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VI

Als die heilige Sonne ihre ersten Strahlen von den östlichen Randbergen schräg herabgesandt hatte, als unter ihrem Ansturme die leichten Nebel oberhalb des Nils in das Nichts zerweht waren, als die ganze Luft in reinster Frische und Durchsichtigkeit flimmerte, war die letzte Stufe der Entsühnung und Reinigung erreicht:

Pythagoras stand nahe am schwindelnden Absturze der westlichen Schroffen, auf dem höchsten Kulme der Nekropolis, und blickte still und unbewegt hinunter zur hunderttorigen Stadt.

Da lag sie vor ihm, die Herrliche, und gleißte. Und er umfaßte zuerst das Ganze, bevor er das Einzelne entwirrte. Auf beiden Seiten des Stromes, von Hainen, Palmengärten, leuchtenden Straßen und Plätzen unterbrochen, staute sich die stundenweite Masse der Häuser. Und gleich Streitwagen und Rossen im Heere der Fußkämpfer, ragten die Paläste und Tempelpylonen, die Obelisken und Kolosse aus dem ungeschiedenen Gewimmel. Das glatte blaue Wasser des großen rechteckigen Stau-Sees funkelte zu seinen Füßen. Des Sees, über den die Barken die Toten in die ewigen Wohnungen herübertrugen. Und am jenseitigen Ufer, – jetzt gewann seine Schau plötzlich Erkenntnis und Vereinzelung – dort, wo die lange glatte Straße gesäumt von Hunderten widderköpfiger Sphinxe lief? Was standen dort, in erhabener, unausdenkbarer Majestät und Größe für Tempel, die einander die Fronten zuwandten; lang und wuchtig, auf hohen Terrassen am Ufer des Stromes?

Sein Herz begann zu jubeln. Tagelang zurückgedrängte Wünsche, Hoffnungen, Erfüllungen wurden in ihm greifbare Gestalt. Erinnerungen strömten auf ihn ein. Der jähe Wechsel des Schicksals umnebelte seinen Sinn.

Waren die Ereignisse der letzten Tage Wahrheit oder Traum? Und er versuchte, sein von Fasten und Bußübungen getrübtes Denken in die Reihenfolge der Geschehnisse zu zwingen: Er war halb unwillig, kaum mehr irgendeine Änderung hoffend, durch das Brausen dieser wundersamen Stadt, dieses Herzens des Erdkreises, zu den Tempeln geschritten. Ja, dorthin, dorthin, wo die lange Doppelreihe der Widderköpfe steinern und höhnend das ewige Lächeln Kemis lächelte! An die Pforten des Unaussprechbaren, des Großen, des Höchsten. Man hatte ihn geprüft, verhört, umhergewiesen – und gelächelt. Er hatte gewartet, müde und zerbrochen gewartet. Wozu auch? Im Hafen, an den Molen lag seine Barke, gerüstet zur Fahrt nach dem Lande Kasch.

Plötzlich hatte man ihn gerufen. Er war in einem Saale gestanden und hatte fliehen wollen. Steinern waren zehn Priester gesessen, wie die Bilder des Totengerichtes, die man ihm zu Memphis gezeigt hatte. Einer hatte sich erhoben, überirdisch und groß und ihn angeblickt; tief hinein, bis zum Grunde seines Herzens. Und er hatte die Hände, betend wie ein Tempelbild, von sich gestreckt und gellend den Namen Osiris gerufen. Da hatte der Greis gelächelt. Aber weltenfern anders als die anderen Menschen Kemis. Gütig und froh und hatte ihm leise Trost zugesprochen und gesagt, er würde ihm gerne über die gequälte Stirne streichen, wenn er schon gereinigt, entsühnt, einer der Ihren wäre. Und er hatte fortgefahren: »Sohn des Inselvolkes, freue dich! Dein Ziel ist erreicht, wenn du willst, und wenn du die Kraft hast, das Letzte zu vollbringen. Die Priesterschaft des Einzigen, des Unentstandenen, nimmt dich auf. Doch nur den Entsühnten kann sie in ihrer Mitte dulden!«

Da hatten seine Füße gewankt, das ganze bunte Gemäuer des Saales hatte angehoben zu kreiseln, die Priester waren in ein wirres Knäuel zusammengeflossen und dunkle Nacht hatte ihn plötzlich umgeben. Er hatte gefürchtet, vornüber zu stürzen. Doch nur einige Herzschläge lang. Dann war selige Stille in ihn eingezogen und er hatte gehört, was die Priesterschaft Amuns von ihm erwartete.

Pythagoras blickte inbrünstig hinunter zum Tempel, den er morgen betreten sollte. Denn heute war die letzte Stufe der Entsühnung vollendet. Vorüber das furchtbare Fasten, vorbei die Nachtwachen und Willensproben, die Betrachtungen und Reinigungen. Und er hatte sein Haupt, seine Brauen, seinen Bart geschoren; kein Haar verunreinigte die sonnverbrannte Glätte seines Leibes. Und er war nackt auf der Alabasterplatte gelegen, als priesterliche Ärzte das Ritual der Beschneidung an ihm vornahmen. Und hatte in der letzten Nacht schließlich das Höchste, das Schwerste vollbracht:

Auf dem Kulme des Totenreiches war er gestanden, ohne sich umzuwenden von Abend bis Sonnenaufgang. Unter ihm die zehnmal zehntausend balsamierten Leiber in den Felsengräbern, deren noch unerlöste Seelen um die kahlen Klüfte schweiften, hinauszogen ins Land, zum Nil, nach Memphis, zum Meere. Er hatte ihr Rauschen und Rascheln vernommen, hatte durch die helle Nacht gesehen, wie die goldenen Sperber, die Ibisse, die Turteltauben, die schwarzen Steinbilder, die summenden Skarabäen die Grüfte verließen, hatte wieder und wieder die Waage des Totenrichters gefühlt und in namenloser Angst bemerkt, daß sein Herz noch leicht war; zu leicht für das unerbittliche Gewicht der heiligen Gerechtigkeit.

Dann war Spuk um ihn gewesen. Aus Nebeln hatte sich der Gewitterdrache Apophis erhoben und nach seinen Füßen gezüngelt. Klagend, weinend war Isis durch die Schluchten geirrt, um die Glieder ihres toten Gemahls zu suchen und hatte ihn gerufen, er solle sich umwenden und ihr beim Suchen helfen. Fledermäuse hatten seine Haare gestreift und boshaft gekichert; bis endlich der große Sesostris, Ramses der Eroberer, aus dem Tale der Könige kam und, die schweifenden Seelen zu ungeheurem Heerzuge vereinigend, durch die Täler des Ostens entbrauste, um die Welt zu gewinnen.

Alles hatte sich endlich verwirrt. Felszacken wuchsen zu den funkelnden Sternbildern und neigten sich, um ihn torkelnd zu zerschmettern. Die Sterne huben an, in tollem Wirbel zu kreisen. Das Stöhnen seines Atems schien von fernher schnaubend auf ihn zuzustürmen wie ein Rudel wilder Leoparden. Und ein unbeschreiblich großes Krokodil tauchte aus dem Nil und sperrte seinen Rachen auf, größer als die Hunderttorige. Und hatte spitze Obelisken als Zähne.

Sein Wille wollte zerbrechen!

Da war leise, kaum geboren, ein klagender Hauch über die Höhen der Nekropole gestrichen, ein kühler Hauch des ersten Morgens. Und rötlich, fahl, doch unwiderruflich, war der erste Schimmer über den östlichen Randbergen aufgeglommen. Ein Bote dafür, daß der große Rā im Begriffe war, das Reich der Toten zu verlassen.

Und Pythagoras wußte, obwohl sein Leib von Hunger und Schwäche, Grauen und Willensanstrengung fast nicht mehr dem Geiste gehorchte, daß nun bald die Schranke fallen mußte, die ihn noch von den letzten Geheimnissen Kemis trennte. Denn die älteste, höchste Priesterschaft hatte ihm die Einweihung, die Enthüllung der Urgötter zugesagt.

Und dieser berauschende Gedanke ergriff ihn plötzlich mit solcher Macht, daß er seine Hände betend dem großen Rā entgegenstreckte; im selben Augenblicke, als von Theben vieltausendstimmig die Musik und der Gesang des Morgenopfers herauftönte. –

Kleine Weihrauchwölkchen lagen über Tempeln und Häusern, wirbelten zur Höhe, zerrannen. Mit ihnen verwehte das helle Klingen der Sistren, das Brausen der Gesänge.

Pythagoras kehrte sich ab und blickte gegen Westen. Wie ein erstarrtes, stürmendes Brandungsgewoge dehnte sich hier das kluftenreiche Gebirge. Kein Baum, kein Strauch, kein Grashalm, soweit man sah. Nicht einmal Käfer, nicht Vögel, nicht Echsen. Nichts, nichts als Steine und Klüfte, Klippen und Hänge. Und noch weiter draußen begann die furchtbare Wüste, das Geriesel des gelblichen Sandes.

Nein! Etwas lebte zwischen dieser Öde. Einen Herzschlag nur hatte sich ein weißer, zarter Punkt bewegt und sich vom eintönigen Hintergrunde des Felsens abgezeichnet. Jetzt war er wieder verschwunden. Wieder nichts Lebendiges! Eine Täuschung der Sinne!

Doch plötzlich wieder. Dort tauchte es hinter den Klippen auf und ward zusehends größer. Ah! Dort lief der schwindelnd-steile Pfad. Ganz deutlich umriß die Sonne die Erscheinung. Ein menschliches Wesen suchte die Höhe, seine Höhe.

Und was nicht die Verzückungen und Gesichte der Nacht in ihm hervorgerufen hatten, ward für ihn jetzt, am hellen Tage Ereignis: Eine namenlose Angst begann ihn zu durchtoben. »Was fürchtest du? Was schreckt dich?« fragte unablässig, beschwichtigend der Verstand. Doch mit um so größerem Grauen antwortete das Gefühl.

»Die Entsühnungen haben meine Seele verwirrt! Warum soll nicht ein Mensch, gleich mir, den Kulm der Nekropole betreten? Einer der Myriaden, die die hunderttorige Stadt bewohnen? Oder ein Fremder, ein Mann aus Memphis, aus Sais, aus Kasch?«

Nichts half. Kein Vernunftgrund gewann die Oberhand. Er starrte entsetzt der Erscheinung entgegen, die langsam, unsagbar langsam, näherrückte. Bis sie durch eine Biegung des Pfades verschwand.

Plötzlich, unvermittelt, stand sie wenige Ellen vor ihm und er schrie auf. Denn Bertreri nahte da, und die rötliche Morgensonne leuchtete in ihr Antlitz, daß es wie blankes Erz schimmerte. Sie war so unfaßbar schön, als sie aus traurigen Augen zu ihm aufsah. Ihre schwebenden, geschmeidigen Glieder bewegten sich in sonderbarem Rhythmos über die Härte des Felsens und ihr straffer, hoher Busen und die glatten, runden Arme bebten wie im Hauche eines kühlen Windes.

Jetzt wußte er, warum er der Erscheinung so bang entgegengezittert hatte. War doch durch die Gewißheit des Erkennens der gräßlichste Zwiespalt in seinem Gemüte entbrannt. Was wollte sie? Woher kam sie? Und was sollte er tun, er, der noch vor wenigen Wochen arm und enttäuscht nach kleinster Erfüllung gedürstet hatte? Reiften jetzt alle Früchte zugleich? Früchte, die er nur einzeln pflücken durfte?

Der Regentag stand vor ihm, der schwüle, graue, fahle Morgen, als er nach Memphis heimkehrte. Das müde, hoffnungstote Gefühl kroch herauf, das er erlebt hatte, als er den Garten Bertreris verschlossen fand. Und alle, nur halb sich selbst eingestandene Sehnsucht, alles Begehren durchflutete ihn, als er dieses traurige, rätselhafte Antlitz sah, das noch hundertmal schöner, süßer, lockender war als damals in Piom auf der traumumflorten Terrasse.

Kaum einen Herzschlag lang war das Wirrsal dieser Empfindungen, ungeordnet, doch übermächtig im Gemüte des Pythagoras emporgeschossen. Kaum so lang als es währte, bis sein leiser Ausruf des Staunens verwehte.

Doch Bertreri lächelte nicht. Kein Hohn war um ihren schmalen Mund, nur Sorge und Kummer und Schrecken.

»Pythagoras!« rief sie mit leiser Stimme. »Pythagoras! So logen also meine Späher nicht? Was tatest du? Sie haben dir die Brauen geschoren und du wachst die Nächte auf der Höhe des Totenreiches?! Noch ist es nicht zu spät. Kehre noch um, Pythagoras! Fliehe!«

Da stieg plötzlich aus anderen Zonen seiner Seele Trotz in ihm empor und das stolze Bewußtsein des Erreichten, der nahen Erfüllung aller Ziele. Und er sah zu Boden und murmelte:

»Es ist zu spät, Bertreri! Deine Mühe ist vergebens. Warum entzogst du dich mir, als ich dich suchte?«

»Du suchtest mich?« rief sie in tiefstem Schmerze aus. »Wann suchtest du mich?«

»Als mich zu Memphis die Priester des Ptah abgewiesen hatten. Ich fuhr nach Piom, um deinen Rat einzuholen.«

»Und ich war am Meere, weil ich wußte, weil – –« Sie stockte. Dann aber hob sie den Kopf und trat ganz nahe zu Pythagoras, der ihr erstaunt ins Antlitz sah. Denn eine rätselhafte Änderung war in ihren Zügen erfolgt. Weich und flehend lag ein Schimmer über den Augen und aus dem Kummer leuchtete stolze Freude.

»Alles sollst du wissen, Kind aus Samos! Alles, alles! Du selbst wirst es ja nie erkennen, wenn ich es dir nicht sage!« setzte sie flüsternd fort. »Höre also: Ich war an der Mündung des Nils, um meine Schätze in ein Schiff zu schaffen, das – das dich – und – mich forttragen soll. Übers Meer, in deine Heimat!«

Pythagoras starrte sie fassungslos an.

»Mich und dich forttragen? Übers Meer?« wiederholte er tonlos.

Da sank die stolze Königstochter plötzlich vor ihm nieder und umfaßte seine Kniee.

»Ich liebe dich, Pythagoras, liebe dich ohne Grenzen, hilflos, verzweifelt, ewig! Weißt du es nicht? Sind nicht meine Gedanken und Wünsche die ganze Zeit um dich gewesen? Alles will ich dir geben, alles, alles! Und will dir mit meinen Schätzen einen Palast bauen auf Samos oder Chios oder Delos oder auf dem Festlande! Und will mit dir leben und mit dir forschen und dir dienen. Nur zu den Priestern Kemis sollst du nicht gehen! Nur zu ihnen nicht, die alles verderben, alles vernichten, was gut und gerecht ist!« Und sie drängte ihren geschmeidigen Leib an ihn, daß er das wilde Pochen ihres Herzens fühlte, und bedeckte seine Hände mit Küssen.

Ihn aber hatte plötzlich ein nachtkalter Schauder durchzuckt. Die Berührung des Weibes, die seinen entsühnten gereinigten Leib traf, hatte ihm wie ein schmerzhaftes Umkrallen alles Blut aus dem Herzen getrieben. Er fröstelte. Und im Toben seiner zwiespältigen Sinne gaukelte ihm ein rasender Wahn vor, sein Fleisch sei zu Granit geworden; bis diese eingebildete Starre körperhafte Erscheinung wurde und seine Sehnen und Muskeln sich in verkrampfter Kälte streckten. Seinen Mund aber verschloß eine unüberwindliche Hemmung.

Bertreri fühlte die furchtbare Veränderung und bebte zurück. Langsam, entsetzt, erhob sie sich und begegnete seinem harten, abwesenden Blicke.

»Graut dir vor mir, Pythagoras? Ist Haß in dir gegen die, die alles von sich werfen will, um dich zu retten?« fragte sie mit zitternder Stimme in der ein dunkler hoffnungsloser Ton mitschwang. Oder haben sie dich gequält, bis sich deine Sinne tödteten?«

Pythagoras aber war erwacht, als ihn die Berührung des Weibes verlassen hatte. Und ein Schmerz war in ihm aufgebrandet, so wild, so fassungslos, so zerreißend, daß er die Hände vors Gesicht schlug. Und jetzt, da sie nicht mehr bei ihm war, da das Pulsen ihres Leibes nicht mehr seine Glieder koste, schrie brennende Sehnsucht nach dem verschwundenen Augenblick in ihm auf, den er nicht hatte genießen können, weil sein Schicksal mächtiger war als sein Wunsch. So sagte er, als er die Hände schlaff hatte sinken lassen, mit rauher, klangloser Stimme:

»Höre mich, du süßes Wunder der Erde! Höre mich und suche das zu verstehen, was ich selbst dir nicht deuten kann. Auch ich liebe dich, liebe dich bis zum Tiefsten. Trotzdem muß ich mich von dir wenden. Denn der Zwang des Schicksals ist über mir. Vor wenigen Stunden noch war ich im Bewußtsein des erreichten Zieles selig. Jetzt aber hat sich das an mir, was den Göttern gehört, von dem getrennt, was den Menschen eignet. Und beide fordern ihr Recht. Ich muß gehorchen. Den Göttern habe ich auf Karmel zugeschworen, als sie mich riefen. Du aber hast mich erst jetzt gerufen, Bertreri, erst jetzt, da ich, den Urgöttern dienend, für Jahre dem Weibe entsagte und meinen Leib niederzwang!«

»Du liebst mich?« hauchte Bertreri in namenlosem Schmerze. »Und bist so verblendet, mich, dich, den kleinen Rest von Schönheit, von Leben fortzuwerfen, um kahle Worte, spitzfindige Priesterklügeleien zu hören? Ahnst du, was du tust? Nie, nie wirst du deine Heimat wiedersehen! Nie deinen Hellenen die Urgötter bringen. Die Priester werden dich als Gefangenen halten, wenn du um ihre Geheimnisse weißt. Kannst du nicht in andrer, in höherer Art den Göttern dienen? Götter und Menschen zugleich beglücken? Den Göttern dient man, wenn man die Menschen beglückt, Pythagoras! Nicht aber, wenn man die lebendigen Herzen zertritt!« Wieder war sie auf die Kniee gesunken. Doch wagte sie nicht mehr, ihm nahezukommen, sondern streckte nur sehnend die Arme gegen ihn.

Da formten sich auf seinen Lippen, als ob er nicht selbst spräche, gegen seinen Willen fast, gräßliche Worte. Und er wandte den Blick ab und sagte hart und schneidend:

»Du hast gehört, was mein Entschluß ist. Versuch nicht weiter, Götter mir zu erklären, die dein Unglaube nicht kennt. Hoffe vielmehr auf ein fernes Reich, eine große, alles versöhnende Welt nach dem Tode zu der sich unsre Seelen finden und vereinigen werden, Bertreri!«

Da verlor die gequälte Seele der Königstochter die Fassung. Wild schluchzte sie auf, dann rief sie anklagend:

»Verantworte in diesem unerforschlichen Reiche, was du tatest, Pythagoras! Ich verstehe dich! Und ich gehorche, um nicht weiter deinen Zielen Last und Bürde zu sein. Der letzte Beweis meiner Liebe sei mein Tod!

Tausendfacher Fluch über euch ihr jungen Völker, ihr wilden, ungebärdigen Kinder, die trotzig und einsichtslos ihre tollen Wege wandeln und alles Glück, alle Vernunft von sich stoßen, und alles, alles gewinnen, wonach wir alten, weisen Volker lechzen – und verlechzen! Fluch euch, Segen nur dir, den ich liebte!«

Und ihr schlanker Leib schnellte gegen die Kante des grausigen Abgrundes.

Plötzlich aber stockte sie mitten in der Bewegung und langsam, wie wenn ein Traum über ihr stände, glätteten sich ihre schmerzdurchtobten, todestrunkenen Züge. Denn der jenseitige Strahl zwingendster Augen, tiefster Erkenntnis hatte sie getroffen. Hart vor ihr stand ein hoher Greis, das Leopardenfell um die Schulter, und hob wie segnend seine Handflächen. Dann trat er noch einen Schritt näher, faßte die Königstochter zart am Handgelenk und führte die Gehorchende aus der Nähe des Absturzes.

»Unglückselige Bertreri!« sagte er leise, »was wolltest du tun? Ist dein Haß gegen uns Priester so unauslöschlich, daß nicht einmal ein Suchender zu uns kommen darf?«

»Ich liebe ihn!« hauchte Bertreri bebend.

»Was fürchtest du für ihn, der sein Ziel erreichte? Wenn du ihn wahrhaft liebst, mußt du ihn das vollenden lassen, was er erwählte, bevor er dich sah. Kennst du mich?«

»Ich kenne dich, erhabener Sonchis, Lehrer meiner Kindheit! Dich vergaß ich, als ich die Priester schmähte!« antwortete Bertreri scheu. »Gleichwohl habe ich den Glauben verloren!« fügte sie plötzlich trotzig hinzu.

»Ich werde selbst sein Lehrer sein!« sagte der greise Priester. »Du aber, Unselige, gedenke des Augenblickes, da du am Abgrunde standest. Hast du da nicht neue Erkenntnisse gewonnen? Geh und suche in der Stille Pioms zu vergessen. Du bist noch so jung, Bertreri! Lang ist noch der Pfad deiner Leiden, länger der Weg deiner Freuden, bis du in die Hallen der ewigen Wohnung eintrittst. Geh, Bertreri, einer meiner Söhne soll dich geleiten!«

Und er führte sie an den westlichen Rand des Kulmes, wo ein junger Priester harrte.

Pythagoras aber, der ihr verständnislos nachblickte, sah, wie sie den süßen Kopf in namenlosem Weh neigte und müde, stockend, die schlanken Beine, Schritt vor Schritt, bewegte.

Da verkrampfte sich sein Herz in unendlichem Mitleid. Und er warf sich vornüber und schluchzte wild auf, daß sein geschwächter Leib in harten Stößen zuckte.

Bis sich unsäglich leise eine wissende, gütige Hand auf sein Haupt legte und die tiefe Stimme des obersten Propheten Amuns durch die Öde seines Schmerzes tönte:

»Pythagoras, kein Fremder mehr, ein Bruder unserer Priesterschaft, erhebe dich! Du bist entsühnt und gereinigt. Die Mächte aber, die dir Kraft liehen, alles zu überwinden, was sich gegen deine Ziele bäumte, werden auch jenem armen, zerquälten, trotzigen Kinde Frieden schenken. Der Verstand Bertreris ist um zehntausend Jahre älter als ihr Herz. Das ist ihr Unglück, das der Schatten vor ihrem Auge. Es wird aber wiederum ihr Glück sein. Denn schnell entflammt sich, schnell vergißt das junge Herz. Und dieses Herz, das jetzt wahren Kummer fühlte, wird den eigenwilligen Verstand zu den Göttern zurückführen.

Du aber wirst morgen das Abbild der Urgötter schauen, Pythagoras, Mann aus der Fremde, jetzt nicht mehr fremd, sondern Bruder, der du entsühnt und gereinigt bist und die letzten Stufen der Reinheit erzwangest!«

Sonchis schwieg. Pythagoras aber stand auf und blickte dem Greise unbewegt in die Augen. Seine Seele jedoch war um Jahre gereift; denn er hatte erfahren, daß der Überfluß an Erfüllung schmerzlicher sein kann als Mangel und Sehnsucht. Und daß auch höchste, reinste Ziele nicht frei waren vom Fluche und sich nur durch das Leid des Lebendigen erringen ließen. –


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