Conrad Ferdinand Meyer
Jürg Jenatsch
Conrad Ferdinand Meyer

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Als Jenatsch öffnete, befanden sie sich dem Hauptaltare gegenüber, dessen heiliger Schmuck und silbernes Kruzifix in einem letzten durch das schmale Bogenfenster einfallenden Abendschimmer kaum mehr zu erkennen waren. Vor ihnen drängte sich Kopf an Kopf die knieende murmelnde Menge, Weiber, Krüppel, Alte. Längs der Wände schoben sich dürftige Männergestalten, mit den langen magern Hälsen vorwärts lauschend und den Filz krampfhaft vor die Brust gedrückt. – Auf dem Hochaltare flackerten zwei düstere Kerzen, deren Licht mit dem letzten von außen kommenden Schimmer der Dämmerung kämpfte. Die zwei Flämmchen bewegten sich in einem von zerbrochenen Fensterscheiben eingelassenen Luftzuge, der sie auszulöschen drohte, und tanzende Schatten trieben auf dem Altare ein seltsames Spiel. Der streichende Wind bewegte zuweilen mit leisem Geknatter die schwach schimmernden Falten der Altardecke. Erregte Sinne mochten wohl das weiße Gewand eines Knieenden auf den Stufen erblicken.

Jenatsch stieß im Mittelgange mit seinem Freunde vor, von den einen, in Verzückung Versunkenen, kaum bemerkt, von den andern mit bösen, feindlichen Blicken und leisen Verwünschungen verfolgt, aber von keinem zurückgehalten. Jetzt stand der athletische Mann, allen sichtbar, dem Altare gegenüber; aber vor diesem hatte sich auch schon eine Anzahl unheimlicher Gesellen wie eine Schutzwehr gegen Heiligenschändung drohend zusammengedrängt. Waser glaubte blinkende Dolche zu erblicken.

»Was ist das für ein unchristlicher Zauber!« rief Jenatsch mit schallender Stimme. »Laßt mich zu, daß ich ihn breche!«

»Sacrilegium!« murrte es aus der dichten Reihe der Veltliner, die einen Ring um den Bündner zu schließen begann. Zwei griffen nach seiner vorgestreckten Rechten, andere drängten sich von hinten an ihn; aber Jenatsch machte sich mit einem gewaltigen Rucke frei. Um sich nach vorn Luft zu schaffen, packte er den nächsten seiner Angreifer mit eiserner Faust und schleuderte ihn rücklings gegen den Hochaltar. Der Stürzende schlug mit ausgebreiteten Armen, die nackten Füße gegen die Menge streckend, hart auf die Stufen und begrub den buschigen Hinterkopf in die Altardecken. Leuchter und Reliquienschreine klirrten und es erhob sich ein langes durchdringendes Wehgeheul.

Dieser Moment der Verwirrung rettete den Pfarrer. Er benutzte ihn blitzschnell, durchbrach gewaltsam, seinen Freund nach sich ziehend, den verwirrten Menschenknäuel, erreichte die offene Sakristei, gewann das Freie und eilte mit Waser seinem Hause zu.

 

In dem sichern Wohnraume angelangt, stieß der Hausherr einen Schieber an der Wand zurück und rief in die Küche hinaus:

»Trag uns auf, meine Lucia!«

Herr Waser aber klopfte den Staub des Handgemenges aus seinen Kleidern und zog Manschetten und Halskrause zurecht. »Pfaffentrug!« sagte er, diesem Geschäfte mit Sorgfalt obliegend.

»Vielleicht, vielleicht auch nicht! Warum sollten sie nicht etwas gesehen haben? Irgend ein Phantom? Du weißt nicht, welche sinnverwirrenden Dünste aus den Sümpfen dieser Adda aufsteigen. – Schade um das Volk; es ist sonst so übel nicht. Im obern Veltlin lebt ein geradezu tüchtiger Schlag, ganz verschieden von diesen gelben Kretinen.«

»Hättet ihr Bündner nicht klüger getan, ihnen einige beschränkte bürgerliche Freiheiten zu gewähren?« warf Waser ein.

»Nicht bürgerliche nur, auch die politischen Rechte hätte ich ihnen gegeben, Heinrich. Ich bin Demokrat, das weißt du. Aber da ist ein schlimmer Haken. Die Veltliner sind hitzige Katholiken, zusammen mit dem papistischen Drittel unserer Stammlande würden sie Bünden zu einem katholischen Staate machen – und da sei Gott vor!«

Indessen hatte die reizende Lucia, die jetzt sehr niedergeschlagen aussah, den landesüblichen Risott aufgetragen und der junge Pfarrer füllte die Gläser.

»Auf das Wohl der protestantischen Waffen in Böhmen!« rief er, mit Waser anstoßend. »Schade, daß du deinen Plan aufgegeben hast und jetzt nicht in Prag bist. In diesem Augenblicke vielleicht geht es dort los.«

»Möglicherweise ist es für mich rühmlicher hier bei dir zu sein. Man darf nach den neuesten Nachrichten bezweifeln, ob der Pfalzgraf den Hengst zu regieren weiß, auf den er sich so galant gesetzt hat. – Es ist doch nichts daran, daß ihr euch mit dem Böhmen verbündet habt?«

»Wenig genug, leider! Wohl sind ein paar Bündner hingereist, aber gar nicht die rechten Leute.«

»Das ist sehr gewagt!«

»Im Gegenteil, zu wenig gewagt! Keiner gewinnt, der nicht den vollen Einsatz auf den Tisch wirft. Unser Regiment ist erbärmlich lässig. Lauter halbe Maßregeln! Und doch haben wir unsere Schiffe verbrannt, mit Spanien so gut wie gebrochen und die Vermittlung Frankreichs grob abgewiesen. Wir sind ganz auf uns selbst gestellt. In ein paar Wochen können die Spanier von Fuentes her einbrechen und es ist – kannst du's glauben, Waser? – für keine Verteidigung gesorgt. Ein paar erbärmliche Schanzen sind aufgeworfen, ein paar Compagnien einberufen, die heute kommen und sich morgen verlaufen. Keine Kriegszucht, kein Geld, keine Führung! Und mich haben sie wegen meines eigenmächtigen Eingreifens, wie sie's nennen, das sich für meine Jugend und mein Amt nicht schicke, von jedem Einflusse auf die öffentlichen Dinge abgeschnitten und so fern als möglich von ihren Ratsstuben an diese Bergpfarre gefesselt. Die ehrwürdige Synode aber ermahnt mich, eine fatale Friedsamkeit zu predigen, während über meinem Vaterlande stoßfertig die spanischen Raubgeier schweben. Es ist zum Tollwerden! – Täglich mehren sich die Anzeichen, daß hier unter den Veltlinern eine Verschwörung brütet. Ich kann nicht länger zusehen. Morgen will ich selbst noch eine Rekognoszierung gegen Fuentes vornehmen, – du kommst mit, Waser, ich habe einen anständigen Vorwand, – und übermorgen reiten wir zum bündnerischen Landeshauptmann nach Sondrio. Er versteht nichts anderes, als am Mark dieses fetten Landes zu zehren, das wir morgen verlieren können, der träge Blutsauger! Aber ich will ihm so zusetzen, daß ihm der Angstschweiß aus allen Poren bricht. – Du hilfst mir, Waser.« –

»In der Tat«, bemerkte dieser zögernd und geheimnisvoll, »auch ich habe auf meiner Reise durch Bünden einige Witterung bekommen, daß etwas im Tun sein möchte.«

»Und das sagst du mir jetzt erst, Kind des Unglücks!« rief der andere scharf und gespannt. »Gleich erzähle alles und ganz nach der Ordnung. Du hast etwas gehört? Wo? von wem? was?«

Waser ordnete geschwind in seinem Geiste das Erlebte, um es seinem gewalttätigen Freunde passend vorzulegen. »Auf dem Hospiz der Maloja«, begann er vorsichtig.

»Sitzt als Wirt der Scapi, ein Lombarde, also mit den Spaniern einverstanden. Weiter.«

»Hörte ich, freilich halb im Schlummer, neben meinem Schlafkämmerlein ein Zwiegespräch. Ich glaubte, es sei von dir die Rede. – Wer ist Robustelli?«

»Jakob Robustelli von Grosotto ist ein ausbündiger Schuft, ein Drecksritter, durch Kornwucher reich und durch spanische Gunst adelich geworden, der Patron und Spießgeselle aller Malandrini und Straßenräuber, – jeder Missetat und jeden Verrates fähig!«

»Dieser Robustelli«, sagte Waser mit Gewicht, »trachtet dir, wenn ich richtig hörte, nach dem Leben.«

»Wohl möglich! Das ist nicht die Hauptsache. Wer war der andere, mit dem er zettelte?« –

»Ich hörte seinen Namen nicht«, antwortete der Zürcher, der es für Pflicht hielt, dem Herrn Pompejus das Geheimnis zu bewahren, und als Jenatsch ihn drohend anblitzte, fuhr er herzlich fort: »Und wüßt' ich den Namen, so will ich ihn nicht nennen!«

»Du weißt ihn!... Heraus damit!« drang Jenatsch auf ihn ein.

»Jürg, du kennst mich! Du weißt, daß ich mir diese Faustrechtmanieren nicht gefallen lasse, ich verbitte mir das«, wehrte Waser mit möglichst kalter Miene ab.

Da legte ihm der andere liebkosend den starken Arm um die Schultern und sagte mit zärtlicher Wärme: »Sei offen, Herzenswaserchen! Du verkennst mich! Nicht für meine Person sorg' ich, sondern für mein vielteures Bünden. Wer weiß, vielleicht hängt an deinen Lippen seine Rettung und das Leben von Tausenden!«...

»Schweigen ist hier Ehrensache«, versetzte Waser und machte einen Versuch sich der leidenschaftlichen Umarmung zu entziehen.

Jetzt fuhr eine düstere Flamme über das Antlitz des Bündners. »Bei Gott«, rief er, den Freund an sich pressend, »sprichst du nicht, so erwürg' ich dich, Waser!« und als der Erschrockene schwieg, griff er nach dem Dolchmesser, womit er Brot geschnitten, und richtete die drohende Spitze desselben gegen die Halskrause des Zürchers.

Dieser wäre sicherlich auch jetzt noch standhaft geblieben, denn er war im Innersten empört; aber bei einer unvorsichtigen Bewegung des Sträubens, die er gemacht, hatte der spitze Stahl seinen Hals geritzt und ein paar Blutstropfen rieselten unheimlich warm gegen die Halskrause herunter.

»Laß mich, Jürg«, sagte er, leicht erbleichend, »ich will dir etwas zeigen!« Er holte zuerst sein weißes Schnupftuch heraus und wischte sich behutsam das Blut ab; dann zog er sein Taschenbuch hervor, schlug das Blatt mit der Skizze der Juliersäulen auf und legte es auf den Tisch hin vor Jenatsch, der das Büchlein hastig ergriff. Der erste Blick des Bündners auf die Zeichnung traf die von Lucretia zwischen die Juliersäulen geschriebenen Worte und er versank plötzlich in finsteres Nachdenken.

Waser, der ihn schweigend beobachtete, erschrak innerlich über den Eindruck, den Lucretias von ihm wider Willen übernommene und bestellte Botschaft auf Jürg Jenatsch machte. Er hatte nicht ahnen können, wie rasch der Scharfsinn des Volksführers den Zusammenhang der Tatsachen erriet und wie sicher und unerbittlich er sie verkettete. Trauer und Zorn, weiche Erinnerungen und harte Entschlüsse schienen über den halb Abgewandten wechselnd Gewalt zu gewinnen. »Arme Lucretia!«hörte Waser ihn aus tiefster Seele seufzen, dann wurde sein Ausdruck immer rätselhafter, verschlossener, und härtete sich zur Undurchdringlichkeit.

»Sie waren auf dem Julier... ihr Vater ist also in Bünden... Stolzer Herr Pompejus, du hast einen Robustell zum Spießgesellen... tief gesunken!« sprach er fast ruhig.

Plötzlich sprang er auf. »Nicht wahr, Waser, meine verwünschte Hitze? Du hattest auf der Schule davon zu leiden und ich bin ihrer noch immer nicht Herr geworden?... Geh zu Bette und verschlafe dein böses Abenteuer! – Morgen in der kühlen Frühe machen wir den Ritt nach Fuentes auf zwei untadeligen Maultieren. Du sollst an mir den leidlichen Gesellen finden von ehedem. Unterwegs läßt sich über manches gemütlich plaudern.«


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