm Kroton eine endgültige Heimat sein werde. Und habe ihm versprochen, daß jeder der Krotoniaten einen Schimpf rächen würde, den ihm einer zufügte. Heute ist nun der Tag gekommen, der mich zum Einlösen meines Versprechens zwingt. Haben nicht die Gesandten einen Mann verspottet, gegen den – wenn wieder, wie nach der Überlieferung der uralten Sagen, die übrigen Wesen zu den Menschen sprechen könnten, – gegen den, sage ich, nicht einmal eines der reißenden Tiere eine Schmähung wagen würde?! Ihr habt verlangt, ihr Bürger, daß sich die Gesandten an den Weisen wenden und ihn um Verzeihung anflehen. Was sagt ihr dazu, ihr Sybariten?«

Da gellte fast im gleichen Augenblicke statt einer Antwort ein hämisches, übermütiges Gelächter durch die Luft. Und es bedurfte aller Kraft der Hopliten, den Einbruch der durch dieses Lachen zur Raserei gereizten Menge abzuwehren.

Die Sybariten aber konnten sich nicht fassen und lachten weiter, daß es mißtönend über die Agora schrillte.

Endlich hatte sich Archibulos soweit gefaßt, daß er, noch immer von Lachen unterbrochen, zurückrief:

»Ihr seid wahnsinnig, ihr Krotoniaten! Denkt ihr wirklich, daß ihr, trotz dieser äußerst ansehnlichen Spartaner, die ihr hinterlistig in eure frevelhaften Händel hineingelockt habt, gegen unsre dreißig Myriaden Streiter etwas ausrichten werdet? Laßt euch durch eure herrschsüchtigen Aristokraten nicht zu Abenteuern verführen, verblendeter Demos! Was geht euch Krotoniaten der Samier an? Was die sybaritischen Aufwiegler, die ja auch wieder nichts sind als hochmütige Aristokraten? Tut, was ihr wollt! Aber ich würde euch raten, eher alle Aristokraten zum Hades zu jagen, als eure Felder verwüsten und eure Häuser verbrennen zu lassen. Das aber werden wir vollbringen, bei Zeus und Hera!«

Unschlüssiges Schweigen senkte sich auf das Volk, als ihm durch diese Sätze so recht wieder die Größe der Gefahr und die Schwere des bevorstehenden Kampfes vor das innere Auge trat.

Da aber ergriff Demokedes das Wort und rief im Tone männlichster Überzeugung:

»Dreißig Myriaden sagst du? Das soll uns erschrecken? Weißt du, Sybarite, wieviel Männer Milon allein zu Olympia in den Sand warf? Ich denke, dreihundert werden es gewesen sein oder vierhundert! Jeder Krotoniate aber ist doch sicher nicht um so viel schwächer als der Feldherr, daß es ihm nicht gelingen sollte, drei oder vier von euch zu bewältigen. Und wähnt ihr, daß Spartaner schwächer und feiger seien als Sybariten? Nein, Archibulos! Damit schüchterst du Krotoniaten nicht ein! Denn selbst wenn wir nur die Hälfte an Kriegern aufbrächten als ihr, wäre unser Sieg gewiß. Ganz abgesehen davon, daß die hehre Pythia nicht von der Zerstörung krotoniatischer, sondern vom Zusammensturze sybaritischer Häuser gesprochen hat. Und was für Strafe eurer noch außerdem wegen des scheußlichen Gesandtenmordes harrt, darum habt ihr noch nicht beim pythischen Gotte gefragt. Wir lassen euch ziehen, ihr Mörder! Obwohl wir Kleon auch nach menschlichem Rechte in der Stadt behalten und hinrichten könnten. Sagt das dem Telys! Jetzt aber, Volk von Kroton, Volk der Olympioniken und Weisheitsliebenden, Volk der Gerechtigkeit und Wahrheit, der Tapferkeit und Gottesfurcht, entscheide dich! Mitbürger, gebt den Gesandten eure Antwort, denn ihr habt die Sybariten hiehergerufen!«

Schon nach den ersten Worten des Demokedes hatte die Stimmung wieder umgeschlagen. Jetzt aber, als es galt, entscheidende Worte zu sprechen, war vollends jeder im klaren, daß es nur mehr eine Antwort gab. Und sie erscholl aus all den Tausenden von Kehlen in hohem schneidenden Tone, in hassender, todesverachtender Schärfe:

»Krieg!« heulte es auf. »Wir wollen den Krieg!« Und: »Krieg! Krieg!« gellte das Echo der wenigen Unentschlossenen nach, die vom allgemeinen Sturme mitgerissen worden waren.

Als sich aber endlich nach langer Zeit das Schrillen gelegt hatte, sagte Demokedes kalt und ruhig:

»Ihr habt es selbst gehört, ihr Sybariten! Die Hopliten werden euch an die Grenze bringen. Erwartet jedoch keine Schonung für die Mörder, wenn sie später in unsre Hände fallen sollten. Lebt wohl und bedenkt, daß auch der Übermut ein Ziel haben muß!«

Die Sybariten aber grüßten spöttisch nach allen Seiten, da sie nichts mehr für ihre Person befürchteten, vom gewollten Kriege jedoch alles erhofften; am meisten aber auf den Keil der Zwietracht bauten, den ihrer Ansicht nach Archibulos in die Gemüter der Bürgerschaft getrieben hatte. –

So wurde auf beiden Seiten fast siebzig Tage gerüstet und beide Städte konnten die Menge der Krieger kaum fassen, die von allen Seiten aus dem beherrschten Lande zuströmten. Kroton aber war es durch nie dagewesenen Opfermut gelungen, über zehn Myriaden Streiter auszurüsten und zu bewaffnen. Eine Zahl, über die die Spartaner außer sich vor Erstaunen gerieten, da ja Sparta selbst kaum ein Viertel dieser Macht ins Feld zu stellen gewohnt war. – – –

*

Das erste fahle Dämmern des werdenden Tages ragte in seiner Kälte und Tonlosigkeit durch die weit zurückgeschlagenen Vorhänge ins Feldherrnzelt hinein, als ein auffallendes Klirren von Waffen und das erregte Summen zahlreicher Stimmen Milon veranlaßte, sich von der Ruhestatt zu erheben und in all seiner Riesenhaftigkeit in den Rahmen des Einganges zu treten.

»Was geht vor?« fragte er scharf und blickte auf einen kleinen Trupp von Leichtgewaffneten, die einen hohen, ehrwürdigen Mann unter allerlei Drohungen heranschleppten.

»Wir fingen ihn vor den sybaritischen Heerhaufen!« meldete der Führer des Trupps. »Er scheint ein Späher zu sein!« setzte ein andrer Krieger fort.

»Laßt ihn los! Was soll uns der Greis anhaben?« entschied Milon.

Und als der Befehl befolgt war, wandte er sich an den Gefangenen:

»Bist du ein Sybarite? Oder wußtest du nicht, daß hier zwei Heere einander gegenüberstehen?«

Da warf sich der alte Mann, dessen blutbefleckte Arme erst jetzt sichtbar wurden, verzweifelt auf die Kniee.

»Ich bin Kallias, der elische Seher, o Herr!« rief er wehklagend. »Vor einer Stunde erst versuchte ich zum letzten Male die Vorzeichen. Telys und seine Feldherren saßen die Nacht über beim Zechgelage und riefen mich, als es Morgen zu werden anhub.«

Der Seher stockte erschöpft und sank vornüber.

»Reibt ihm die Schläfen mit dunklem Weine!« rief Milon einigen Leuten seines Gefolges zu, die sich um ihn versammelt hatten.

Nach einigen Herzschlägen öffnete der Greis die Augen und blickte entsetzt um sich.

»Wo bin ich?« murmelte er.

»Tragt ihn ins Zelt!« sagte Milon und ging voran. Dann setzte er fort: »Hebt ihn dort auf mein Lager!« Und zu Kallias gewandt, der langsam die Kraft seines Geistes zurückerhielt, sprach er in mildem Tone: »Verzeih, Vater, wenn ich dich quäle! Aber die Zeit drängt. Du erzähltest von den Vorzeichen!«

Da richtete sich der Seher mühsam auf und murmelte:

»Sie riefen mich, halb trunken, wie sie waren. Und befahlen mir, sogleich die Vorzeichen für den kommenden Kampf zu deuten. Du weißt nicht, Herr, daß schon seit Tagen furchtbare Dinge zu Sybaris sich ereigneten. Dinge, derentwegen mich ein Schnellruderer aus Elis holte, da sie wähnten, die eigenen Priester verständen sich nicht auf Opferschau und Traumdeutung.« Er stockte. Dann aber ging es wie ein Zucken durch seinen Körper und er gewann volle Gewalt über Stimme und Geste. Und sprach weiter: »Du weißt, daß nicht eben die Gottesfurcht der hervorstechendste Zug sybaritischer Gemütsart ist. Die Größe des Krieges scheint aber doch im Demos einiges Bangen und damit eine gewisse Frömmigkeit erzeugt zu haben. Darum achteten sie strenge auf alles, was sich begab. Und sie erzählten mir unter anderen schreckhaften Erscheinungen, daß eines Tages das Hera-Bild während des Opfers, allen sichtbar, plötzlich die Augen verdreht und sich verächtlich von der betenden Menge abgewandt habe. Ja, am nächsten Morgen sei gar eine Blutquelle im Hera-Tempel zur Höhe gegurgelt. Und einer der Heerführer habe in derselben Nacht geträumt, die Göttin habe über die Stadt – in riesenhafter, furchtbarer Gestalt sich reckend – grüne Galle gebrochen. Da holten sie mich, wie ich schon sagte. Aber ich konnte sie nicht trösten, da ich der Ansicht war, das entscheidende Opfer dürfe erst kurz vor dem Kampfe gedeutet werden. Und ich versuchte es jetzt vor einer Stunde. Fünfmal wiederholte ich es, fünfmal wies es den Sieg Krotons!«

Milon horchte auf. Dann erwiderte er freudig:

»Deine Vorzeichen sprachen die Wahrheit, Eleier! Wir werden siegen!«

»Höre weiter!« unterbrach ihn der Seher. »Ich sprach auch schon davon, daß sie halb trunken waren. Und da wollten sie mich töten. Ich aber gab vor, die Opfer bedeuteten nichts, ich müsse gewisse Kräuter für das entscheidende Orakel sammeln. Und ich entfloh. Sie sandten mir Pfeile nach, die meinen Arm zerfleischten. Bis ich endlich deinen Kriegern in die Hände fiel.« Und er hob den Arm, von dem das Blut in dickem Rinnsal herabquoll.

»Sei getrost!« sagte Milon ermunternd. »Du bist bei Krotoniaten! Unsere Ärzte werden dich schnell heilen. Jetzt aber pflege der Ruhe. Es wird dir keiner etwas zuleide tun. Hast du uns doch glückliche Vorzeichen gebracht!« Und er wandte sich an einige Unterführer:

»Laßt durch Herolde all das, was ihr von Kallias erfuhrt, den Kriegern verkünden. Es wird ihre Zuversicht und Kampfeslust in eben dem Maße steigern, wie der Mut der Feinde durch die Vorzeichen sank. Doch, was bringt ihr?«

Die letzte Frage hatte er an zwei bestaubte Kundschafter gerichtet, die mit allen Zeichen höchster Aufregung ins Zelt getreten waren.

»Die Sybariten beginnen den Traeis-Fluß zu überschreiten!« erwiderte der eine. »Kaum ein Stadion entfernt von ihren Spitzentruppen lag ich im Gebüsche. Jetzt dürften schon Myriaden auf unserem Ufer stehen.«

Milon richtete sich zu ganzer Größe empor.

»Es ist gut so!« sagte er dröhnend. »Sie sollen nur mit dem Flusse im Rücken fechten, wenn es ihr Übermut will. Ruft Dorieus und die anderen Feldherren. Mir aber reicht die Beinschienen!«

Die Befehle wurden sogleich durchgeführt. Und noch mühten sich die Waffenträger des Feldherrn, die ehernen Beinschienen anzuschnallen, als schon der Spartaner und die krotoniatischen Führer im Zelte erschienen.

Milon aber sagte zu ihnen:

»Was sich für Vorzeichen zutrugen, habt ihr gehört, ihr Freunde. Wir wollen uns jedoch mehr noch auf unsere Kraft und Tapferkeit verlassen als auf die Vorzeichen! Mein Plan heischt schier Übermenschliches von euch. Denn ruhig und ohne Gegenwehr müssen alle unsre Krieger auf der Hügelwelle stehen bleiben und müssen harren, bis der Gegner ganz nahe herankommt. Dann erst dürfen Bogenschützen, Schleuderer und nicht zuletzt die unausdenkbaren Wurfwerkzeuge, die der göttliche Pythagoras schuf, die erste Verwirrung in die feindlichen Reihen schmettern. Und wir werden sie zum Nahkampfe zwingen. Im anderen Falle würden sie uns durch die fast dreifache Überzahl umzingeln, langsam aufreiben und in kleine Heerhaufen zersplittern. Ihr kennt das Zeichen, das ich geben werde. Und noch einmal: Kein Mann darf sich erheben, bevor er mich an der Spitze der krotonischen Athleten im Angriffe sieht. Jetzt aber wollen wir noch beten. Kallias, sprich uns die feierlichen siegheischenden Formeln vor!«

Und die Männer verrichteten ihre Gebete, während der elische Seher sich vom Ruhelager erhoben hatte und mit reiner Stimme die heiligen Siegesbitten sagte.

Dann gab Milon noch die Weisung, den Greis, der jetzt im Besitze vieler Geheimnisse Krotons war, ehrenvoll zu behandeln, jedoch bis zum Ende der Schlacht strenge zu überwachen.

*

Als der Feldherr sich dem Rande der langgestreckten Hügelwelle näherte, auf der die dichten Scharen der krotoniatischen und spartanischen Hopliten in ihren schweren Rüstungen hockten und lagen, bot sich ihm ein grausig-schöner Anblick dar:

Unübersehbar schwoll die furchtbare Masse des sybaritischen Heeres, funkelnd und gleißend in den ersten Sonnenstrahlen, durch die Ebene heran. Der größte Teil ihrer Truppen hatte schon den Traeis-Fluß übersetzt und man sah nur, fern über den Fluß hinweg, im unbestimmten Morgenrauche die riesigen Zeltlager und das bunte Gewimmel des Trosses.

Milon aber blickte scharf nach allen Seiten. Und sein Herz pochte für einen Augenblick auf. Denn jetzt mußte es sich entscheiden, ob die eigene Aufstellung des Heeres Aussicht auf Erfolg hatte. War sie doch nicht mehr rückgängig zu machen. Und er sah zuerst das Selbstverständliche; das, was er für sein Heer abgeändert hatte, um die Sybariten durch die Neuheit des Planes allein schon zu erschüttern. Und er lächelte befriedigt. Denn die Masse der feindlichen Schwergewaffneten rückte, streng nach alten Regeln die Mitte der Streitkräfte bildend, heran. Der erste Teil seiner Absicht war also gelungen. Denn nur die krotoniatischen Hopliten lagerten im Mittelfelde der Schlachtordnung. Die spartanischen, die an Stoßkraft gewiß nicht ihren Bundesgenossen nachstehen würden, hatte er dagegen so weit nach rechts verschoben, daß sich nur mehr eine verhältnismäßig schmale Zone von Reiterei, den rechten Flügel zur Vollständigkeit ergänzend, anschloß. Und wieder durchzuckte ihn helle Freude, als er zum linken Flügel der Sybariten, der der spartanischen Hauptmacht gegenüberstehen würde, hinüberspähte: Dort drängten sich in übermäßig tiefen Rudeln die Hilfsvölker und Leichtbewaffneten heran, da für ihre Entwicklung bis zur nahen Meeresküste nicht viel Raum mehr übrigblieb.

Also–das schloß er, bevor er hinüberblickte – mußte die sybaritische Reiterei, die furchtbarste und überwältigendste Macht des Gegners, seinem linken Flügel das Gleichgewicht halten, wahrscheinlich noch weit über ihn herausragen. Auch das hatte er erwartet, da in dieser Gegend der Boden eine Art von ebener, weitgestreckter Halde bildete, auf der die Reiter bequem nach allen Seiten ausschwärmen konnten. Und er wollte sich durch Augenschein von der Richtigkeit der Vermutung und des Schlusses überzeugen: Nichts aber zeigte sich dort! Wie abgebrochen hing die rechte Flanke der sybaritischen Hopliten in der Luft. Hier drohte also äußerste Gefahr. Denn es war unzweifelhaft, daß die Sybariten mit ihrer Hauptwaffe – die Späher und Kundschafter hatten von fünf Myriaden Reitern berichtet – plötzlich und überraschend hervorstoßen würden, um die zu dieser Zeit vielleicht schon schwankende krotonische Schlachtreihe vollends zu zerspellen und die geschlagenen Reste zu verfolgen und niederzumachen. Für einen Herzschlag stieg die gräßliche Furcht in Milon empor, die Reiter könnten sich abgetrennt haben und könnten auf Umwegen gegen das krotonische Gebiet oder in den Rücken seines Heeres geritten sein. Schnell jagte er einen Läufer zu Kallias, der nach ganz kurzer Zeit wieder beim Feldherrn eintraf und meldete, Kallias habe noch während seiner Flucht das sybaritische Reiterheer gesehen. Es halte sich, nahe dem Flusse, hinter Wänden von Zweigen und künstlichen Gebüschen verborgen. Im gleichen Augenblicke aber sah Milon schon die ununterbrochene grüne Wand, die sich jenseits des Traeis dahinzog und genau an der Stelle endete, an der der Hoplitenflügel begann.

Ein neues Ereignis aber trat ein, das den ursprünglichen Plan Milons stark beeinträchtigte: Die sybaritischen Heerhaufen stockten plötzlich und stellten sich in tiefer Ordnung unverrückbar auf. Sie wollten anscheinend den krotoniatischen Vorstoß erwarten. Da erkannte Milon den Plan des Telys mit mystischer Deutlichkeit und Leuchtkraft in seiner ganzen Größe und furchtbaren Gefährlichkeit.

Und der Krotoniate wußte jetzt auch, daß die Sybariten nicht weiter vorrücken würden. Denn man wollte nur die krotonischen Hopliten vorprellen lassen, um dann aus irgendeiner, wegen der Baumdeckung unvorhersehbaren Richtung die Reiterei den Schwergewaffneten in die Flanken zu werfen, die dann die Hopliten an der Phalanx entlangtreiben und schließlich in den Stein- und Pfeilregen des linken sybaritischen Flügels hineindrücken würde.

Noch einmal schweiften die Augen des herakleischen Feldherrn über das künftige Schlachtfeld. Und für kurze Augenblicke sah er die Landschaft und vergaß der Menschen, die einander Tod geschworen hatten. Und er sah das Meer im Morgenglaste, sah die grünenden Fluren, die Felder, die Ölbäume und den glitzernden Fluß. Und sah zur Linken die Kette des waldreichen italiotischen Gebirgszuges. Bald aber riß er sich aus dieser Betrachtung los. Denn noch zwei Schlüsselpunkte seiner Schlachtordnung mußte er prüfend und weisend besichtigen.

So eilte er, um keine Zeit zu verlieren, gegen den linken Flügel, wo die Hilfsvölker der Peuketier, Messapier und Lukaner mit Leinenpanzern und runden Lederschilden standen; und mit den Fingern noch einmal an den straffen Bogensaiten klimperten oder die Riemenschlinge der Schleuder ungeduldig im Kreise wirbelten. Und er stieg zur Spitze eines einsamen Hügels hinan, auf dem niedere, kahle Felsblöcke umherlagen. Hinter der Wand des größten Blockes aber saßen, wie teilnahmslos, etwa hundert Bläser, die lässig die mächtigen Salpingen und Hörner in der Hand hielten und mit der Zunge ab und zu die trockenen Lippen anfeuchteten. Als sie des Feldherrn ansichtig wurden, erhoben sie sich grüßend. Der aber winkte mit der Hand und sagte halblaut:

»Stellt einen Späher hinauf! Das Zeichen kennt ihr! Ich erwarte von euch, daß auch ihr mit euren unblutigen Waffen eure Pflicht erfüllt! Bedenkt, daß ganz Kroton euch vertraut. Lebt wohl!«

Und er wandte sich rasch ab und erklomm den höchsten Felsen. Da nahm er auch das Letzte wahr, das er noch sehen wollte: Unter ihm, am Abhange der Hügel, in tiefe, weite Gruben hinter mächtigen Dämmen versteckt, standen die riesigen Schleuderwerkzeuge und Wurfmaschinen, deren helles Sparrenwerk in der Sonne leuchtete. Und er erblickte die furchtbaren Steinquadern, die schon in den Schlingen wuchteten, und er erspähte die langen Holzbalken mit den Eisenspitzen und die anderen Balken, an deren Ende dicke, pechgetränkte Büschel aus Wolle und zerfasertem Tauwerk sich entflammungsbereit rundeten. Und er gedachte mit innigem Danke und heißer Verehrung des samischen Weisen, dessen Geist auf diesem Schlachtflügel, Werkzeug geworden, die Freunde mit gräßlicher Wucht unterstützte.

Noch einmal warf er sich auf die Kniee, um zu beten. Dann sagte ihm die unentrinnbare Stimme des Innern, daß jeder weitere Aufschub Verlust wäre, sosehr das lebendige Herz des Helden noch kurze Rast wünschte. Nicht für sich! Nein, für die Streiter der heiligen Heimat, deren Geschick in seiner Hand lag. – – –

*

Plötzlich, wie aus dem Nichts emporgeschossen, stand Herakles selbst vor dem Kern der krotonischen Hopliten: das Löwenfell um die Schultern, nackt, daß furchtbares Muskelspiel den überirdischen Leib umzuckte, in der Rechten die dunkle, knorrige, mannslange Keule, deren erzbeschlagenes Ende breiter war als die Brust eines Epheben.

So stand Milon vor der Mitte der Hopliten, jener Schar, die aus den olympischen Athleten sich zusammensetzte. Und alle durchflammte im gleichen Augenblicke der Gedanke, daß der Feldherr die irdische Wiedergeburt des Herakles sei, die Verkörperung, von der der göttliche Pythagoras ihnen so oft schon gesprochen hatte.

Doch konnten sie den Gedanken nicht zu Ende denken. Denn ein furchtbarer Schlachtruf, der wilde Schrei Milons, riß sie vorwärts, und die ganze breite Front der Hopliten brauste klirrend mit vorgelegten Lanzen den Abhang hinab, daß die Erde erzitterte und die hohen bunten Büsche der breiten Helme flatterten.

Starr, wie eine eherne Wand, blickte ihnen die Schlachtordnung der Sybariten entgegen und wuchs, je näher sie heransausten, zu desto überwältigenderen Massen an.

Aber noch ein Schrecknis kam aus dem Unbestimmten: Zu ihrer Linken gellte plötzlich ein langgezogener Hornstoß, und eine tosende, safrangelbe Sturmflut, ratternd und stampfend, johlend und wiehernd, wälzte sich in unabsehbarer Dichte gegen ihre linke Flanke und schien in wenigen Herzschlägen über sie hinwegzubrausen.

Da stockte Milon einen kurzen Augenblick im Vorwärtsrasen. Und sich zu voller Höhe emporreißend, wirbelte er die ungeheure Keule wie einen Hirtenstab über dem Haupte.

Und nun geschah etwas, das seinesgleichen nicht hatte im Ablaufe aller Äonen:

Mitten durch all den Lärm der Hufschläge der furchtbaren sybaritischen Reiterei; mitten durch das Geschrei der Athleten drang in übermächtiger Klarheit der schmetternde Schall von hundert Hörnern und Salpingen, der in schwebenden, jubelnden Rhythmen von Tanzweisen dahinflutete und kein Ende nahm. Den Sybariten aber stockte das Blut. Denn es waren ihre Lieder, ihre Rhythmen. Und sie wußten das Ende, bevor es hereinbrach.

Nur wie durch Nebel sahen die krotonischen Hopliten das unerhörte Bild. Um so deutlicher aber erblickten es die Feinde:

Alle die Massen der Rosse, auf denen die safrangelben Reiter mit den blanken Schwertern und Lanzen saßen, alle die herrlichen Renner, die den Stolz und die Macht von Sybaris bildeten, stutzten, wie wenn ein Blitzstrahl vor ihnen niedergekracht wäre. Doch nur für wenige Herzschläge. Dann aber gewann die Weise, die furchtbare Tanzmelodie, die nicht enden wollte, die sich vielmehr noch stets verstärkte, stets rasender vom Hügel herabscholl, Macht über die schlichten Seelen der wohlabgerichteten Rosse. Und sie bäumten sich empor und schritten auf den Hinterbeinen, sprangen und schlugen aus, rasten in engen Kreisen und Doppelkreisen und wieherten, daß die Luft erzitterte. Jene Pferde aber, deren Abrichtung noch nicht vollendet war, scheuten und ergriffen die Flucht. Und das furchtbare Meer der safrangelben Krieger, die Sturmflut, die alles hatte vernichten wollen, glich nach wenigen Augenblicken einem gräßlichen Chaos tollgewordener Dämonen.

Vom Hügel aber schmetterten unerbittlich die sybaritischen Tanzweisen, der Stolz der hippischen Agone des lakinischen Festes.

Doch Furchtbareres stand noch den Sybariten bevor. Eben war der dröhnende Katarakt der Athleten, die das letzte Stadion in zunehmendem Laufe durchrast hatten, in die Mitte der verwirrten und entsetzten sybaritischen Schwerbewaffneten wie ein Keil eingedrungen, und die Erscheinung Milons allein genügte, das Entsetzen bis zum Wahnsinn zu steigern. Krachend zerspellte die herakleische Keule ganze Reihen von Helmen und Panzern und kaum weniger furchtbar waren die schmetternden Schwertstreiche der Pankratiasten und Faustkämpfer. Das Gebrüll Dämons gellte auf, und Phayllos und all die anderen hatten kaum noch den Höhepunkt ihres heroischen Zornes erreicht, als schon die Schlachtreihe der Sybariten durchstoßen war und eine breite Straße in ihrer Mitte klaffte.

Jetzt aber prallte erst der Sturm der krotonischen Hauptmacht an den Feind. Und zur Rechten brach der Flügel der spartanischen Riesengestalten ein, denen Dorieus, wütend wie Hektor und Achill, voranbrauste.

Da hatten sich die Sybariten vom ersten Schrecken, von der Lähmung, die sie überkommen hatte, plötzlich erholt. Und sie begannen ernsten Widerstand zu leisten. Doch es war zu spät. Denn, während sich Dorieus mit einigen seiner wildesten Kampfgenossen bis zu Milon durchfocht und so schon im Rücken der Feinde stand, preßten die anstürmenden Hoplitenmassen die Grundlinie des Einbruchskeiles zu stets größerer Länge auseinander, so daß links die Krotoniaten, rechts die Spartaner die Schlachtreihe aufzurollen begannen und die Feinde in entgegengesetzte Richtungen auseinanderdrückten.

Das aber war das Ende: Die eine Hälfte der sybaritischen Hopliten geriet dadurch nämlich zurückweichend in den Strudel der tanzenden Pferde, in den die gräßlichen Schleuderwerkzeuge ihre Steinblöcke, Pfähle und Brandbalken hineinschmetterten, während gleichzeitig nach allen Seiten die Hilfsvölker ausschwärmten und die fast Wehrlosen mit ganzen Wolken von Pfeilen und Hagelschauern von Schleudersteinen überschütteten. Dem anderen Teile der Schwerbewaffneten erging es kaum besser. Denn, abgesehen davon, daß sich die Angriffswut der Spartaner unaufhörlich zu noch wilderen Ausbrüchen steigerte, griff vom rechten krotonischen Flügel plötzlich die Reiterei ein und fiel den zurückweichenden Hopliten in den Rücken. So daß nach kurzer Zeit nur mehr aufgelöste Haufen gegen den Fluß flohen und die Leichtgewaffneten, die bereits durch den Anprall des rechten Flügels der Spartaner zum Teile hinweggefegt worden waren, in ihre wilde Flucht hineinrissen.

So war es nicht verwunderlich, daß krotonische Reiterschwärme kurz darauf schon das Lager der Sybariten durchbrandeten und die ungeheure Beute in Sicherheit zu bringen anhuben. –

*

Bis zum sinkenden Abende währte das beispiellose Gemetzel.

Zehn Myriaden der Krotoniaten und ihrer Bundesgenossen hatten am Flusse Traeis mehr als dreißig Myriaden der Sybariten durch Tapferkeit, List und Götterwillen vernichtet.

*

Der Zorn der Krotoniaten aber kannte keine Grenze: Im ersten Ansturme wurde am nächsten Tage Sybaris überrannt. Und die größte Stadt der Hellenen wurde dem Erdboden gleichgemacht. Damit aber nicht einmal eine Erinnerung an die ruchlose Stätte bliebe und der Spruch Apollons erfüllt sei, leiteten die Krotoniaten nach der Zerstörung den Fluß über die zerspellten Häuser und Mauern, Gärten und Grotten. Und zwangen die Bevölkerung, sich in weitverstreuten kleinen Dörfern anzusiedeln.

Über die Agora von Kroton aber sausten, die Helme mit Kränzen umwunden, die reitenden Boten und jubelten die Siegesbotschaft in die sonnige Luft hinaus. Und feierliche Umzüge bewegten sich unter dem Jauchzen des Volkes zu den Tempeln.

Pythagoras jedoch stand seit dem grauenden Morgen des Schlachttages bei den Ärzten. Denn es galt das Leid derer zu lindern, die durch Schmerz und Wunden den Ruhm der heiligen Vaterstadt erstritten hatten.


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