Conrad Ferdinand Meyer
Jürg Jenatsch
Conrad Ferdinand Meyer

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Verwirrung füllte den Saal, unheimliche Dämmerung hatte sich zu verbreiten begonnen, in deren Schutz die meisten angesehenen Churer und fast alle Frauen sich unbemerkt entfernt hatten. Doch auf des Obersten herrisches Wort entzündeten sich die Lichter von neuem und beleuchteten den beginnenden Reigen. Aber die Gäste waren andere geworden und die Feier schien sich in eine wilde Lustbarkeit verwandeln zu wollen.

Bevor Waser die Treppe erreichte, war sein Auge an einer großen Frauengestalt in dunkler venetianischer Tracht haften geblieben, die dem Strome der forteilenden, den Stufen zudrängenden Churerinnen allein entgegen schritt. Es war etwas in der eigentümlichen Haltung dieses edelgeformten Hauptes, in der traurigen Glut dieser durch die samtene Halbmaske blickenden, suchenden Augen, das ihn seltsam schaurig berührte.

Er sah ihr nach, wie sie, das Gewühl der Tanzenden meidend, die Kammer der Justitia betrat. Diese hohe, reiche Gestalt kannte er nicht, aber sie mußte auch Jenatsch aufgefallen sein, denn der Oberst richtete sogleich seinen Gang nach derselben Schwelle. Ob er sie überschritt, das sah Waser nicht mehr, das Gedränge auf der Treppe wurde jetzt so groß, daß der Bürgermeister seiner ganzen Würde und Vorsicht bedurfte, um die verwirrte Amantia ungefährdet durch den Engpaß zu bringen. Es war ein toller Maskenzug, der die Treppe hinauf stürmte, wilde Gesellen unter der Führung einer kolossalen Bärin, der ein großes Schild mit den Wappen der drei Bünde an einer Kette um den zottigen Hals hing.

Sobald Waser die heimgeleitete Amantia einer alten Dienerin übergeben hatte, eilte er wieder nach dem Rathause zurück, ohne nach dem Doctor zu fragen, dem er es nicht leicht verzieh, daß er das unschuldige Flugblatt in so feindseliger und hinterlistiger Weise zur Beleidigung des Obersten ausgebeutet hatte.

Schon von fern sah er vor dem Staatsgebäude ein unsicher beleuchtetes verworrenes Gewühl und es ward ihm schwer, bis zur Hauspforte vorzudringen. Die gleichen Masken, denen er vor einer halben Stunde auf der Treppe begegnet war, entstürzten jetzt dem Hausflur in wilder Hast. Inmitten des an die dreißig Vermummte zählenden Haufens glaubte er plötzlich im Scheine einer sprühenden Fackel die ungeheure Bärin zu erblicken, die zerzaust und blutig mit einer über die Schultern gelegten Puppe oder Leiche davon schritt. Waser hatte die Türe erreicht. Er warf einen Blick auf die Wendeltreppe, sie füllte sich eben wieder mit taumelnden Gästen, die wirr durcheinander schrieen und hastig davoneilten.

Oben verstummte mit abgerissenen Tönen die Musik.

Jetzt gewahrte Waser hart neben sich einen untersetzten Franziskanermönch, dessen von der Kapuze beschattetes Augenpaar er forschend auf sich gerichtet fühlte. Eine Maske war das nicht. Der Mönch warf seine regentriefende Kapuze zurück und Waser erkannte das nüchterne, geisteskräftige Gesicht des Paters Pancraz und seine klug blitzenden Augen. Die beiden Männer schüttelten sich die Hände.

»Tun wir uns zusammen, Herr Bürgermeister«, sagte der Pater leis, aber eindringlich. »Welt und Kirche, Ehrenkette und Kuttenstrick im Bunde werden durch den tollsten Spuk dringen! Ich lese auf Eurem Gesicht, daß Ihr wie ich in Sorge seid um den Obersten. Etwas ist droben vorgefallen. Was sie dort fortschleppten, – ich habe das niederhangende Haupt scharf angesehen – war der tote oder ohnmächtige Rudolf Planta. Um den ist's kein Schade und an der Fastnacht sind blutige Köpfe nichts Besonderes, aber gut ist's doch, wenn wir hinaufkommen!«

Bei diesen Worten schob er den Bürgermeister in eine gesicherte Ecke und stellte sich vor ihn, denn ein paar trunkene Offiziere stürzten sich eben, mit den Degen fuchtelnd, in die Menge hinunter.

 

Der Pater verschwieg seine Hauptsorge – Lucretia. Er war, durch das Unwetter verspätet, vor einer Stunde erst in Chur angelangt, hatte die alte Gräfin Travers, die, hinfällig wie sie war, sich frühzeitig zur Ruhe gelegt hatte, zwar nicht gesehn, aber von der Dienerschaft erfahren, das Fräulein sei noch vor Mittag angelangt, habe ihrer Muhme Gesellschaft geleistet und sich dann, wie sie bisweilen zu tun pflegte, in ein für ihren Besuch immer bereit gehaltenes Gemach zurückgezogen, um sich umzukleiden. Erst vor kurzem habe sie, in ein weites Übergewand gehüllt, das Haus wieder verlassen. Ihr Knecht, der Sohn des Riedberger Kastellan, sei ihr auf diesem Gange mit der Fackel vorangeschritten. Wohin sie sich habe geleiten lassen, wußte niemand zu sagen.

Pancratius hatte aus dem Berichte der Dienstleute zu Riedberg Verdacht geschöpft, der junge Planta, den er für einen Feigling hielt, möchte in Bünden beherztere Genossen gefunden haben. Er fürchtete, der Neid der mächtigen Familien, die Georg Jenatsch beleidigt hatte, könnte, durch seinen letzten größten Erfolg aufgestachelt, in mörderische Gewalttat ausbrechen. Damit mußte Lucretias Verschwinden zusammenhängen, denn bei ihrer Gemütsart zweifelte er nicht, daß sie als Mitschuldige oder als Warnerin in das Unheil verflochten sei. Dieses aber schwebte über dem Haupte des Obersten, – als die eine oder die andere war sie in seine Nähe gebannt und er eilte sie dort zu suchen.

 

Und Lucretia war es gewesen, deren ernste feierliche Gestalt dem zürcherischen Bürgermeister in der Verwirrung des Aufbruchs im Saale begegnet und deren Schritten Jenatsch mit aufglühender Freude in die Kammer der Justitia gefolgt war.

»Willkommen, Lucretia!« rief Georg der sich nach ihm Umwendenden entgegen, »ich danke dir, daß du an meinem Feste nicht fehlst. Du bringst mir die Freude! Die Welt ist mir schal geworden, ihre Beuten und Ehren sind mir ein Ekel! Gib mir meine junge, frische Seele wieder! Sie ging mir längst verloren – sie blieb bei dir. Gib mir sie mit deinem treuen Herzen! Du hast sie darin aufbewahrt!« Er umfaßte sie mit beiden Armen und drückte ihr Haupt, dem die Maske entfiel, an seine Brust.

»Hüte dich, hüte dich, Jürg!« flüsterte sie, seiner Umschlingung widerstrebend, und erhob zu ihm Augen voll unendlicher Angst und Liebe.

Er mißverstand sie. »Ich weiß es schon«, rief er, »auf Riedberg wird keine Hochzeit gefeiert! Kehre niemals dorthin zurück! Du bleibst bei mir auf ewig! Wir verreiten noch heute nach Davos! – Jetzt aber zum Reigen!« –

Im Saale erklang eine rauschende wilde Tanzweise. Jenatsch löste seinen Degengurt, warf die Waffe auf einen Sitz und umfaßte Lucretia fester. Ihre Augen hafteten starr an der Tür, wo, hereinblickend, verlarvte Gestalten sich drängten. Sie hatte die scharfe, widrige Stimme Rudolfs vernommen.

Jetzt stellte sich eine kleine Ungestalt im langen schwarzen Rocke eines Küsters mit lächerlichen Bücklingen vor den Obersten. Die Schiefertafel in der einen, ein Stück Kreide in der anderen Hand, fragte sie näselnd: »Welchen Psalm oder Liedvers belieben der Herr Pfarrer von Scharans heute vor der Predigt singen zu lassen?«

Jenatsch erkannte sogleich das große Haupt und die kurzen ehrlichen Finger des Kellermeisters Fausch. »Ei, du bist zu fett für eine Kirchenmaus!« rief er ihm zu, »doch mein Verslein sollst du haben:

Selig lebt und freudig stirbt,
Wen die Lieb' umfangen!...

Das laß mir singen.« –

Der Kellermeister warf einen listig beobachtenden Blick auf die sich umschlungen Haltenden und drückte seine dicke Person, als wolle er sie von seiner Gegenwart befreien, so rasch er konnte, durch die Masken an der Türe in den Saal hinaus, wo die Paare, vom Rasen der Geigen und Pauken fortgerissen, immer schneller vorüberwirbelten. Fausch hatte nicht bemerkt, wie ängstlich Lucretia bestrebt war, ihm, Jenatsch mit sich fortziehend, auf dem Fuße zu folgen.

Schon war es zu spät. Das Zimmer füllte sich mit einem wilden Maskenhaufen und es war eine Unmöglichkeit geworden, den umdrängten Ausgang zu gewinnen. Auch dachte Jenatsch nicht mehr daran. Er war versunken in die wunderbare, wie von zerstörenden innern Flammen beleuchtete Schönheit seiner Braut und führte sie, dem Maskenspiel in der Mitte des Gemaches Raum gebend, in eine Fensternische. Doch das den Zug anführende Bärenungeheuer mit den Wappen der drei Bünde auf der Brust schritt schwerfällig auf ihn zu, streckte, ihm auf den Leib rückend, die rechte Tatze aus und begann mit brummender Stimme: »Ich bin die Respublica der drei Bünde und begehre mit meinem Helden ein Tänzlein zu tun!«

»Das darf ich nicht ausschlagen, obgleich ich meine Dame ungern lasse«, erwiderte Jenatsch und reichte der Bärin, den Fuß wie zum Tanze hebend, bereitwillig die Rechte. Diese aber schlug die beiden Tatzen um die gebotene Hand und packte sie mit eiserner Mannesgewalt. Zugleich zog sich der Larvenkreis eng um den Festgehaltenen zusammen und überall wurden Waffen bloß.

Lucretia drängte sich fest an die linke Seite des Umstellten, wie um ihn zu decken. Sie hatte ihm keine Waffe zu bieten. Wieder traf die Stimme Rudolfs ihr Ohr. »Dies, Lucretia, für die Ehre der Planta«, flüsterte er dicht hinter ihr und sie sah, mit halbgewandtem Haupte, wie seine feine spanische Klinge vorsichtig eine gefährliche Stelle zwischen den Schulterblättern Georgs suchte. Sie hatte sich von Jenatsch vorwärts ziehen lassen, denn dieser streckte sich, den ihn umschließenden Kreis seiner Mörder mitreißend, nach dem nahen Kredenztische aus und erreichte dort mit der freien Linken einen schweren ehernen Leuchter, dessen gewichtigen Fuß er gegen seine Angreifer schwang, die von vorn fallenden Hiebe parierend.

Da schmetterte ein Axtschlag neben ihr nieder. Sie erblickte ihren treuen Lucas, ohne Maske und barhaupt, der von hinten vordrängend, ein altes Beil zum zweiten Male auf Rudolfs bleiches Haupt fallen ließ und ihn anschrie: »Weg, Schurke! Das ist nicht deines Amtes.« Dann warf er den Sterbenden auf die Seite, drückte Lucretia weg und stand mit erhobener Axt vor Jenatsch. Der Starke, der schon aus vielen Wunden blutete, schlug mit wuchtiger Faust seinen Leuchter blindlings auf das graue Haupt. Lautlos sank der alte Knecht auf Lucretias Füße. Sie neigte sich zu ihm nieder und er gab ihr mit brechendem Blicke das blutige Beil in die Hand. Es war die Axt, die einst den Herrn Pompejus erschlagen hatte. In Verzweiflung richtete sie sich auf, sah Jürg schwanken, von gedungenen Mördern umstellt, von meuchlerischen Waffen umzuckt und verwundet, rings und rettungslos umstellt. Jetzt, in traumhaftem Entschlusse, hob sie mit beiden Händen die ihr vererbte Waffe und traf mit ganzer Kraft das teure Haupt. Jürgs Arme sanken, er blickte die hoch vor ihm Stehende mit voller Liebe an, ein düsterer Triumph flog über seine Züge, dann stürzte er schwer zusammen.

Als Lucretia ihrer Sinne wieder mächtig wurde, kniete sie neben der Leiche, das Haupt des Erschlagenen lag in ihrem Schoße. Das Gemach war leer. Um die über ihr schwebende Gestalt der Justitia waren die Lichter heruntergebrannt und das Wachs fiel ihr in glühenden Tropfen auf Hals und Stirn. Neben ihr stand Pancraz und legte die Hand auf ihre Schulter, während unter der Türe Fausch dem Bürgermeister Waser das Ereignis jammernd erzählte.

Willig wie ein Kind folgte sie dem Mönch, der sie von der Unglücksstätte wegführte. Waser aber übernahm die Leichenwache.

Nicht lange blieb er allein. Als das erste Entsetzen vorüber war und die Verwirrung der Gemüter sich löste, kamen die Häupter der Stadt eines nach dem anderen in die Totenkammer und klagten um Bündens größten Mann, seinen Befreier und Wiederhersteller.

Sie verzichteten darauf, die Urheber seines Todes, die ihnen als die Werkzeuge eines notwendigen Schicksals erschienen, vor Gericht zu ziehen. Keine neue Parteiung und Rache sollte aus seinem Blute entstehen, – er hätte es selbst nicht gewollt. Aber sie beschlossen, ihn mit ungewöhnlichen, seinen Verdiensten um das Land angemessenen Ehren zu bestatten.


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