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IV

Die zitternde Erwartung wollte kein Ende nehmen. Die Beamten des Sonnensohnes hatten einige Tage verstreichen lassen, bevor sie den Versuch bei der Priesterschaft des Weltbildners, im Tempelbezirke des Ptah zu Memphis, wiederholten. Dem Pythagoras wurde schonend mitgeteilt, daß die Priester ihn überhaupt nicht von Angesicht zu sehen wünschten, da eine alte Regel ihnen verbiete, sich in Fragen von entscheidender Bedeutung durch den Anblick der Person beeinflussen zu lassen. Man würde das Gesuch einer reiflichen Prüfung unterziehen, da ja der heimische und der verbündete König es unterstützten; doch müsse schon jetzt darauf hingewiesen werden, daß sich nach dem ersten Eindruck nicht so leicht ein Ausweg werde finden lassen, der sowohl den Absichten des Gesuchstellers als den unbeugsamen Gesetzen der Religion entspreche.

Da seit diesen keineswegs ermutigenden Andeutungen schon viele Tage vergangen waren, festigte sich bei Pythagoras die Überzeugung, daß man überhaupt nur noch aus Höflichkeit gegen den König mit der Ablehnung zögerte. Ja, er war schon nahe daran, sein Gesuch selbst zurückzuziehen, da er fürchtete, durch eine neue Enttäuschung vollends um sein Selbstvertrauen und um seinen heißen Glauben an die Urgötter zu kommen.

So saß er wieder einmal unter den schattenden Säulengalerien seines Wohnhauses und blickte gedankenleer auf die leuchtenden Blumenbeete in der Mitte des Vorhofes, als ihm ein Bote gemeldet wurde.

Er brachte, ohne sich über den Grund Rechenschaft zu geben, die Ankunft des einheimischen Jünglings sofort mit der Erledigung seines Gesuches in innere Verbindung. Eine namenlose Erregung überkam ihn und er mußte das Äußerste seines Willens aufbieten, um vor dem Fremden das nötige Maß an Haltung zu bewahren.

Die Erscheinung des Jünglings, der sich grüßend vor ihm verneigte, entzückte und verwunderte ihn zu gleicher Zeit; denn obwohl der Gesichtsschnitt, die dunkle, rötlichbraune Hautfarbe und die schmalen, tiefschwarzen Augen unverkennbar den bodenständigen Ägypter kennzeichneten, war doch in seiner Kleidung, in seinem Auftreten und im ganzen Rhythmos seiner Bewegung vieles, was von der stilisierten, hieroglyphischen Ruhe der anderen Ägypter bedeutend abwich. Vielleicht lag es nur an der großen Jugend des Boten, die das Knabenalter kaum wesentlich übertraf.

Dieser äußere Eindruck des Ankömmlings wurde durch ein Ereignis von weit erstaunlicherer Bedeutung abgelöst: Der Knabe hub plötzlich an, in reinster hellenischer Zunge zu sprechen!

Pythagoras war so benommen, daß er erst nach geraumer Weile die Worte seiner Muttersprache aufzufassen begann. Doch nur, um aufs neue in tiefste Ratlosigkeit zu versinken. Was wollte man von ihm? Wie kam dieser Knabe dazu, ihn von Memphis fortzulocken, damit er Näheres über die Priester und das Schicksal seines Gesuches erführe?

»Wer sendet dich?« fragte er scharf, um der Sache auf den Grund zu kommen.

»Herr, es ist mir verboten worden, dir darüber eine Auskunft zu erteilen. Es mag dir genug sein, wenn ich dir bei Zeus und bei Osiris schwöre, daß du es nicht zu bereuen haben wirst, dem Rufe meiner Auftraggeber zu folgen!«

»Kannst du mir wenigstens sagen, ob die Priester von deinem Auftrage wissen?« Und Pythagoras sah ihn strenge an, da er geheime Ränke zu ahnen glaubte.

»Du fragst mich mehr, als ich weiß!« erwiderte der Knabe schlicht. Dann setzte er nach einiger Überlegung fort: »Du wirst viel Schönes erblicken, viel auch aus Ägyptens Vergangenheit hören, wenn du mir folgst.« Und er richtete seine Augen kindlich fragend auf Pythagoras. Als dieser aber nichts antwortete, flüsterte er traurig: »Soll ich hingehen und melden, man möge dir klügere Boten senden?«

Der letzte Ausbruch echten, ungeheuchelten Schmerzes rührte Pythagoras. Warum sollte er dem Rufe nicht nachkommen? Wenn man ihn verderben wollte, hätte man einfachere Wege finden können. Schließlich stand er unter dem Schutze des Herrn der Gerechtigkeit, und das wußte der geheimnisvolle Auftraggeber sicherlich ebensogut, wie er von dem Gesuche an die Priester wußte.

So lächelte Pythagoras dem angstvollen Knaben zu und sagte: »Ich gehe mit dir! Ist unser Weg weit?«

»Wir werden in einem goldenen Boote einige Stunden flußaufwärts fahren. Morgen wirst du wieder hier sein!«

Und der Bote wandte sich zum Gehen, während Pythagoras dem Hausgesinde noch einige Anweisungen gab.

Als er auf der Straße stand und sich dem Flusse zukehren wollte, sagte der Knabe:

»Nicht zum Nil! Wir fahren auf dem Kanale!«

So schritten die beiden in die entgegengesetzte Richtung und gelangten bald an die Böschungen der glatten, breiten Wasserstraße.

Pythagoras war über die Pracht der goldenen Barke erstaunt, die sie bestiegen. War sie doch weitaus kostbarer als das Boot des Königs, das ihn vor nicht allzulanger Zeit nach Heliopolis gebracht hatte.

Sechs Ruderer peitschten in ehernem Takte das Wasser. Er selbst saß auf einem edelsteinübersäten Sessel, der allenthalben mit Mosaiken aus Ebenholz und Elfenbein eingelegt war. Der Knabe aber hatte sich zu seinen Füßen niedergekauert, daß sein durchsichtiges weißes Schleiergewand sich bauschig im Fahrtwinde blähte.

Bald lag Memphis hinter ihnen und sie glitten nahe an der steilen, niedergangwärts gelegenen Bergkette dahin, aus deren Felsen ab und zu die Eingänge von Grabmälern, mit Säulen, Statuen und Hieroglyphen verziert, hervorstachen.

Die Frische des Spätnachmittags, die Kühle des Wassers, nicht zuletzt aber das Geheimnisvolle des Unternehmens begannen das Gemüt des Pythagoras sosehr zu erfrischen, daß er von Ruderschlag zu Ruderschlag heiterer wurde und mit dem dienstfertigen Knaben zu plaudern anhub. Dieser versäumte auch nicht, ihn auf alles nur halbwegs Sehenswerte hinzuweisen. Plötzlich schlug er sich auf die Stirne, glitt zum Vorschiff und bot nach kurzer Zeit dem Pythagoras eine goldene Schüssel dar, auf der in herrlicher Farbenharmonie Feigen, Weintrauben, Granatäpfel und Datteln aufgehäuft lagen.

Das Boot machte indessen eine scharfe Wendung nach rechts. Pythagoras blickte auf. Da sah er, wie sich in der Wand der gelben Randberge mit einem Schlage ein schmales Tal öffnete, in das die Abzweigung des Kanales, auf der sie jetzt ruderten, hineinführte.

Eine schwarze Pyramide auf hohem Sockel ragte zu rechter Hand. Steil stiegen die Felswände empor. Plötzlich änderte sich das Bild: Die Gebirge flohen nach beiden Seiten zurück und ein weiter, unübersehbarer Talkessel lag vor ihnen, auf dessen jenseitigem Rande, fern und duftig, die Schroffen im Lichte der tiefstehenden Sonne flimmerten. Dichtestes, üppigstes Wachstum, soweit das Auge reichte. Bäume und Felder, Blüten und Palmen. Und zur Rechten erhob sich, nach einer kleinen Biegung des Kanales, auf mächtigen Grundmauern ein Wunder, wie es Menschenaugen anderswo noch nicht geschaut hatten. Gut tausend Fuß lang, klotzig und wuchtig, schwindelnd hoch. Dabei über und über mit Reliefs und Hieroglyphen bunt verziert: Das Labyrinth!

Pythagoras sprang empor und staunte. Und der Knabe wies ihm mit leiser, scheuer Stimme die Einzelheiten, erzählte von den verwirrenden dreitausend Gemächern, den Säulenhallen und Standbildern dieses Riesenbauwerkes sondergleichen. Und dahinter ragte die Pyramide des großen Bauherrn, des dritten Amenemhat, des Königs mit dem Beinamen eines Herrn der Überschwemmungen.

Ungeheure Schleusen und Brücken aus Quadersteinen sperrten in naher Sicht den Kanal, als das Boot gegen links wandte und in eine bisher verborgene, ganz schmale Wasserader einlief, deren Böschungen den Spiegel sosehr überhöhten, daß für die Bootsinsassen jeder weitere Ausblick benommen war.

Die Barke folgte aber nicht allzulange diesem Seitenpfade. Nach einigen tausend Ellen legte sie an einer kunstvollen Treppe an, auf der bereits eine Schar prächtiger Diener und Sklavinnen der Ankunft des Fahrzeuges harrte.

Leichtfüßig sprang der Knabe auf die Stufen und reichte Pythagoras lächelnd die Hand, als dieser sich erhob, um auszusteigen.

Als sie, geleitet von den Sklaven, die oberste Treppenstufe erreicht hatten, schwoll ihnen ein schwerer weicher Duft entgegen; Pythagoras blickte erstaunt nach beiden Seiten: doch nirgends konnte sein Auge weiter als wenige Schritte in die leuchtenden Wände von Rosen und Lilien eindringen. Zu Häupten aber gabelten sich die bastumbüschelten Schäfte brauner Palmen in die zartgrüne Fiederung gewölbter Blätter. Der Weg, der schnurgerade lief, war mit einem Mosaik schwarzer und weißer Platten belegt.

Nach kurzem Schreiten standen sie vor der buntgemalten Fassade eines palastähnlichen Hauses, zu dessen Flügeltore neuerlich breite Treppen hinanführten.

Die Türen öffneten sich und ein Hof, schimmernd von Säulen, Alabastertafeln, Blumenbeeten und zierlichen Standbildern folgte, bis zur Linken eine Türe die beiden durchließ und in einen kurzen, halbdunklen Flur führte. Eine schmale Treppe stieg hier aufwärts, an deren oberster Kante ein Viereck des freien Himmels in schrägem Strahlenbündel das Licht herabsandte; so daß die untersten Treppenstufen in schwarzem Dunkel lagen.

Die Diener waren im Hofe geblieben. Der Knabe aber sagte leise:

»Steige diese Treppe hinan! Bald wird man dich gebührend empfangen! So lautet mein Auftrag!«

Damit verschwand er durch eine niedere Seitentüre.

Pythagoras überlegte einen Herzschlag lang, was dieses sonderbare Gehaben bedeuten sollte. Und ein merkwürdiges Gefühl nahm von ihm Besitz. Die Möglichkeit, in wenigen Augenblicken vielleicht rätselhaften Gefahren, Anschlägen oder Erfüllungen gegenüberzustehen, brachte sein Gemüt in Wallung. Hatte sich doch das Geheimnisvolle, das gewollt Mystische aller Begleitumstände immer mehr gehäuft.

Er stieg langsam die Treppe hinan. Um seinen Willen zu erproben, senkte er den Blick und hob ihn erst, als er vollends den Stiegenschacht verlassen hatte.

Da aber entfuhr ihm ein erstickter Laut des höchsten Entzückens: Im Leeren gleichsam wähnte er zu schweben, und das Licht, das von allen Seiten auf ihn eindrang, blendete ihn einen Herzschlag lang. Plötzlich aber sah er, sah alles zu gleicher Zeit: Vor sich die unausdenkbar große Fläche des Moeris-Sees, so glatt, so unbewegt wie ein farbloses Gewebe aus Äther. Nur weiter draußen, wo die gelben Randberge das Becken säumten, lagen Flecken und Streifen in zartestem Rosenrot und blitzendem Silber.

Die ganze Luft aber war mit still dahinziehenden Vögeln erfüllt. Mit Reihern, mit schwarzen Riesenseglern, deren Flügelspitzen weiß leuchteten, mit buntem goldigen Getier, mit hellroten Flamingos, mit bläulichen Schwalben. Und auf der Fläche des Sees zogen Schwärme schillernder Wildgänse, und breite Inseln aus Seerosen und Lotos schwammen an den Ufern. Die Sonne stand tief über den Randbergen. In ihren geneigten Strahlen leuchteten zur Rechten, aus Gärten und Hainen hervorlugend, die Paläste und Tempel von Krokodeilonpolis, stolz ragten in der Mitte des Seebeckens zwei dunkle Pyramiden auf mächtigen Sockeln, und der wuchtige Bau des Labyrinths hob sich vom Hintergrunde des Eingangstales. Der Spiegel des Sees aber lag, eingefaßt von unausdenkbar breiten Staudämmen, höher als die Umgebung.

Auf dem höchsten Punkte dieses Hunderte von Ellen breiten Dammgürtels jedoch stand der Palast, über dessen blumenbestreute Dachfliesen Pythagoras vorwärtstrat, bis er zu seinen Füßen die Wasser des Sees an steinerne, polierte Freitreppen sich anschmiegen sah: Wo breite, bunte Barken vertäut waren und trotz der Glätte des Sees in leichten Dünungsfalten sich wie atmend hoben und senkten.

Versunken in die Schau, erfüllt von der elysischen Ruhe dieses Ortes, vergaß er sich selbst und die Umgebung und verlor sich in das Abbild aller Schönheit, die ihn anströmte.

Plötzlich standen Worte im Raume, dunkle, wohllautende Worte, in deren holdem Klang ein leiser Hauch des Fremden bebte. Und sie wiederholten sich, schärfer und heischender:

»Sei gegrüßt, Pythagoras aus Samos!«

Seine Hingabe verflog. Das Band, das ihn mit der Umwelt hatte eins werden lassen, zerriß. Er fuhr herum.

Doch neue Schönheit, neue Wunder aus anderen Zonen der Schöpfung, warfen ihn in den Zustand entrückten Träumens zurück: Wenige Schritte vor ihm stand die süße Erscheinung eines herrlichen Mädchens. Schlank und hoheitsvoll. Und über das straffe Unterkleid, das den Busen, die zarte Linie der schmalen Hüften und der herrlichen Beine scharf umriß, lag wie ein Hauch das schleierdünne, vielfaltige Übergewand, dessen Saum nicht ganz bis zu den edelsteinblinkenden Spangen der Knöchel und zu den goldenen Sandalen reichte. Die Strähne der tiefschwarzen Haare aber umfaßten das dunkle Antlitz. Und die schmalen, unergründlich tiefen Augen blickten forschend auf den Gast. Und Geschmeide und Halsketten und die bunte Harmonie des halbmondförmigen Halskragens wurden bei weitem von dem flimmernden Reifen überhöht, der die Haare oberhalb der Stirne umgriff; aus dessen Mitte sich die Uräusschlange hervorbäumte und mit den Edelsteinaugen funkelte.

Zu beiden Seiten aber knieten Dienerinnen, die der Gebieterin mit Pfauenfächern Kühlung zuwedelten.

Pythagoras zwang sich zur Fassung.

»Sei gegrüßt, unbekannte Herrin!« sagte er und trat einen Schritt näher. Jetzt erst kam es ihm voll zum Bewußtsein, daß auch die Ägypterin hellenisch gesprochen hatte, als ihn ihr Gruß aus seiner Schau weckte.

Sie lächelte leise und winkte den Dienerinnen. Sofort standen, nahe dem Rande der Dachfläche, prächtige Prunksessel.

»Laß dich nieder, Pythagoras, und höre mich!« begann sie mit leiser Stimme. »Ich weiß, daß du über die Art, in der ich dich hieherlockte, verwundert bist. Mit vollem Rechte! Du wirst mir aber verzeihen, wenn ich dir sage, daß ich alles tat, um dich die Schönheit dieses Platzes voller würdigen zu lassen. Wer nicht zum erstenmal allein und in geheimnisumwehter Stimmung dieses Dach betritt, sieht nicht alle Wunder des Gaues Piom!«

»Dein Plan ist geglückt!« lächelte Pythagoras. »Und ich danke dir doppelt, da du mich kurz nach dem ersten Wunder ein zweites schauen ließest!«

»Wozu Schmeicheleien!« wies sie die Höflichkeit des Pythagoras ab und ihr Antlitz wurde hart und herb. »Wenn anders du es nicht ein Wunder nennst, daß ich noch leben darf!«

Er sah sie fragend an, da er nicht durch ein gesprochenes Wort ihre Abwehr verstärken wollte.

»Du wirst mich verstehen,« setzte sie nach kurzer Pause hoheitsvoll fort, »wenn ich dir sage, wer ich bin. – Und weshalb ich dich rief!«

Pythagoras, der so schnell vor der Enthüllung aller Geheimnisse der letzten Stunden stand, wurde durch diese Ankündigung gleichwohl nicht freudig gestimmt. Fast hätte er gewünscht, jetzt, auf der Stelle, forteilen und das Rätsel und die Erinnerung an die überirdische Schönheit des Geschauten zeitlebens in sich bergen zu dürfen. So schwieg er.

Da lachte die Ägypterin leise auf: »Ihr Hellenen seid ein sonderbares Volk. Man nennt euch geschwätzig, wir dagegen tragen den Ruf der Schweigsamkeit durch die Jahrtausende. Solltet ihr plötzlich von uns und wir von euch gelernt haben?«

»Die Zeit möge kommen, da alle Völker voneinander lernen!« antwortete Pythagoras kühl. »Geschwätzigkeit aber soll bei allen Völkern vertilgt werden. Auch bei uns Hellenen.«

»Habe ich dich gekränkt?« und sie neigte sich vor und sah ihm mit einem dunklen Blick in die Augen. »Ich wollte doch nur mich selbst verspotten. Und deine Verzeihung dafür erlangen, daß ich soviel schwatzte. Trotzdem muß ich dir vieles noch sagen!«

»Ich bin gekommen, dich, die ich nicht kannte, zu hören!« Und Pythagoras erwartete unbewegt ihre Antwort.

»Gut denn!« Und wieder schien sich ihre Gestalt in Würde zu erhöhen. »Ich sagte dir, es sei ein Wunder, daß ich lebe. Denn ich bin Bertreri, die Tochter des Sonnensohnes Uahabra, den ihr Apries nanntet. Staunst du jetzt noch über meine Worte?«

Pythagoras mußte seine ganze Kraft aufbieten, um durch keine noch so kleine Geste seine Erschütterung sichtbar werden zu lassen. Was wollte die Tochter des unglückseligsten Königs von ihm? In welche Ränke zog man ihn? Wie, – und das war die wichtigste Frage – wie hing das alles mit den Priestern zusammen?

Trotz seiner Beherrschung aber hatte Bertreri seine Bewegung bemerkt und richtig gedeutet. So sprach sie weiter:

»Fürchte nichts, Pythagoras! Ich bin die Tochter eines Königs, der seine Freundschaft zu euch Hellenen mit dem Leben bezahlte! So leitet mich auch nur Liebe zu deinem Volke, eurer Kunst und Dichtung, wenn ich dich hieher entbot, um dich zu warnen. Hüte dich vor den Priestern Kemis, Pythagoras! Alles, alles Unglück, das über Kemi hereinbrach, haben die Priester verschuldet!«

»Was weißt du von den Priestern?« hastete Pythagoras gegen seinen Willen hervor. »Woher weißt du, daß ich –«

»Die Tochter des rechtmäßigen Königs, die Urenkelin Tafnachths, hat noch mehr getreue Freunde in Kemi, als der stolze Amasis ahnt!« fiel ihm Bertreri, spöttisch lächelnd, in die Rede. »Doch wozu davon sprechen?« setzte sie abweisend fort. »Ich weiß nun einmal, daß dich die Diener Rās in Heliopolis nach Memphis wiesen. Dort wird man dich – das werden die nächsten Tage zeigen – auch in irgendeiner Form, die Amasis nicht verletzt, hinhalten oder dir ein endgültiges, verdecktes und überschminktes Nein sagen. Doch auch das ist gleichgültig! Es handelt sich um Tieferes, Persönlicheres, was ich dich fragen will. Was suchst du bei diesen – diesen Priestern?«

»Mein Verstand kann es dir nicht künden. Eine Ahnung ist in mir, ein Drang, der Befehl einer höheren Macht. Und ihr Zwang trieb mich von Samos nach Milet, von Milet nach Sidon und Tyros und Byblos und von dort nach Karmel. Auf dem Vorgebirge aber entschied sich mein Geschick und führte mich hieher. Vielleicht wird es mich weiter und weiter jagen bis an den Rand des Erdkreises!« Pythagoras blickte versunken vor sich hin, denn übermächtig hoben sich aus den Dämmerungen seiner Seele die scharfumrissenen Bilder seines Traumes.

Bertreri horchte wie ungläubig auf. Dann sagte sie in nachlässigem Tone: »Ich kann dem Wirrsal von Ahnungen und Träumen nicht folgen. Ich frage noch einmal, schärfer und klarer: Was erwartest du bei den Priestern Kemis zu lernen, zu erfahren, zu gewinnen?«

»Sie sollen mir entdecken, was der tiefste Sinn der Gottheit ist!« erwiderte er schnell.

»Das also hoffst du?« Und sie lächelte einen Herzschlag lang höhnisch vor sich hin. Dann trat ein fast hassender Ausdruck in ihre dunklen Augen. »Das also hoffst du?« wiederholte sie tonlos. »Du kennst die Priester nicht, du verkennst mein Volk! Vor tausend Jahren – vielleicht! Jetzt? Nein, jetzt ist das, was du suchst, längst gestorben, verweht, vergessen. Auch in mir, Pythagoras! Auch in mir!«

Pythagoras senkte den Blick. Seine Gedanken liefen durcheinander und kreuzten sich. Ein tiefer Schatten von Niedergeschlagenheit hatte sich auf sein Gemüt gelegt.

Bertreri aber sprach plötzlich ruhig weiter, so ruhig, daß ihn Schauder faßte:

»Höre von den Priestern, Pythagoras, bevor ich von den Göttern rede. Als Kind schon vernahm ich ihre Worte, ihr Geflüster war um mich und sie ahnten nicht, daß das Kind sie verstand, wenn sie den Vater verlockten. Von Gott hörte ich sie nie erzählen, wohl aber von Gold und Kriegen und Ränken, von Rechtssprüchen und Regierungsgeschäften. Kanntest du den Sohn der Sonne, den gütigen, tapferen Apries, der neunzehn Jahre lang den Feind bekämpfte, um das Reich des großen Ramses wiederzugewinnen? Der Kypros eroberte, die stolze Flotte Sidons versenkte? Und dessen Ansturm erst unter den Mauern Jerusalems zerschellte, weil dort der furchtbare Same keimte, den die Priester gesät?

Doch das kannst du nicht verstehen, wenn ich nicht noch weiter zurücksteige in die Kette meiner Vorväter.

Als das befreite Volk die Fremdherren in das elende Land Kasch zurückgejagt hatte, als endlich allem Schrecken, den einst ehrgeizige Priester über Kemi gebracht, ein Ziel gesetzt war, da herrschten die zwölf Könige in brüderlicher Eintracht. Doch die Priester wollten es anders und erzeugten Wunder und ließen betrügerische Vorzeichen eintreffen, bis sie Psamtik mit Hilfe hellenischer Söldner zum Alleinherrscher gemacht hatten. Einfältig und dankbar erinnerten sich Psamtik und seine Enkel der Hilfe der Hellenen, gaben ihnen Vorrechte, bis die Priester für ihre Macht zitterten.

Kemi hat im Laufe der Zeit viele Fremdvölker beherbergt. Ich schwöre dir, daß kein Mensch im Lande die Gefährten, die in den Schlachten an der Seite der Ägypter für unsere Heimat bluteten, um die kleinen Vorrechte beneidet hätte. Nur die Priester fürchteten euch Hellenen. So wurde dem Volke Haß und Neid eingeredet, bis durch Zwietracht und Eifersucht zwischen hellenischen und ägyptischen Truppen der Siegeslauf meines Vaters vor Jerusalem endete. Da ließ sich Apries endlich von den Priestern verleiten, ein rein ägyptisches Heer gegen die Kyrenaika zu senden. Das Heer wurde geschlagen. Und jetzt kam neues Unheil. Jetzt behaupteten die Ägypter, man habe sie absichtlich ohne hellenische Unterstützung gelassen.

Was weiter folgte, dürftest du wissen. Amasis, der Feldherr meines Vaters, wurde vom Heere zum Könige ausgerufen und mein Vater von den Aufständischen geschlagen und gefangen. Amasis war kein Mörder. Er hielt Apries in ehrenvoller Haft. Die Priester aber hatten es anders beschlossen. Volkshaufe über Volkshaufe zog vor den Palast in Sais, bis die Priester, höre, Pythagoras, dieselben Priester, die das Volk verhetzten, meinen gutgläubigen Vater zur Flucht verlockten und mitten in die empörten Rotten hineinführten. Dort wurde er schändlich erdrosselt! Er, der große, tapfere Sohn der Sonne, der letzte männliche Nachkomme Tafnachths.

Das sind die Priester Kemis, von denen du das Wesen des Göttlichen erfahren willst, Pythagoras, Kind aus Samos!«

Die letzten Sätze hatte Bertreri in furchtbarer Erregung hervorgestoßen. Ihr Antlitz war fahl geworden und ihre geballte kleine Faust lag blutleer auf die Lehne des Prachtsessels gepreßt. Doch sie zwang sich nieder und sprach mit ruhiger Stimme weiter:

»Und die Götter selbst? Habt ihr keinen Gott, Volk der Hellenen? Ergreift euch kein frommer Schauer bei der Nennung seines Namens?

                Fühlt ihr es nicht,
wenn Kronion mit dunkler Braue emporzuckt und die ambrosischen Locken
vom ewigen Haupte des Herrschers mächtig wallend die Festen
des hohen Olympos erschüttern?«

Pythagoras, dessen Seele sich unter den furchtbaren Anklagen gegen die Priester, gegen seine Hoffnungen, gegen den Verrat an heimatlichen Göttern aufbäumte, hatte sich vom Sitze erhoben und wollte in unklarem Drängen Entscheidendes erzwingen. Doch er sank sogleich zurück, als ihn der befehlende Blick Bertreris traf. Nur kurze Zeit aber währte seine Schwäche. Plötzlich siegte alles Klare in ihm und er antwortete fest:

»Den Gott, den du eben riefst, suche ich! Der Gott, der aus diesen Versen hervorleuchtet, ist mein Gott und der deine und der Gott aller Völker! Aber die Hellenen haben das Antlitz der Götter entstellt, die Dichter haben die Götter zu den Menschen herabgezogen. Deshalb suche ich an allen Orten, wo uralte Kunde vom Wesen dieses Gottes aufbewahrt wird. Mögen auch die Priester von heute schlecht sein, die Lehre und die Papyrosrollen von gestern und ehegestern können trotzdem herrliche Wahrheit bergen!«

»Wahrheit?« fiel sie müde ein. »Pythagoras, das Letzte! Dein Suchen ist Wahn, du eilst Schatten und Träumen nach. Kinder seid ihr, Hellenen, Kinder in allem; deshalb liebte euch mein Vater, deshalb liebe ich euer Volk. Pythagoras, noch einmal, höre das Letzte! Wir alle in Kemi, voran die Priester, alle, die höhere Bildung genossen, haben den Glauben verloren! Du schiltst die Hellenen, weil sie aus Göttern Menschen machen. Wir aber haben den Glauben zerstört, weil aus Göttern luftige Gedanken wurden. Gedanken, Regeln und Worte! Und ich selbst habe keine Götter mehr, weil allmächtige Wesen solche Diener zerschmettern müßten. Ohne Gerechtigkeit kein Gott und ohne Gott keine Gerechtigkeit!«

»Unglückliche!« stieß Pythagoras entsetzt hervor. »Unselig, daß du nicht glaubst!«

»Ich glaube nicht mehr, weil das Unglück zu groß war, das meine Väter traf!« erwiderte Bertreri kalt. Dann warf sie den Kopf zurück. »Sieh hinaus!« und sie lächelte rätselhaft. »Sieh hinaus, der du Götter suchst und nach Göttern dürstest: der große Rā senkt sich auf die westlichen Berge und tritt ins Reich der Toten!«

Pythagoras gehorchte. Da sah er, wie der See, das Gebirge und die Stadt in verlöschender Röte ertranken. Die Kulme der Pyramiden aber leuchteten in hellerem Glanze.


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