Conrad Ferdinand Meyer
Jürg Jenatsch
Conrad Ferdinand Meyer

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Zweites Kapitel

Der Kriegsmann schritt klirrend dem Hintergrunde des schmalen tiefen Gemaches zu, schnallte den Degen ab, legte ihn mit dem Federhute und den Handschuhen auf einen leeren Sitz und warf sich mit einer unmutigen, harten Bewegung auf einen andern.

Fausch hatte gerade diesen Gast heute am wenigsten erwartet, auch entging ihm der mit den übermütigen Worten auf der Schwelle im Widerspruch stehende Ausdruck des Kummers und der Abspannung auf dem kühnen Gesichte nicht. Nachdem er noch einen besorgten Blick auf dieses geworfen, schloß er behutsam die Türe seines Schankes.

Das schmale Gemach lag jetzt im Halbdunkel, nur durch ein hochgelegenes Rundfenster über der Tür drang ein rötlicher, von goldnen Stäubchen durchspielter Sonnenstrahl in seine Tiefe und blitzte in den aufgereihten, fein geschliffenen Kelchen und funkelte in dem Purpurweine, welchen Meister Lorenz dem in sich Vertieften unaufgefordert vorgesetzt hatte. Eine gute Weile noch schwieg dieser, das Haupt auf den Arm gestützt, während Fausch die Hände auf die glänzende Marmorplatte stemmte und, einer Anrede gewärtig, nachdenklich vor ihm stand.

Endlich entrang sich der Brust des Gastes ein schwerer Seufzer: »Ich bin ein Mann des Unglücks!« sprach er vor sich hin. Dann richtete er sich mit einem trotzigen Rucke auf, als ob ihn sein eigenes mutloses Wort aus einem bösen Traume geweckt und seinen Stolz beschämt hätte, heftete seine finstere Augen fest, aber voll inniger Freundlichkeit auf Meister Lorenz und begann: »Du wunderst dich, Fausch, mich hier in Venedig zu sehen! Du glaubtest, ich hätte noch eine lange Arbeit in Dalmatien, aber ich bin zuletzt rascher damit fertig geworden und unblutiger als ich selber es dachte. Die dalmatischen Räuber sind zu Paaren getrieben und die Republik von San Marco kann mit mir zufrieden sein. Es war kein leichtes Spiel. Bei Gott, ich kenne den Gebirgskrieg von der Heimat her, aber hätt' ich nicht Verräter unter ihnen gefunden und sie entzweit durch mancherlei List und Vorspiegelung, ich säße noch vor ihren Bergmauern drüben in Zara. Auch eine hübsche Beute habe ich gemacht und dein Teil daran, Lorenz, ist dir wie immer gewiß. Ich bin nicht Jenatsch, wenn ich je vergesse, daß du mich aus deinem schmalen Erbe in den ersten Harnisch gesteckt und auf einen Kriegsgaul gesetzt hast.«

»Ein dankbares Gemüt ist ein ebenso schönes als seltenes Juwel«, sagte Fausch erfreut, »aber wo drückt Euch denn der Schuh, Hauptmann Jenatsch, wenn Ihr Ruhm und Beute vollauf zurückbringt?«

»Ich bin noch mit dem letzten Schritte in eine Falle meines tückischen Schicksals getreten«, versetzte der Hauptmann, die Brauen schmerzlich zusammenziehend. »Gestern Mittag landete meine Brigantine an der Riva, ich meldete mich pflichtschuldig bei dem Provveditore, der mich, da ich seine besondere Gunst nicht besitze, ohne weiteres zu meinem Regiment nach Padua beorderte. Dort langte ich bei einbrechender Nacht an und fand meinen Obersten in einer Locanda eine halbe Meile vor dem Tore, aufgeregt von Becher und Würfel und in bestialischer Laune. Er stand gerade mit rot glühendem Gesicht am Fenster, um Luft zu schöpfen, als ich vorritt. ›Prächtig‹, schrie er mich an, ›da weht uns der Teufel noch sein Schoßkind den Jenatsch her! Herauf, Hauptmann, mit Eurem vollen Beutel aus Dalmatien!‹ – Ich stieg ab und erstattete Bericht, dann setzt' ich mich zur Gesellschaft und wir spielten bis zum Morgenlicht. Dabei verlor der Oberst an mich etwas wie hundert Zechinen, doch verbiß er seinen Grimm und ohne Streit erreichten wir die Stadt. Aber er ließ den Mißmut an seinem feurigen Rappen aus und das schaumbedeckte Tier traf am Gemüsemarkt mit den fliegenden Hufen ein Bübchen, welches dem Schulmeister und der zur Frühmesse ziehenden Schule nachtrottelte. Wir saßen beim Petrocchi ab und nahmen ein Frühstück. Natürlich war bald auch der Schulmeister da mit einer feierlichen Jammermiene und forderte für das Schülerlein ein dem Edelmut und dem hohen Stande des Herrn angemessenes Schmerzensgeld. Ruinell aber fuhr den armen Wicht so wütend an, daß mich ein Mitleid überkam und ich mich dazwischen legte. So empfing denn ich die volle Ladung und der Oberst, der seiner Sinne nicht mehr mächtig war, vergaß sich soweit, daß er mich am Wams packte und einen schurkischen Demokraten schalt, der mit dem paduanischen Lügenpöbel unter einer Decke stecke...«

»Das bist du auch, herrlicher Jürg«, rief der Bäcker dazwischen, sobald das Wort Demokrat sein Ohr erreichte, denn dieser Zauberformel hatte er nie widerstehen können. »Das bist du auch! Dein treues Gemüt hat es mit dem gedrückten Volke stets redlich gemeint!«

... »Je gelassener ich mich verteidigte, desto unbändiger wurde der Rasende. ›Der Degen soll entscheiden, Hauptmann‹, tobte er, ›kommt mit mir vors nächste Tor.‹ Ich beschwor ihn, wenigstens bis morgen davon abzustehen und mich nicht zu nötigen gegen meinen Obern zu ziehen. Aber er bedeckte mich mit Schmähungen und nannte es eine Feigheit, wenn ich es nicht auf die Waffen ankommen lasse. Da endlich, um dem ehrrührigen Ärgernis ein Ende zu machen, folgte ich ihm, ungern genug, auf den Wall hinter St. Justina. Wir waren stattlich geleitet, auch vom Stadthauptmann und seinen Sbirren, tapfern Leuten, wie du dir's denken kannst, Lorenz! die sich mit vollkommener Rücksicht hüteten, in fremde Händel einzugreifen. Draußen aber warf der Unselige sich meiner Klinge in so blindem Zorne entgegen, daß er sich nach wenigen Gängen – – aufrannte.«

»Brrr«, fuhr Fausch zusammen, obwohl er diesen Schluß der Erzählung ahnungsvoll vorausgesehen hatte. Dann setzte er sich hinter sein Rechenbuch, das auf einem kleinen Pulte zwischen dem Tintenfasse und einem umfangreichen, bis auf eine kleine Neige geleerten Kelchglase lag, und schlug bedächtig blätternd eine Seite desselben auf, die den Namen »Oberst Jakob Ruinell« als Überschrift trug. Sie war von oben bis unten mit langen Zahlenreihen bedeckt. Er tunkte die Feder ein und zog zwei dicke Striche kreuzweis über das ganze Blatt. Dann setzte er ein Kreuzchen auch neben den Namen und schrieb dazu: »obiit diem supremum, ultimus suae gentis« und das Datum. »Requiescat in pace. Seine Schuld sei ihm erlassen«, sagte er. »Man versenkt den Letzten seines Geschlechts mit Wappen und Helm. Ich begrabe mit dem Ruinell seine Rechnung. Bezahlen würde sie mir doch niemand.«

»Nun schleppe ich auch das noch hinter mir her!« seufzte der andere.

»Werdet Ihr Euch flüchten?« fragte Fausch.

»Nein, ich gehe nicht aus Venedig, ich lasse mich nicht vom Herzog Rohan hinwegreißen«, versetzte Jenatsch leidenschaftlich, »jetzt, da der Kampf zur Befreiung meines Vaterlandes wieder entbrennen soll.«

»Merkt wohl, Jenatsch«, sagte Fausch, den Zeigefinger an die Nase legend, mit listigem Blicke, »der Provveditore hat Euch nicht umsonst hinüber nach Dalmatien geschickt. Sein Zweck ist, Euch von Rohan fern zu halten. Ahnt er doch, daß Euer gerades natürliches Wesen im Fluge das Vertrauen des edlen Herzogs gewänne und daß Ihr in Bünden seine rechte Hand werden müßtet. Wegen Eurer schon im Jünglingsalter verrichteten demokratischen Großtaten seid Ihr dem weichlichen Venetianer verhaßt und erscheint ihm gefährlich.«

»Himmel und Hölle scheiden mich nicht von den Geschicken meiner Heimat«, brauste Jenatsch auf, »und diese liegen jetzt in den Händen des Herzogs! Übrigens«, fuhr er bitter lächelnd fort, »hat sich Grimani verrechnet. Ich bin schon seit Monaten mit dem gelehrten Herzog in einem militärischen Briefwechsel; denn ich habe Ernst gemacht aus dem Handwerke, Lorenz, das mir einst die Not der Zeit aufgedrungen, und von Bünden zeichnet niemand eine bessere Karte als ich.«

»Gut«, sagte Fausch, »aber wie denkt Ihr Euch das Nächste? Ihr habt nach venetianischem Kriegsgesetze das Leben verwirkt, denn es verbietet bei Todesstrafe sich mit einem Vorgesetzten zu schlagen.«

»Bah, es fehlt mir nicht an Zeugen, daß ich knapp nur mein Leben verteidigt habe«, warf der Hauptmann hin. »Grimani freilich haßt mich noch von Bünden her, – wo er früher, wie du dich wohl erinnerst, venetianischer Gesandter war, – so gründlich, daß er den Anlaß willkommen hieße, mich in den Canal werfen zu lassen. Diese Lust aber wird er sich versagen müssen. Ich habe einen Vorsprung von mehreren Stunden. Gleich nach dem Zweikampfe warf ich mich zu Pferde und eilte nach Mestre zurück. Der amtliche Bericht an den Provveditore kann nicht vor Mittag in Venedig ankommen. Das kleine Geschäft, das mich zu dir führte, ist gleich beendigt, dann fahre ich ohne weiteres nach dem Palazzo des Herzogs am Canal grande. Ich weiß nicht, ob ich dort gerade willkommen sein werde; aber Schutz und Sicherheit als seinem Gaste versagt mir der Herzog nicht.«

»Keinen Schritt aus meiner Bude, Jürg!« eiferte Meister Lorenz. »Der Herzog wird in wenigen Augenblicken hier sein. Er will drüben bei den Frari den Tizian besehen. Das hat mir eben sein Adjutant gesagt, der Wertmüller von Zürich, ein gebildeter Mensch, ein feiner Kopf; aber noch grün, grün! Er spricht häufig hier ein, um mit mir die öffentlichen Angelegenheiten zu verhandeln und sich ein gesundes politisches Urteil zu bilden.« – Inzwischen hatte er leise die Tür etwas geöffnet und sein großes Gesicht lauschend an die Spalte gelegt. »Sieh, sieh«, fuhr er fort, »drüben setzen sich die Bettler schon in Bewegung und bilden in rührenden Gruppen auf beiden Seiten Spalier. Der Herzog ist im Anzuge.«

Mit diesen Worten stieß er beide Flügel weit auf. Der dunkle Steinrahmen der Tür umschloß ein Bild voll Farbenglanz, Leben und Sonne.

Im Vordergrunde wurden eben an den Ringen der Landungstreppe zwei mit zierlichem Schnitzwerke und wallenden Federsträußen geschmückte Gondeln befestigt. Zwölf junge Gondoliere und Pagen in Rot und Gold, die Farben des Herzogs, gekleidet, blieben zur Hut der Fahrzeuge auf dem von der Mauer grün beschatteten Canale zurück und kürzten sich in den Gondeln mit allerlei Scherz und Neckerei die Zeit. Die Herrschaften waren ausgestiegen und hatten sich die Treppe hinauf nach dem hellen Platze vor der Kirche begeben. Hier standen sie noch, die Schönheit der Fassade bewundernd und lebhaft besprechend.

Leicht zu erkennen an seinem vornehmen, hagern Wuchs und der würdevollen, aber anmutigen Haltung war der mit calvinistischer Schlichtheit in dunkle Stoffe gekleidete Herzog. Die schlanke Dame, die er führte, war nach allen Seiten in beständiger Bewegung. Jetzt neigte sie sich gefällig einem kurzen untersetzten Herrn zu, der ihr mit einiger Gravität die gotische Architektur des Doms zu erklären bestrebt war. Ein Gefolge von jungen Edelleuten in militärischer Tracht hielt sich in angemessener Entfernung und setzte mit französischer Lebendigkeit eine Unterhaltung fort, in der offenbar die Maria gloriosa keine Rolle spielte. In ihrer Mitte stolzierte der kleine kecke Wertmüller und schien, wie ein kampflustiger Sperling seinen Raub, eine These gegen alle gewandten Angriffe seiner jugendlichen Genossen zu verfechten.

Jenatsch hatte sich, die Pforte leer lassend, mit Fausch etwas in den Hintergrund des Gemaches gestellt, doch dergestalt, daß sein Auge den Platz beherrschte, und blickte über des Bäckers Schulter mit gespannter Aufmerksamkeit auf die Gruppe. Die Erscheinung des Herzogs fesselte seine ganze Seele. Dies war wieder das ihm unvergeßlich eingeprägte blasse Antlitz, in welches er einmal vor langen Jahren am Comersee geschaut hatte. In diesem Augenblicke zeigte ihm der Herzog seine scharf gezeichneten Züge im Profil und der Ausdruck langgeübter Selbstbeherrschung und schmerzlicher Milde, der auf dem etwas gealterten geistvollen Gesichte unverkennbar vorherrschte, überwältigte seltsamer Weise den Bündner wie mit der Macht einer erwachenden alten Liebe. Dieser Mann, der ihn magnetisch anzog, der in der Stunde, die über sein Leben entschied, einen wunderbaren Einfluß auf ihn geübt, dieser edle Mensch, an den er sich immer noch in verborgener Weise gekettet fühlte, hier stand er vor ihm und erschien ihm, als der bestimmt sei, in das Los seiner Heimat entscheidend einzugreifen. Rohan hielt wieder die Urne des Schicksals in den Händen.

»Erkennst du in dem schneeweißen Rundkragen dort, dem ansehnlichen Herrn, der vor der Herzogin scharwenzelt, unsern alten Schulkameraden Waser von Zürich?« unterbrach Fausch den stürmischen Gedankenflug des Hauptmanns. »Seine Manschetten sind so sauber und schmuck wie vordem sein Schulheft im Loch.«

»Richtig! dort steht Waser! – Was sucht der in Venedig?« flüsterte Jenatsch.

»Da hab' ich meine Vermutungen... Vielleicht hat Zürich irgend eine Rechnung für seine Compagnien im Dienste von San Marco zu ordnen – das ist aber nur Vorwand, sicherlich – und der Fuchs dort hat wohl mehr mit dem französischen Herzog als mit dem geflügelten Löwen zu tun. Das französische Heer, das der Herzog auf das Kriegstheater führen wird, sammelt sich, sagt man, im Elsaß und er kann es nur über den Boden der protestantischen Kantone nach Bünden bringen. Die Herren von Zürich aber berühmen sich, ihre Neutralität zwischen Frankreich und Österreich streng und peinlich aufrecht zu halten... Nur durch einen unvorhergesehenen raschen Durchbruch könnte sie vorübergehend perturbiert und die scharfsichtigste Wachsamkeit betrogen werden. Dieses jeder Vorsicht der zürcherischen Regenten spottende Ereignis kartet ihr braver Kanzler dort mit dem Herzog ab.«

»Vortrefflich!« sagte Jenatsch, den Degen umschnallend, »aber nun zu unserm Geschäft!«

Er zog Brieftasche und Beutel hervor.

»Diese zweihundert Zechinen sind dein, Fausch«, und er steckte ihm eine Rolle zu, »für Gaul und Harnisch. Meine übrige dalmatische Beute – hier ist sie in Briefschaften und Gold – bring mir bei dem Wechsler a Marca in Sicherheit. Ich hoffe die Bleidächer zu vermeiden; aber es ist gut auf alles gefaßt zu sein. Addio.«

Fausch ergriff mit Wärme die dargebotene Hand und sagte: »Lebe wohl, Jürg, du mein Stolz.«


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