Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wir haben im achten Kapitel des dritten Buches gesagt, welchen Wert die Überlegenheit der Zahl im Gefechte, und folglich die allgemeine Überlegenheit in der Strategie hat, woraus somit die Wichtigkeit des Machtverhältnisses hervorgeht, über welches wir hier noch ein paar nähere Betrachtungen anstellen müssen.
Wenn wir die neueste Kriegsgeschichte ohne Vorurteil betrachten, so müssen wir uns gestehen, daß die Überlegenheit in der Zahl mit jedem Tage entscheidender wird; wir müssen also den Grundsatz, möglichst stark im entscheidenden Gefecht zu sein, allerdings jetzt etwas höher stellen, als er vielleicht ehemals gestellt worden ist.
Mut und Geist des Heeres haben zu allen Zeiten die physischen Kräfte gesteigert und werden es auch ferner tun; aber wir finden in der Geschichte Zeiten, wo eine große Überlegenheit in der Einrichtung und Ausrüstung der Heere, andere, wo eine solche Überlegenheit in der Beweglichkeit ein bedeutendes moralisches Übergewicht gab; dann waren es neu aufgebrachte taktische Systeme, dann verwickelte sich die Kriegskunst in das Streben nach einer kunstvollen, nach großen, umfassenden Grundsätzen eingerichteten Benutzung der Gegend, und in diesem Gebiet konnte der eine Feldherr dem andern hin und wieder große Vorteile abgewinnen; aber dieses Streben selbst ist untergegangen, hat einer natürlicheren und einfacheren Verfahrungsweise Platz machen müssen. – Sehen wir nun die Erfahrungen der letzten Kriege ohne vorgefaßte Meinung an, so müssen wir uns sagen, daß sich in denselben von jenen Erscheinungen wenig mehr gezeigt hat, sowohl im ganzen Feldzug überhaupt, als in den entscheidenden Gefechten, namentlich der Hauptschlacht, wobei wir an das zweite Kapitel des vorhergehenden Buches erinnern.
Die Heere sind in unseren Tagen einander an Bewaffnung, Ausrüstung und Übung so ähnlich, daß zwischen den besten und den schlechtesten kein sehr merklicher Unterschied in diesen Dingen besteht. Die Bildung in den wissenschaftlichen Korps mag noch einen merklichen Unterschied machen, aber sie führt meistens nur dahin, daß die einen die Erfinder und Anführer in den besseren Einrichtungen sind, und die anderen die schnell folgenden Nachahmer. Selbst die Unterfeldherren, die Führer der Korps und Divisionen, haben überall, was ihr Handwerk betrifft, ziemlich dieselben Ansichten und Methoden, so daß außer dem Talent des obersten Feldherrn, welches schwerlich in einem konstanten Verhältnis zu der Bildung des Volkes und Heeres zu denken, sondern ganz dem Zufall überlassen ist, nur noch die Kriegsgewohnheit ein merkliches Übergewicht geben kann. Je mehr das Gleichgewicht in allen jenen Dingen besteht, um so entscheidender wird das Machtverhältnis.
Der Charakter, welchen die heutigen Schlachten haben, ist die Folge jenes Gleichgewichtes. Man lese nur unbefangen die Schlacht von Borodino, wo das erste Heer der Welt, das französische, sich mit dem russischen gemessen hat, welches doch in vielen seiner Einrichtungen und in der Bildung seiner einzelnen Glieder am weitesten zurück sein mochte. In der ganzen Schlacht kommt nicht ein einziger Zug überwiegender Kunst oder Intelligenz vor, es ist ein ruhiges Abmessen der Kräfte aneinander, und da diese fast gleich waren, so konnte am Ende nichts erfolgen, als ein sanftes Umschlagen der Wage nach derjenigen Seite hin, auf der die größere Energie der Führung und die größere Kriegsgewohnheit des Heeres war. Wir wählen diese Schlacht als Beispiel, weil in ihr ein Gleichgewicht der Zahl bestand, wie es sich in wenigen andern findet.
Wir behaupten nicht, daß alle Schlachten so sind, aber es ist der Grundton der meisten.
Bei einer Schlacht, in der sich die Kräfte so langsam und methodisch aneinander abmessen, muß der Überschuß einen viel sichern Erfolg geben. In der Tat werden wir uns in der neuesten Kriegsgeschichte vergeblich nach Schlachten umsehen, in denen man über den doppelt so starken Feind gesiegt hätte, wie früher doch häufiger vorgekommen ist. Bonaparte, der größte Feldherr der neueren Zeit, hatte in seinen siegreichen Hauptschlachten, mit Ausnahme einer einzigen, derjenigen von Dresden 1813, stets eine überlegene, oder wenigstens nicht merklich schwächere Armee zu vereinigen gewußt, und wo ihm dies nicht möglich war, wie bei Leipzig, Brienne, Laon und Belle-Alliance, erlag er.
Die absolute Stärke ist in der Strategie meistens ein Gegebenes, an welchem der Feldherr nichts mehr ändern kann. Hieraus kann aber nicht gefolgert werden, daß der Krieg mit einem merklich schwächeren Heer unmöglich sei. Der Krieg ist nicht immer ein freier Entschluß der Politik, und am wenigsten ist er es da, wo die Kräfte sehr ungleich sind; folglich läßt sich jedes Machtverhältnis im Kriege denken, und es wäre eine sonderbare Kriegstheorie, die sich da ganz lossagen wollte, wo sie am meisten gebraucht wird.
Wie wünschenswert die Theorie auch eine angemessene Streitkraft finden muß, so kann sie doch auch von der mindest angemessenen nicht sagen, daß sie keine Anwendung mehr zuließe. Es sind hier keine Grenzen zu bestimmen.
Je schwächer die Kraft, um so kleiner müssen die Zwecke sein; ferner, je schwächer die Kraft, um so kürzer die Dauer. Nach diesen beiden Seiten hin hat also die Schwäche Raum, auszuweichen, wenn wir uns so ausdrücken dürfen. Welche Veränderungen nun das Maß der Kraft in der Kriegführung hervorbringt, werden wir nur nach und nach sagen können, wo diese Dinge vorkommen; hier ist es genug, den allgemeinen Gesichtspunkt angegeben zu haben; um denselben aber zu vervollständigen, wollen wir nur noch das eine hinzufügen.
Je mehr dem in einen ungleichen Kampf Hineingezogenen der Umfang der Kräfte fehlt, um so größer muß, von der Gefahr gedrängt, die innere Spannung, die Energie derselben werden. Wo das Entgegengesetzte stattfindet, wo statt einer heldenmütigen Verzweiflung eine mutlose eintritt, da hört freilich alle Kriegskunst auf.
Verbindet sich mit jener Energie der Kräfte eine weise Mäßigung in den vorgesetzten Zwecken, so entsteht jenes Spiel von glänzenden Schlägen und vorsichtiger Zurückhaltung, welches wir in Friedrichs des Großen Kriegen bewundern müssen.
Je weniger aber diese Mäßigung und Behutsamkeit vermögen, um so vorherrschender muß die Spannung und Energie der Kräfte werden. Wo das Mißverhältnis der Macht so groß ist, daß keine Beschränkung des eigenen Ziels vor dem Untergang sichert, oder die wahrscheinliche Dauer der Gefahr so groß, daß die sparsamste Verwendung der Kräfte nicht mehr ans Ziel führen kann, da wird oder soll sich die Spannung der Kräfte in einen einzigen verzweifelten Schlag zusammenziehen; der Bedrängte wird, kaum Hilfe mehr erwartend von Dingen, die ihm keine versprechen, sein ganzes und letztes Vertrauen in die moralische Überlegenheit setzen, welche die Verzweiflung jedem Mutigen gibt, er wird die höchste Kühnheit als die höchste Weisheit betrachten, allenfalls noch kecker List die Hand reichen und, wenn kein Erfolg ihm werden soll, in einem ehrenvollen Untergange das Recht zu künftiger Auferstehung finden.