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XIX

Pythagoras weilte auf Kreta, als die Herolde Olympias in prunkvollem Gefolge durch die Straßen von Knosos zogen und den Beginn der Hieromenia, des heiligen Festmondes, verkündeten. Wieder waren die vier Jahre der Olympiade verstrichen und für kurze Zeit sollte Zank und Hader zwischen den Städten und Gauen von Hellas ruhen, damit glanzvoll und herrlich das Fest des olympischen Zeus gefeiert werden könnte. Sonderbar erfüllte, widerspruchsvoll gefärbte Ereignisse lagen hinter Pythagoras. Auf den Höhen des delischen Weinberges war ein stiller Herbst vorbeigeglitten. Ein Herbst, aus dem seine Seele gesammelter und geläuterter hervorging. Tag um Tag hatte er sich mit dem Sterbenden unterredet, dessen letzter Lebens- und Ausdruckswille schier jenseitige Kräfte und Verkündigungen zusammenballte. Aber auch das Gemüt des Pythagoras hatte rückschauend, berichtend und verbindend, noch einmal die Wanderzeit durchlaufen und seinem Lehrer letzte Wißbegierde gestillt; so daß es nur natürlich war, daß Kemis hermetische Weisheit, Babels trunkener Traum und Zoroasters bergfrischer Bilderdrang zu einer höheren Einheit, zu einer heiligen Sage des Pythagoras selbst zusammenschmolzen, um schließlich in die zerwehende Abgeklärtheit indischer Weltauflösung zu münden.

Heiter waren diese Herbsttage. Und Lehrer und Schüler – Schüler, der Lehrer ward und Lehrer, der zum Schüler wurde – vergaßen, daß grausame Krankheitsmächte dem bakchischen Herbste ein Ziel setzen könnten; bis endlich die Regengüsse und Stürme kamen.

Doch auch diese Zeit überwand noch die gesteigerte Lebenskraft der beiden Weisen. Ja, es schien fast, als ob Pherekydes sich unter der kundigen Pflege des Pythagoras, unter dessen reichlicher Obsorge, die der Sklave Zamolxis Tag um Tag herbeischleppte, zusehends erhole.

Doch war es nur Schein. Denn als die Winterkälte kam, als alles Laub der Reben schon rot und braun, welk und faul auf den Lehmschollen klebte, schwand die Kraft des Greises so plötzlich dahin, daß bald nur mehr leises Lächeln den lebendigen Geist anzeigte. Und auch dieses Lächeln wich kurz darauf ruhewünschender Heiterkeit, und der ewige Schlaf senkte sich auf die Stirne des Pherekydes.

Da hatte Pythagoras, des fernen Sonchis gedenkend, der in den westlichen Bergen Kemis schlummerte, seinem zweiten großen Lehrer die Pflicht der vorgeschriebenen Bestattung geleistet und war, unberührt vom Hauche der furchtbaren Krankheit, versonnen, doch nicht traurig, nach Samos zurückgekehrt.

Abgesondert vom Lärme geselliger Freuden war er geblieben, die ihn doch nur enttäuscht hätten, und hatte all das, was seine tiefen Gespräche mit Pherekydes als Ergebnis gezeitigt hatten, in geschriebene Form zu bannen versucht. Und hatte damit eine weitere Stufe der Klarheit und Bewußtheit erklommen.

Rührend war es gewesen, als eines Tages der Sklave Zamolxis, fiebernd nach der Weisheit seines erhabenen Herrn, sich zur Hilfe bei den Arbeiten der Niederschrift erboten hatte, und es sich dabei herausstellte, daß der Riese in den langen Mußestunden zu Delos von Kaufleuten und Bettelpriestern die Kunst des Schreibens und Rechnens erlernt hatte.

Pythagoras hatte freudig seiner Bitte willfahrt und war erstaunt über die Ausdauer und Aufnahmsfähigkeit seines neuen Grammateus.

Als aber der Frühling über den Inseln gestanden war und die vielen Narzissen und der Krokus blühten und das Meer in frischer Bläue schäumte, hatte er sich entschlossen, für kurze Zeit noch seine Vaterstadt zu verlassen und alle Orte zu besuchen, an denen sich hellenisches Leben wie in geheimnisvollen Mittelpunkten staute und vereinigte.

Ein Schiff hatte ihn nach Kreta gebracht; nach der ungeheuren Insel, auf der noch Überreste einer Vorzeit stolz zum Himmel ragten, die dem lebenden Geschlechte fremd und unverständlich geworden war. Wo kyklopische Mauern, mächtige Paläste an düstere Sagen mahnten, wo der Schatten des Theseus, des Minotauros und all des furchtbaren Geschehens in düsteren Nächten durch das Gebirge strich. Wo endlich uralte Götter, längst vom Volke unverstanden, in dunklen Mysterien von den Nachkommen der Daktylen und Kureten gehütet wurden. Und er hatte sich an die Mysten des Morgos, eines der idäischen heiligen Priester, gewendet und war von ihnen nach den alten Bräuchen gereinigt und entsühnt worden. Zuerst hatten sie ihn mit dem Donnerstein berührt, den Zeus vom Himmel herabgeschleudert hatte; dann war er des Morgens am Meere, des Nachts am Flusse aufs Antlitz hingestreckt gelegen, bis er, bekränzt mit Wollbüscheln des schwarzen Widders, gehüllt in schwarzes Wollvlies in die schreckliche idäische Grotte hinabgestiegen war, um auf ihrem Grunde die gesetzlichen dreimal neun Tage zu verweilen. Dann erst hatte er dem chthonischen, dem unterweltlichen Zeus das sühnende Leichenopfer bringen dürfen, und war zum Anblicke des alljährlich mit frischen Decken überbreiteten Thrones zugelassen worden.

Und hatte betend geweilt noch viele Tage im alten Heiligtume auf der steilen Spitze des kretischen Ida. Und er war sinnend über die Bergwiesen gewandert und war unter der heiligen Schwarzpappel gesessen, neben der die Weihgeschenke lagen. Und leise war in ihm der Gedanke aufgedämmert, daß dieser kretische Zeus, der nach der Sage gestorben war und begraben worden wäre, vielleicht eine dunkle, kaum noch bewußte Rückerinnerung an den Mythos vom ermordeten und bestatteten Osiris sein könnte; um so mehr, als die alten Priestergeschlechter Kretas in ihrem Äußern eher den Männern Kemis als hellenischen Stammesbrüdern gleichsahen.

So hatte Pythagoras auf heimatlichem Boden neue Spuren der Urgötter gefunden und hatte gegrübelt, bis die prunkenden Herolde Olympias durch die Straßen von Knosos zogen und die Ekecheiria, den unverletzlichen Gottesfrieden, ausriefen. Da war er aus seinen Träumereien erwacht, denn nun galt es, die Jugend des hellenischen Volkes zu sehen; die herrliche Kraft und Blüte des Volkes, dem er durch seine Lehre letzte Vollendung, endgültige Harmonie und damit die Macht leihen wollte, das drohende Gewoge, das sich vom Osten heranzubrausen anschickte, zerschmetternd zu bannen. – – –

Wie ein unsagbar zarter Schleier lag der Morgenrauch über dem sikelischen Meere; dunkelblaue, grünliche, gelbe und hell rosenfarbene Streifen zogen sich auf der spiegelglatten Oberfläche von den verschwimmenden Küsten des Peloponnesos hinaus zum westlichen Horizonte, als das knosische Schiff gegen die Mündung des heiligen Alpheios zulief.

Noch war es kühl auf den Wassern.

Freudige Schauer hoher Erwartung aber durchbebten Pythagoras und die Kreter, als die Küste von Eleia zusehends wuchs und greifbare Formen gewann. Schon konnte man das geschäftige Gewimmel von Schiffen und Barken deutlich wahrnehmen, das die bräunliche Flußmündung sprenkelte. Aber auch auf der heiligen Straße, die, dem Meere entlang, vom Norden, von Elis herabführte, leuchteten zu Hunderten die weißen Gewande. Und alle strebten dem einen Ziele zu, das dort wohl drei Stunden landeinwärts an den Ufern des Alpheios lag:

Heute war der letzte Morgen vor den herrlichen olympischen Spielen!

Zuruf und Schiffergesang erbrauste, als die Knosier, den anderen Fahrzeugen entlang, in den Hafen einliefen. Und der tosende Rhythmos allhellenischer Vereinigung riß die Ankommenden mit sich. Kaum ward es ihnen voll, bewußt, daß sie von den Planken auf schnell ausgeworfenen Stegen ans Land stiegen, kaum merkten sie, daß die Sklaven Vorrat und Gepäck zusammenrafften und auf die Schultern luden. Wie im Traume gerieten sie in den Strom der Ziehenden, unter deren leichtbeschwingten, fröhlichen Schritten der Staub der breiten Straße zur Höhe wirbelte. Und Sänften gab es, prächtige Aufzüge verspäteter Gesandtschaften aus den entlegensten Pflanzstätten des Pontos oder der westlichen Zonen. Reiter jagten den Schreitenden entlang, Kaufleute zogen mit hochbepackten Karren; und jeder Hellene war jedes Hellenen Freund und Bruder, ob er nun auch erst vor wenigen Monden vielleicht, gepanzert und bewehrt, auf blutigem Kampffelde ihm gegenübergestanden war. Kein Sterblicher hätte den Gedanken fassen können, die elysische Heiterkeit des elischen Gottesfriedens zu stören.

Auch die ernsten Knosier, unter denen Pythagoras einherschritt, folgten der allgemeinen Stimmung. Gleichsam zu geordnetem Chore schlossen sie sich zusammen und stampften, uralte Marschlieder singend, in übermütigem Kraftschäumen den harten Grund der Straße.

Dazu aber rauschte rechter Hand der heilige Alpheios seinen Stromgesang und in den Wäldern zwitscherten die Vögel.

Hell krönten die Bergfichten die nördlichen Hügelketten, während weiter im Tale, an den Hängen, Pinien die breiten Wipfel spreizten und zwischen hochragenden Platanen und Weißpappeln das dunkle Mastixgebüsch und der harte Ginster den Boden mit unterbrechungslosem Wachstum deckte. Im Süden aber, über andre Hügelketten hinweg, hinweg über Oleander und wilde Birnbäume, über mächtige Haine heiliger Kotinosbäume, blauten die kahlen Berge Arkadiens in rauchiger Unbestimmtheit.

Und eben der Kotinosbaum war es, der all das Kommende voll zum Bewußtsein brachte. Sah man doch im Geiste schon den lieblichen Knaben, der in heiligem Eifer mit dem goldenen Messer die Reiser vom wilden Ölbaume schneiden würde, von jenem Baume, der in bläulichgrünem Schimmer auf der Altis von Olympia stand. Die Reiser aber würden sich dann zum Kranze runden und der Kranz würde das in seligstem Stolze erbebende Haupt des Olympioniken, des herrlichen Siegers, umgreifen.

»Heute siegt Sparta, morgen dann Rhodos,
und endlich Kyrene;
doch der olympische Kranz wird stets ganz
Hellas zur Zier!«

So sangen sie, die der breiten Straße entlang zogen und jubelten.

Dichter ward das Gedränge, üppiger das Wachstum, und ein neues Geräusch begleitete ihr Vorwärtsschreiten. Wie ein Summen lag es in der Luft, in der, weit voraus, hundertfältig, schlanke Rauchsäulchen emporstiegen und sich, breiter werdend, kräuselten. Und da war auch schon der dunkle Kegel des mächtigen Kronos-Hügels in Sicht. Zwischen all dem Summen aber, allen Jubel, allen Rhythmos der Schritte durchbrechend, stieß stets aufs neue das ungebärdige, jugendfrohe Tosen des Kladeosbaches an ihr Ohr, der von den nördlichen Bergen über bunte Kiesel herabsprang und sich achtungslos in den ernsten Lauf des Alpheios stürzte.

Und zwischen aller Sattheit der Haine blinkten das Weiß des Marmors, die bunte Malerei der Giebel und die Farbenpracht der Bildwerke.

Wieder schien es ihnen ein Traum, wieder konnte ihr Gemüt kaum den jähen Wechsel fassen, als sie plötzlich mitten im Umkreise des Festestreibens standen. Die zahllosen Zelte und Wagen, prächtige purpurne und goldene Stoffe, mit denen alles bedeckt war, leuchtende Blumengewinde um jede Säule, Laubwerk in lange schattende Gänge geflochten, weite Plätze mit weißem Kies bestreut, funkelnde Platten, mit denen die Wege getäfelt waren; dazwischen die Tausende wimmelnder froher Hellenen, deren Rede in allen Mundarten durcheinanderschwirrte; dann wieder das Händlervolk, das lange Reihen von Buden aufgeschlagen hatte und nun laut preisend und mit anzüglichen Witzreden prächtige Waren feilbot; Gaukler, die schnell noch versuchten, mit lächerlichen Kunststücken der wahren Meisterschaft des menschlichen Körpers zuvorzukommen: All das vereinigte sich zu einer Harmonie von solcher Großartigkeit und Sinnenfreude, daß es den Eintretenden einen Schauer der Begeisterung nach dem andern über die Glieder jagte.

Bald aber hatte sie das tosende Leben an sich gesogen und verschlungen, und all das Verwandte, das aus der geballten Massenseele eines Volkes, einer Sinnesart hervorbrach, ließ sie jeder trennenden Schranke vergessen, so daß nach kurzen Augenblicken überwältigend herrlichen Eindruckes auch Pythagoras mit seinen Sklaven ohne Scheu und Fremdheit zwischen den Zelten und Säulen, Garküchen und Tempelbauten umherschlenderte. Und wie alle, die gekommen waren, nur ein Ziel hatten: die göttlichen, trunkenen Hellenenaugen zu öffnen und zu schauen und wieder und wieder zu schauen; und all das Geschaute in ewigen Bildern in sich zu schließen und zu bewahren für die Zeiten der Öde und Trauer, Gefahr und Finsternis. Doch daran dachte er jetzt nicht. Nur jenseits des hellen Bewußtseins lagen diese dunklen Mächte. So schaute er und genoß und ging voll und ganz im göttlichen Augenblicke auf. –

Abend lag schon über der Altis von Olympia. Längst hatte sich Pythagoras von den knosischen Männern getrennt, die andre Stammesgenossen aus Kreta getroffen hatten und mit ihnen weitergezogen waren. So wanderte er jetzt mit den beiden Sklaven durch das Gepränge und gab sich dem süßen Gefühl jener Einsamkeit hin, die das Gegenteil von Verlassenheit ist. Und er blickte hinauf zu den scharfen Konturen des Kronoshügels, die sich schwärzlich gegen den gelblichen Himmel abgrenzten. Matter leuchteten schon die Malereien des Heraions, dessen dorische Säulen schlank und schimmernd dastanden, während die blauen Triglyphen und die bunten Metopen darüber hinliefen und sich in den prächtigen Terrakotten der Schatzhäuser fortsetzten. Drohend, gleichsam erstarrt in Kampf und Muskelspiel, säumten die Siegerstatuen in langen Reihen die spiegelnd glatten Plätze der Altis, und der massige Altar des Zeus, erbaut aus der Asche verbrannter Schenkelstücke und dem heiligen Wasser des Alpheios, gloste von rötlicher Glut verkohlenden Weißpappelholzes. Über allem aber flirrte die weiche Abendluft vom Dufte der Ranken und Blüten, vom leisen Geriesel des Opferdampfes und vom herben Geruche der Salböle und Essenzen.

Und Pythagoras schlenderte dahin und lächelte. Und alle, denen er begegnete, lächelten das gleiche Lächeln erklommenen Lebensgipfels und blickten einander in die Augen und fragten in keiner Miene, da jeder die Seele des andern wußte: die tiefste Seele des elischen Gottesfriedens. Und trotzdem einsam und einzeln blieb: Heute durften alle Hellenen ein Volk sein, ein einziges, unzertrennliches Volk. Morgen würden die Wettkämpfe beginnen und die Spaltung. Bis sie auseinandergingen und weiter wetteiferten bis zu Blut und Vernichtung. Um erst in vier Jahren an dem einen Tage sich wieder zur ganz großen Harmonie zusammenzuschließen.

Pythagoras stand eben vor einem Tische, auf dem ein Händler prächtige geschnittene Steine und bemalte Vasen ausgelegt hatte, und betrachtete die Amphoren und Kratére, die Gemmen und Figuren; als sich plötzlich schwer und freudig eine Hand auf seine Schulter legte und eine Stimme ihn grüßte, deren Klang ihn mit unheimlicher Gewalt um hundert Tagereisen ostwärts fortriß. Langsam, wie ungläubig, drehte er sich herum. Doch das Erkennen zwang die Männer sofort zu jubelnder Umarmung.

»Freundlicher Befreier!« rief Pythagoras aus und hielt die Hand des Demokedes fest. »Wähne nicht, daß ich deiner je vergaß. Deinem prächtigen Gewande entnehme ich mit großer Freude dein Wohlergehen. Doch halte ich dich vielleicht ab, deine Mitbürger zu suchen? Sonst hätte ich dich gebeten, einige Zeit mit mir zu verbringen!«

Demokedes lachte.

»Ich hatte die gleiche Furcht wie du!« erwiderte er. »Sag mir nur ohne Umschweife, ob du mit deinen Samiern hier weilst. Ich sah bisher noch wenige deiner Stammesfreunde!''

»Ich bin allein in Olympia!« fiel Pythagoras ein.

Da zog Demokedes in kindlicher Freude den Samier an sich. »Euoi!« jubelte er auf. »Dann bist du bis zum Ende des Festes ein Krotoniate, ob es dir nun paßt oder nicht!« Und er ließ Pythagoras nicht mehr zum Worte kommen, sondern sprudelte hervor: »Du weißt noch nicht, Pythagoras, was dir bevorsteht! Milon, der Vater meiner Gemahlin, ist hier und Brontinos, der große Arzt, und sein herrlicher Sohn, der Knabe Aristokles, und Damon, der Pankratiast, Phayllos, der Springer, und alle die andern! Doch was schwatze ich da? Komm jetzt mit mir in unsre Zelte, wir müssen uns stärken. Denn morgen – so es die Gnade des Zeus verleiht – wollen wir kräftig Beifall jubeln! Willst du unser Gast sein?«

Pythagoras war über die Herzlichkeit des Mannes, dem er so viel schon verdankte, gerührt. Doch besorgte er, daß die Krotoniaten, die als Pflanzvolk Achaias mit gewisser Geringschätzung auf Jonien herabsahen, nicht gleichermaßen gewillt sein würden, den Fremden im engsten Kreise aufzunehmen. So sagte er:

»Wie könnte ich anders, als dir danken; wo es keinem der Samier, denen ich heute begegnete, einfiel, mir seine Gesellschaft anzutragen! Meine Vaterstadt scheint mich vergessen zu haben. Doch wirst du nicht zürnen, wenn ich dir zu bedenken gebe, daß ein Fremder an diesem großen Weihetage deine Freunde stören könnte!«

»Stören? Uns Krotoniaten? Fast hätte ich gesagt, daß wir keine Jonier sind!« lachte Demokedes gutmütig heraus. »Stolz werden wir sein und glücklich, wenn sich einmal ein Weiser, ein Athlet des Gedankens und Wortes, zu unsren herakleischen Kämpfern verirrt. Doch komm und überzeuge dich selbst! Ist die Aufnahme nicht nach deinem Geschmacke, dann magst du wieder gehen. Ich stelle es dir frei.«

Und Demokedes hatte nicht zu viel versprochen. Als er mit Pythagoras zu den prächtigen Zelten der Krotoniaten kam und diese erst erfahren hatten, wen Demokedes als Gast bringe, erhoben sie sich insgesamt von den Sitzen und begrüßten ihn mit so echter Herzlichkeit und Begeisterung, daß der Samier seit langen Jahren sich in wahrer Heimat fühlte. Leckere Speisen und alter Wein wurden sogleich vor ihn hingestellt und man lauschte in kindlicher Ehrfurcht jedem Worte, das er sprach.

»Schade, daß du unsre Athleten nicht mehr mit der Macht deiner Rede zu unsterblichen Taten anfeuern kannst!« sagte der Arzt Brontinos. »Weilen sie doch schon in der Palästra, um nach ihrem trockenen Käse und Kladeos-Wasser noch einen kräftigen Schlaf zu tun. Morgen wird es heiße Kämpfe geben. Die Spartaner und Rhodier sind nicht zu verachten. Auch die Athener und Böotier haben diesmal gefährliche Gegner gestellt. Doch wollen wir nicht beben und es den andern Städten gönnen, wenn sie herrliche Jünglinge heranziehen. Wichtiger ist am Ende die Kraft von All-Hellas als der Ruhm einer Stadt. So wollen wir trinken auf den Sieg der hellenischen Gewandtheit, gleichgültig, wer darin der Erste ist!«

»Und auf den Sieg unsrer hellenischen Weisheit, deren Protagonist unser Gast ist!« fiel ein andrer Krotoniate ein.

Pythagoras aber, dessen Herz von Freuide fast überströmte, als er sich von so viel Frische und warmer Offenheit umgeben sah, wehrte bescheiden ab:

»Noch habe ich keinen Agon des Geistes und der Weisheit bestritten, ihr herrlichen Männer aus Kroton. Ein Suchender weilt noch zwischen euch. Doch wollte ich, daß ihr, eben ihr es wäret, die mir einst den Kranz verleihen würden!«

So war die Freundschaft geschlossen und bald fühlte sich Pythagoras sosehr seinen Gastfreunden zugehörig, daß er mit aller Leidenschaft sich um die Aussichten der krotonischen Kämpfer erkundigte und bis tief in die Nacht hinein den Gesprächen folgte.

Plötzlich sagte Demokedes feierlich:

»Es wird Zeit, Freunde! In wenigen Stunden bricht der Morgen an. Das Stadion soll uns nicht auf dem schlechtesten Platze finden!«

Und alle erhoben noch einmal die Becher.

Dann standen sie still auf, winkten die Sklaven heran und wanderten schweigend und lautlos durch die göttliche Sommernacht, die von zahllosen Fackeln durchglüht war und die Palmen und Bäume des Haines, die mächtigen Bauwerke und die glimmenden Altäre nur in schattenhaften Bruchstücken zeigte.

Als sie aber den weiten heiligen Hain durchquert hatten und der ungeheure Südwall des Stadions schwarz und langgestreckt vor ihnen ragte, da betete jeder noch kurz in sich hinein und flehte die Götter an für den Sieg der Mitbürger. Denn im Stadion selbst wollten sie Hellenen sein, nichts als Hellenen und nur die überlegene Kraft, die höhere Tüchtigkeit bejubeln. Das wenigstens war der feste Vorsatz ihrer kindlich edlen Gemüter.

Langsam stiegen sie die schmalen Treppenpfade des Walles hinan. Unter ihnen gähnte jetzt im Dunkel der Nacht der riesige Spiegel des Kampfplatzes und die Sterne leuchteten noch grell am Himmel, während sich der gegenüberliegende Böschungshang, der am Fuße des Kronoshügels abgegraben war, in unsichtiger Schwärze verlor. Leise Stimmen und Zurufe tönten durch den Raum. Sie waren also nicht die Ersten, die sich günstige Plätze sichern wollten. Doch merkten sie bald, daß sie auch lange nicht die Letzten waren.

So erreichten sie, geleitet von einigen besonders ortskundigen Krotoniaten, ihr Ziel und streckten sich zufrieden und sorglos in der lauen Luft auf die mitgebrachten Decken, um noch kurze Zeit zu schlafen, bis die aufsteigende Sonne und der schmetternde Heroldsruf den Beginn des hehren Wettkampfes ankündigen würde.

Pythagoras aber fühlte sich beglückt und geborgen. Denn wenn er auch, wie kein zweiter unter den Hellenen, die Fremde und Einsamkeit kennen und zu überwinden gelernt hatte, so sehnte er sich eben deshalb wie kein andrer nach endgültiger Ruhe und nach Zugehörigkeit zu einem höheren Ganzen seines geliebten Volkes.

Und sie schlummerten im schwülen Blumendufte unter den funkelnden Sternen von Elis. Und der Kladeos rauschte und sein Schall brach sich an den Wänden des Kronos-Hügels. –

*

Hell und langgezogen, dreimal wiederholt, verkündete der jubelnde Hornstoß den Aufgang der Sonne. Und als die Schläfer sich kaum noch voll aufgerichtet hatten, bot sich ihnen schon ein überwältigendes Bild. Vor ihnen stieg, in der Frische des wolkenlosen Morgens, der waldige Abhang des Kronos-Hügels hinan, der dort, wo der jenseitige Wall des Stadions anhub, durch eine lange Reihe blumenumwundener Masten unterbrochen war; wie denn das ganze Stadion im Laub- und Blütenschmucke geradezu ertrank. Nur der grellweiße Sand seines sechshundert Fuß langen Grundes schimmerte in weicher Glätte. Und auf den Wällen der Längs- und Stirnseiten staute sich, Kopf an Kopf, Leib an Leib, die unzählige Menge der Hellenen. Ganz unten, auf Marmorbänken in kostbarstem Prunke die Festgesandtschaften. Und weiß und gelb, blau und grün die herrlichen Gewänder. Dazwischen aber, entlang der Bahn, vorn am östlichen Ziele gehäuft, der dunkle Purpur der schiedsrichterlichen Hellanodiken. Überall aber, geißelbewehrt, die ordnenden Alyten und Ausrufer.

Das einzige Weib, die Priesterin der Demeter, saß hoch und still auf einem Altane in der Mitte der Längsumwallung.

Noch summte leises Reden in der ungeheuren Menge.

Als aber plötzlich der Alytarch auf Befehl der Hellanodiken die Hand hob und zehn Herolde zugleich mit schallendem Ruf den Beginn des Agons anzeigten, da trat eine Ruhe ein, die wie ein Zauber alle die Tausende in unverständlicher Umklammerung hielt.

Und es kam, kam zuerst leise und unmerklich, dann sich verbreiternd und in berauschendem Rhythmos: Unhörbar, fast ungesehen, waren die Hunderte der hellenischen Knaben nackt, nur die weiße Binde ums Haar, aus dem breiten dunklen Gange getreten, der die westliche Stirnseite des Stadions durchbrach. Plötzlich aber gaben die gymnastischen Lehrer, die sie herangeführt hatten, das Zeichen, und die riesige Schar setzte sich in langem Zuge, schwebend im langsamen Laufe, in Zehnerreihen, in Bewegung. Wie zum Gebete hoben die schlanken biegsamen Knaben, deren sonnengebräunte glatte Leiber vom Salböle funkelten, beide Hände dem Siegesziel entgegen, und so brauste die charitische Phalanx, jauchzend mit hellen Knabenstimmen, den Hellanodiken zu, um beim Ziel zu wenden und zum Ausgangspunkte zurückzukehren. Und die Füße schienen den Sand nicht zu berühren.

Zuerst war den Hellenen der Atem gestockt und Schauer des Jubels hatten ihre Glieder gepeitscht. Dann aber riß der unaussprechlich schöne und göttliche Rhythmos der Knabenglieder die Tausende in derart flammende Begeisterung, daß das Stadion in unterbrechungslosem hemmungsbaren Beifallstosen schütterte. Und von den Stirnseiten, den Längswällen entlang, stets einige Herzschläge unterschieden, wehten die Wogen des Gejauchzes und spornten die Knaben sosehr an, daß ihr Lauf schneller und schneller ward, bis endlich die strenge Zucht der gymnastischen Pädagogen ihrem Stürmen ein Ziel setzte.

Doch schon beengte neues Geschehen den Atem der Zuschauer.

»Er ist es, siehst du ihn? Der erste zur rechten Hand!« flüsterte der Arzt Brontinos dem Pythagoras zu und preßte in wilder Erregung seinen Arm. »Siehst du ihn?« Und er war bleich und sein Atem keuchte. »Siehst du Aristokles, meinen Sohn? Was wird ihm das Geschick bringen?«

Als aber Pythagoras den Knaben voll erfaßt hatte, flogen die ersten vier schon durch das Stadion und die schlanken, geschmeidigen Glieder sausten dahin, als ob es keine Erdenschwere gäbe. Kaum waren sie noch in der Mitte der Laufbahn und schon löste sich Aristokles von den andern los und vergrößerte mit jedem Schritte den Vorsprung, bis er, die Hände vorgestreckt, wohl fünfzig Fuß voran, durch das Ziel schoß.

Und nun ging es Lauf um Lauf, stets zu viert. Beifall und Zuruf, Jauchzen der Läufer, Tadel und Ermunterung wechselten in rasender Folge, bis viermal vier gelaufen waren und nun die vier Sieger miteinander wetteiferten. Hochauf pochte den Zuschauern das Herz, denn die Ausdauer der siegenden Knaben schien unbezwinglich. Und stets aufs neue jagten sie durch das Stadion. Aristokles aber hatte sich durchgekämpft und hatte den letzten Lauf vor der Schlußrunde nur mehr mit wenigen Schritten Vorsprung gewonnen.

»Er ermattet! Sahst du, wie lässig er schon lief?« murmelte Brontinos erbleichend. »Älter sind die anderen drei um manches Jahr und stärker. Wie wird er es erzwingen? Nein, es ist keine Hoffnung! Sieh nur!«

Und wirklich blieb Aristokles, als die letzten vier Sieger ungestüm durch den Sand brausten, wie erlahmend zurück. Starr und entsetzt blickten einander die Krotoniaten an und auch Pythagoras, den die Erregung noch näher an seine neuen Freunde gekettet hatte, ward von wehem Mitleid durchbebt.

Da geschah etwas Unerwartetes, etwas Großes und Herrliches: Ein hoher, klingender, siegvertrauender Jubelruf durchschnitt die Luft und der rehschlanke Leib des Aristokles schnellte mit solcher Geschwindigkeit vor, daß ein menschliches Auge ihm fast nicht folgen konnte. Noch hatten die anderen nicht das halbe Stadion durchmessen, als er sie sausend überholte und auch schon um zwanzig Fuß voran war. Und wieder jauchzte die Knabenkehle und hatte sechzig Fuß Raumgewinn. Da warf er sich plötzlich auf die Knie, jubelte durch die atemlose Stille die Namen des Zeus und der Nike und flog aufspringend noch immer mit ausreichendem Zuvorkommen an die Schnur der Hellanodiken.

»Ein Kranz, ein Kranz! Aristokles Olympionike! Heil dem Knaben! Heil Kroton! Euoi! Heil dem herrlichen Knaben!« schrieen in sinnloser Begeisterung die Krotoniaten und das ganze Stadion erbrauste wider vom Ruhme des Zwölfjährigen; des Knaben, den die Kampfrichter wegen seiner Jugend fast nicht zugelassen hatten.

Brontinos aber blickte Pythagoras an und sah dann zu Boden.

»Mein Aristokles! Mein Sohn! Mein Sohn!« flüsterte er nur und die heißen Tränen des Mannes perlten unaufhaltsam auf den Rasen des mächtigen Walles.

Doch blieb keine Zeit zu Betrachtungen. Denn schon standen, frisch gesalbt und mit Sand bestreut, die ersten Paare der ringenden Knaben im Stadion.

Wieder gab es Wunder von Gewandtheit und Tüchtigkeit. Wie Marder sprangen einander die Jünglinge an und suchten gelenkig nach dem entscheidenden Griffe, der den Gegner zu Boden warf. Bei Schultern und Händen, Kniekehlen und Füßen packten sie an; galt es doch, dreimal des Gegners Schultern in den Staub zu zwingen, ohne selbst zu Fall zu kommen.

Und wieder war es Aristokles, der sich selbst Siebzehnjährigen überlegen zeigte und endlich den letzten Gegner niederwarf, indem er ihm wie ein geschnellter Ball in unglaublichem Satze auf die Schultern sprang und ihn so, mit den Beinen sich festklammernd, in den Sand schleuderte.

Kroton hatte den zweiten Kranz errungen! Unbeschreiblich war der Jubel der Stammesgenossen; doch tönten schon von den Plätzen der Sybariten und Rhodier wohlvernehmbare Laute des Unwillens herüber, die sich jedoch sofort legten, als die elischen Wächter drohend die Geißeln gegen die Friedensstörer erhoben.

Die Knaben aber, wie um zu zeigen, daß ihren reinen Herzen solche neidische Sinnesart fremd wäre, scharten sich um Aristokles und küßten ihn. Und umschlangen dann gegenseitig die Schultern und liefen, »Heil Hellas!« rufend, umarmt durch das Stadion. Und dieser Anblick war so erhaben, so jenseitig hehr, daß wohl keiner der Hellenen seine Tränen zurückhalten konnte. Und plötzlich durchbrauste, von den Spartanern angestimmt, ein Sieg-Paian das ganze weite Stadion. Und das Lied hallte noch durch die sonnendurchflirrte Mittagsluft, als die Knaben schon längst entschwunden waren. –

Pythagoras alber hatte den seligsten Augenblick seines Lebens genossen. Den Augenblick, da er diese umarmten Kinder aller Stämme schaute; diese Knaben, die als Männer vielleicht den furchtbaren Perserscharen entgegenstürmen und sie zerschmettern würden. Und die auch in Weisheit und Kunstfreude als Erste dastehen würden auf dem Erdkreise. Denn so lauteren Herzen, solch herrlichen Leibern mußte auch göttliches Geistesschaffen entströmen.

Plötzlich scholl wieder der Heroldsruf. Ernst und feierlich diesmal. Denn der Kampf der Männer nahm seinen Anfang. Und wie der Ruf war der Aufzug der Athleten. Erschütternde Kraft, unglaubliches Muskelspiel zeigte das langsame Schreiten der Agonisten. Herakles und Aias, Hektor, Achill und Theseus schienen das Stadion zu durchmessen. Und die furchtbaren Körper der Pankratiasten, Ringer und Faustkämpfer standen neben den herrlichen ebenmäßigen Leibern der Läufer und der Streiter der Pentathlons.

Aus allen aber ragte Milon, der Sohn des Diotimos, hervor, der unheimlich riesige Krotoniate, der fünfmal schon den Kotinos-Kranz aus Olympia heimgetragen hatte.

Auch der Zuschauer bemächtigte sich erregter, fast düsterer Ernst. Prallten doch jetzt Kräfte aufeinander, deren Steigerung auf Erden nicht mehr möglich schien und die schon an die Leistungen der Heroen heranreichten.

So brauste der Lauf der Männer durch den Kampfplatz und brachte den Rhodiern den Sieg. Zwölfmal umkreiste hierauf der Dauerlauf das Stadion, dessen Kranz an die Spartaner fiel. Bis endlich, bewehrt mit Beinschienen, Helm und ehernem Schilde, die Waffenläufer die sechshundert Fuß durchklirrten und ein Athener an der Spitze blieb.

Eingedenk des Beispiels der Knaben, fühlten sich jetzt alle Zuschauer als Hellenen und würdigten die Leistung, nicht nur die Stammesverwandtschaft. Vor allem aber ließen es sich die Krotoniaten angelegen sein, die Siege der Nebenbuhler zu bejubeln, was ihnen an diesem Tage bei allen Hellenen fast mehr noch an Ehre eintrug als ihre glorreichen Siege.

Wild stieg die Erwartung an. Denn jetzt folgten die Kämpfe, bei denen Mann gegen Mann stritt.

Und es begann das einfache Ringen.

Wer wollte Milon den Kranz streitig machen? Unbewegt, mit Beinen, die förmlich im Sande wurzelten, vorgeneigten Hauptes, wie eine Bildsäule des, Herakles, stand er da und ein Gegner nach dem andern prallte gegen den ehernen Riesen und flog wie vom Blitze gefällt in den Sand, wenn er die Hände erhob und zugriff. Und er hatte alle geworfen und in kurzem den sechsten Kranz des olympischen Sieges errungen.

Als er aber, kaum ermüdet, als Einziger unverrückt auf seinem Platze blieb, riefen ihm die Männer, berauscht von so viel Kraft, zu, er möge, wie schon so oft, eine Probe ablegen, die, über den Ringkampf weit hinausreichend, eines Herakles würdig wäre.

Da nickte er lachend.

Und als alle anderen Kämpfer ehrfürchtig zur Seite getreten waren, erschien auf einmal, gebeugt und stöhnend, der Riese am Eingange des Stadions und auf seinen Schultern lag, gleich dem Erdgewölbe des Atlas, ein ausgewachsenes junges Rind. Und er schleppte es unter dem halb ungläubigen Jubel der Hellenen bis zu den Hellanodiken, wo er das zitternde Tier abwarf, das in wilden Sprüngen das Weite suchen wollte. Doch er sauste ihm nach und ergriff es blitzschnell bei dem Hufe eines Hinterbeines und hielt es fest, daß es brüllend in die Kniee brach. Dann aber ließ er es los und trat abseits, als ob keinerlei Ermüdung ihn an das vollbrachte Werk erinnerte.

Als aber der Beifall sich endlich gelegt hatte und Zuruf und frohes Gelächter verstummt waren, erfüllte schon das erste Niedersausen riemenbewehrter Fäuste mit seinem harten unerbittlichen Schalle die Luft. Und sie standen einander gegenüber, die Riesen, und wichen in geschmeidigem Sprunge den gräßlichen Hieben aus, die Haupt und Antlitz zu zerschmettern drohten. Wohl floß mancher Tropfen Blut, wohl sank mancher Faustkämpfer, durch einen kunstgerechten Schlag getroffen, wie leblos zu Boden; doch waren heute derart geübte und harte Antagonisten am Platze, daß es zu ernstlicher Verwundung nicht kam. Den Sieg aber erfocht Dämon, der Krotoniate, ohne zu treffen und ohne getroffen zu werden, indem er durch niegeschaute Geschicklichkeit seine Gegner ermüdete, bis sie sich geschlagen gaben. So brachte er einen Kranz heim, der nach hellenischem Brauche als höchste Ehre galt. Denn Geist und Schnelligkeit hatte gesiegt, nicht rohe Kraft und Zufügung klaffender Wunden.

Und auch im Pankration, dessen riesige Streiter ringend und mit den Knöcheln der bloßen Hand schlagend, in blitzschneller Wechselfolge gleichsam auf Leben und Tod kämpften, war es wieder die unbezwingliche Wucht und Geschmeidigkeit Dämons, die den Krotoniaten den fünften Kranz des Tages eintrug.

Bis endlich Phayllos im Pentathlon, die Sprunggewichte in der Hand, unter dem Klange pythischer Flötentriller, fünfundzwanzig Fuß weit, mehr schwebte als sprang, den Diskos über hundert Fuß schleuderte und auch in den übrigen Teilen des Fünfkampfes, im Speerwurfe, Lauf und einfachem Ringen sich sosehr hervortat, daß die Hellanodiken einem Krotoniaten auch den sechsten Kranz des Tages zuerkennen mußten.

Damit waren die Kämpfe beschlossen, nach denen die Olympiade ihren Namen führen würde für alle Zeiten. Und müde und hungrig, doch erfüllt von herrlichen Bildern, strömten die Hellenen aus dem Stadion, um nach kurzem Schlafe im Hippodrom einen Platz zu erraffen, der ihnen das bunte, wechselnde Schauspiel der Wagenrennen und des Wettstreites der Reiter in all seiner Pracht darböte.

Die Agonisten des heutigen Tages aber mußten bis zum Ende des Festes in der Palästra nächtigen, damit sachgemäße Pflege und Erholung den Verbrauch ihrer Kräfte wieder ergänze und nicht allzufrühe Schwelgerei und Gelage die Gesundheit erschütterten. –

*

Auch die hippischen Agone waren vorübergebraust.

Wieder lag das Hippodrom, zerwühlt von den Spuren sausender Räder, mächtig und leer da. Vorbei war das glänzende Rennen der Viergespanne, die in scharfer Wendung, mit der Nabe fast streifend, um die Zielsäulen geflogen waren; auf deren glattem Bord, vorgeneigt und schreiend, in beiden Händen die Zügel, sich der Lenker straffte und mit blitzenden Augen alles ringsum erspähen mußte; und im entscheidenden Augenblicke die Mastix-Geißel mit den kurzen Schnüren schwang und den Stab mit den Klapperblechen schüttelte. Schwarze, schneeige, braune, falbe, gefleckte Rosse waren schäumend durch die Bahn gerannt, daß das Alpheiostal vom Rasseln der Räder widerhallte und hochauf die Sandwogen zum Himmel stoben. Krachend waren die Gefährte aneinandergeprallt und manches war splitternd zerspellt. Andre aber, schief geneigt in den Kurven, hatten standgehalten und die zwölfmalige Umkreisung des Hippodroms erzwungen. Und Athener und Thessaler, Thebaner, Ephesier, Syrakusaner und Korinther hatten sich ausgezeichnet, bis das weiße Gespann Thessaliens an der Spitze blieb und den Kranz errang.

Dann hatte das Schicksal den Sybariten ein sonderbares Los zugeteilt:

Als nämlich in dichten Scharen schon längst die schlanken Reiter mit den schnaubenden Hengsten in den Kampfplatz eingelaufen waren; als die Jünglinge, die Rosse an den Mähnen haltend, gleichsam im Reigen einmal die Bahn umkreist hatten; als dann endlich das Reiten begann und das Hippodrom von der sausenden Folge zahlloser Hufschläge erscholl, da war der sybaritische Reiter weit vor dem Ziele vom Rücken des Rosses geflogen. Der Hengst aber, klug und wohl abgerichtet, war weiter der regelrechten Bahn gefolgt, hatte, leichter als die anderen, bald alle Mitkämpfer überholt, streckte noch einmal lang den herrlichen Hals, als er den Trompetenstoß hörte und blieb scharrend und zitternd mit fliegenden Flanken vor den Schiedsrichtern stehen. Jubel und Gelächter lohnte das treue Tier. Doch große Unschlüssigkeit herrschte unter den Hellanodiken; bis endlich nach langer Beratung durch Heroldsruf der Sieg des sybaritischen Rosses verkündet wurde; da es sich um einen Wettkampf der Hengste und nicht um einen Streit der Reiter handle.

Das Urteil war mit munterem Beifall aufgenommen worden und das Tier wurde bekränzt, liebkost und hinausgeführt, um fortan bis zum Lebensende ungewöhnlicher Ehren teilhaftig zu werden. –

So hatten die Kämpfe geendet.

Dann aber war das Dankopfer der Sieger am Altare des Zeus und der feierliche Umzug gefolgt, bei dem schon die köstliche weiße Wollbinde, der Kotinos-Kranz und der Palmzweig die Sieger schmückte, nachdem sie unter dem Jauchzen der Hellenen diese Sinnbilder höchster Mannestugend am Altare aus der Hand der Hellanodiken in Empfang genommen hatten.

Glänzend, unaussprechlich prunkvoll war dieser Umzug. Hatten doch alle Hellenen, die Gesandtschaften voran, alles aufgeboten, um Glanz und Wohlstand ihrer Vaterschaft sinnfällig zu zeigen. Herrliche Wagen gab es, kostbare Gewänder und Geschmeide und Barren edlen Metalls, Weihkessel aus Gold und Silber, Räuchergefäße und kunstvolle Dreifüße wurden den Gesandten vorangetragen. Und verschwenderische Opfer dampften auf hundert Altären.

Dann aber hatten die Eleer im Prytaneion den Siegern das köstliche Festmahl gerüstet und die Olympioniken nach Gebühr gefeiert.

So war es Abend geworden.

Doch jetzt sollte für die Erringer der Kränze der Augenblick kommen, den sie herbeigesehnt hatten seit vielen Jahren: Die Feier des Sieges im Kreise der Stammesgenossen.

Und die Krotoniaten ließen sich nicht spotten. Ein Riesenzelt aus Purpur hatten sie errichtet, schmackhaftesten Wein herbeigeschafft und ihre Sieger auf Kosten der Stadt in goldgestickte Gewänder gekleidet. Galt es doch heute einen Erfolg zu krönen, wie er wahrscheinlich nicht wiederkehren würde bis ans Ende der Zeiten.

So lagerten sie im Scheine bunter Lampen an den langen Tafeln und genossen ohne Hemmung und Scheu die Leckerbissen, die ihr dankbarer Sinn zusammengesteuert hatte.

Pythagoras, der in den kurzen Tagen schon engere Freundschaft mit den Krotoniaten geschlossen hatte, war unter ihnen und wollte sich, bescheiden und eingedenk, daß der Tag nur den Olympioniken zugehörte, auf einem minderen Platze niederlassen, als Brontinos und Demokedes ihn erblickten und es sich nicht ausreden ließen, ihn an die Spitze der Tafel zu den Siegern zu setzen.

Als er aber eben seinen Platz einnehmen wollte, schaute ihm der Knabe Aristokles entgegen. Da wurde Pythagoras von einem Gefühle durchbebt, das er sich nicht deuten konnte. Wo hatte er diesen holden Liebreiz schon erblickt? Wo den verwandten Strahl dieser reinen Augen, den süßen Schnitt dieser Lippen und dieser Nase gesehen? Und wie ein heißer Strom überwältigender Liebe stieg es in ihm auf und begeisterte ihn sosehr, daß er den Becher ergriff und fast ohne Willen laut und klingend zu reden anhub:

»Männer aus Kroton! Herrlichste der Hellenen am heutigen Weihetage!« rief er über das Gelage. »Sechs Kränze habt ihr errungen. Sechs Kotinos-Reiser, was noch keiner Stadt gelang. Doch nicht genug. Einer von euch trägt seinen Kranz als den sechsten auf dem mächtigen Haupte. Wie aber die heilige Sechszahl aufsteigend aus der Vermählung der drei ersten Zahlen besteht, so möge weiterwirkend der Anstieg von Kroton, von ganz Hellas erfolgen. Aus sechs möge zehn, aus zehn fünfzehn, aus fünfzehn einundzwanzig werden und so soll sich, stets verbreitert, zunehmend in der Macht des Wachstums, hellenische Kraft, hellenischer Geist über den Erdkreis ausbreiten.

Ihr könnt dies hoffen, Männer aus Kroton, Männer aus dem größeren Hellas! Denn die Jünglinge haben uns ein Beispiel, ein ewiges Beispiel gegeben. Und wie die reinen Knaben, neidlos und umarmt, durch das Stadion liefen und an Tugend die Väter übertrafen, so wird auch diese Knabenschar dereinst von ihren Söhnen besiegt werden an Tüchtigkeit und Reinheit. Und Geist und Körper, Kunst und Edelsinn werden verschwistert jene herrliche Harmonie wachsen machen, um die uns Hellenen der ganze Erdkreis vom Lande der Serer bis zu den Säulen des Herakles beneidet.

Da aber höchste Harmonie nur aus vollkommenstem Einzelnen bestehen kann, seien heute jene bejubelt, die an Kraft und Gewandtheit die Ersten der Hellenen sind!

Euoi Baikche! Eua die herrlichen Olympioniken!«

Als der tosende Zuruf und Beifall, den die erhabenen Worte des Pythagoras ausgelöst hatten, die jedes Hellenen innerste Sehnsucht berührten, kaum noch verklungen war, sprang, hold gerötet im strahlenden Antlitze, der Knabe Aristokles empor, riß die olympischen Kränze vom Haupte und legte sie vor sich hin. Dann tönte seine helle Knabenstimme:

»Nicht geziemen würde es dem Kinde, vor den Männern einem Weisen zu antworten. Sagen aber will ich etwas, o Pythagoras, was dir kein Mann sagen kann. Du siehst meine Siegeskränze, erhabener Pythagoras. Heute, nur heute bin ich also der Erste aller hellenischen Knaben. Und als solcher, bei dem göttlichen Kotinos-Reise, schwöre ich dir im Namen der hellenischen Jünglinge, daß wir nicht rasten und stille stehen werden, nicht einseitig nur dem Körper dienen wollen. Erfüllt erst wird unser Ziel sein, wenn wir den höheren unsichtbaren Kranz, den Kranz der Weisheit erstritten haben werden, den du, Weiser aus Samos, hundertfach schon um dein Haupt schlangst.

Damit du aber dem schwatzhaften Knaben glaubst, will ich dir wie allen Hellenen erzählen, wie ich siegte. Als schon im letzten Laufe meine Kraft erlahmte, als ich schon verzweifeln wollte, sah ich, aus Himmeln ragend, statt des Zieles plötzlich den herrlichen Thron des Guten! Was er ist, kann dir der einfältige Knabe nicht schildern. Doch ich sah ihn und wußte, daß er das letzte Ziel der Hellenen sei. Da wuchs meine Kraft, ich verlor die Schwere der Erde und erwachte erst, als meine Brust an die Zielschnur der Hellanodiken prallte. Um dieses Zieles willen siegte ich, Pythagoras, und auch die andern stritten nur für dieses Ziel. Denn nicht nur ein Sinnbild körperlicher Überlegenheit, körperlichen Sieges soll das Kotinos-Reis sein. Seine Bedeutung ist eine andere, eine höhere:

Darum beuge ich mich tief vor dir, Olympionike der Weisheit!«

Unbeschreiblich war der Jubel, der der Rede des Knaben folgte. Pythagoras aber, den die Weisheit des Kindes wie ein Wunder grüßte, der, fast beschämt, den Worten gelauscht, dann aber wieder jauchzend die Bestätigung seines eigensten Zieles aus ihnen herausgehört hatte, ging auf Aristokles zu und umarmte ihn und küßte innig seine reine Stirne und die strahlenden Augen.

Da dröhnte Milon, der Riese, um den Schauer der Tränen zu verbergen, der bereits über das wilde Athletenantlitz strömte:

»Was der Knabe sagte, ist meine, unser aller Ansicht!

Mich aber haben die Götter nur zum Herakliden ausgebildet. Darum erwarte nicht von mir, daß süßer denn Honig meine Rede ströme. Auch ich grüße dich vom andern Ufer, großer Pythagoras, Pankratiast der Weisheit. Mehr kann ich nicht sagen, denn ich verstehe mich nicht darauf. Eines aber will ich versprechen, weil es Wahrheit ist: Wenn dich, Pythagoras, einmal irgendeiner der Hellenen kränkt und hindert, wenn sie dich nicht nach Gebühr anerkennen, dann komm nach Kroton; dann werden Milon und Dämon, Phayllos und Aristokles und die andern Krotoniaten mit Schwert und Lanze zeigen, wieviel ihnen der Geist wert ist, auch wenn sie ihn nicht voll erfassen können! Heil den sieben Weisen! Heil dem achten, dem großen Pythagoras aus Samos!«

So jubelten und zechten die Olympioniken bis zum Morgen, und Pythagoras hatte hier, auf den Gefilden von Elis, zum erstenmal im Leben wahre Gottesruhe gefunden.

Mehr noch als das! Eine neue Heimat, neue Stammesgenossen des innersten Fühlens hatte er gewonnen im äußersten Westen hellenischen Gebietes.

Jonischer Geist und achaiische Urkraft hatten einander in den heiligen Gefilden Olympias liebend umfaßt. – – –


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