Conrad Ferdinand Meyer
Jürg Jenatsch
Conrad Ferdinand Meyer

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Drittes Buch

Der gute Herzog

Erstes Kapitel

Auf einer Erhöhung des linken Rheinufers am Fuße des lieblichen Heinzenbergs überschauen die Mäuerlein und anspruchslosen Gebäude des Frauenklosters Cazis die Hütten eines dem katholischen Glauben zugetan gebliebenen Dorfes. Am schmalen Bogenfenster einer Zelle, die nach dem grauen, jetzt vom Morgenlichte beschienenen Schloßturme von Riedberg hinüberschaute, saß die schöne Lucretia Planta.

Der Frühling war vorübergegangen. Auch auf der Nordseite der rhätischen Alpen hatte der laue Föhn schon längst den Schnee von den Halden weggeschmolzen und in tobenden Wildbächen dem Rheine zugeführt. Durch die Felsspalten der Viamala hatte der Südsturm gebraust mit dem jugendlich unbändigen Strome um die Wette. Wochenlang hatte der schäumende Rhein zornig an seinen engen Kerkerwänden gerüttelt und herausstürzend die flacheren Ufer verheert. Jetzt führte er ruhiger die gemäßigten Wasser zu Tal, umblüht von den warmen Matten und üppigen Fruchtgärten des gegen die rauhen Nordwinde geschätzten Domleschg.

Es war ein klarer Morgen zu Anfang des Juni und die älteste Ordensschwester Perpetua hatte eben nach einer längeren Unterredung das edle Fräulein verlassen.

Die frommen Frauen von Cazis hegten schon längst einen Herzenswunsch. Das Amt ihrer Priorin war während langer Kriegsjahre unbesetzt geblieben und sie sehnten sich danach, daß es endlich wieder würdig bekleidet und geehrt werde von einem bei Gott und Menschen angesehenen Sprößlinge einer großen Familie. Wen konnten die Heiligen dazu auserwählt haben, wenn nicht die im Tale aufgewachsene und begüterte Lucretia Planta!

Das Kloster hatte den Planta schon aus den Zeiten vor der Reformation manche Schenkung zu verdanken. Nun waren mehrere Glieder der berühmten Familie, voran Herr Pompejus, in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche zurückgekehrt; dieser edle Herr hatte ohne letzte Wegzehrung einen bösen jähen Tod erlitten. – Was war natürlicher und christlicher, als daß seine vereinsamte Tochter den Schleier nehme, um für das Heil seiner Seele zu beten und das Kloster in diesen möglicherweise noch nicht so bald endenden schlimmen Zeiten mit ihrem edeln Namen zu schirmen, es mit ihrem Erbe zu bereichern.

Die Zurückgabe ihrer väterlichen Güter, von welcher wegen der Planta Landesverrat und Mitschuld am Veltlinermorde selbst zur Zeit der Unterjochung durch die Spanier nicht die Rede sein konnte, stand jetzt in naher Aussicht, sonderbarer Weise durch die Vermittelung des Obersten Georg Jenatsch. Die Taten des jetzt im Veltlin unter Herzog Rohan fechtenden Scharanser Pfarrsohns gingen in seinem Heimatstale von Mund zu Munde und sein Ruhm im ganzen Lande stieg täglich.

Zu dieser Fürsprache hatte den Obersten Jenatsch wohl ein nagender Gewissensbiß getrieben, oder wenn sie einen weltlichen, dem Verstande der Frauen von Cazis undurchdringlichen Grund hatte, so wußte Gott von jeher auch die Gedanken der Bösen zu seinen Zwecken zu biegen. Daß aber das edle Fräulein in Cazis eine bleibende Stätte finde und als Priorin die verlassene Herde weide, das war offenbar die Meinung des heiligen Dominicus selber, dessen Regel das Haus befolgte.

Lucretia hatte schon im Kloster zu Monza sein himmlisches Wohlgefallen auf sich gezogen. Damals hatten kaiserliche Kriegsbanden die Kirche zu Cazis geplündert und darin so unchristlich gehaust, daß, wie Perpetua dem Fräulein schrieb, von der heiligen Muttergottes nichts als das nackte Holz zurückblieb. Das junge Mädchen hatte dann in der Schule der geschickten italienischen Nonnen ein kostbares Kleid für die beraubte heimische Gottesmutter gestickt und bald Gelegenheit gefunden, es durch den herzhaften und wanderlustigen Pater Pancraz an seine Bestimmung gelangen zu lassen.

Seither hatte der heilige Dominicus der unwürdigen Schwester Perpetua seinen Wunsch und Willen in wiederholten Erscheinungen kund getan. Am deutlichsten und wunderbarsten aber war dieses in der verwichenen Nacht geschehen. Die betrübte Ordensschwester hatte in gottbegnadetem Traume die öde Zelle der Priorin betreten und dort plötzlich Lucretia erblickt, wie sie leibte und lebte, doch mit demütigem Angesichte und gesenkten Augen. Neben ihr aber stand St. Dominicus selbst im Glanze des Himmels und seiner schneeweißen Kutte, der ihr einen Lilienstengel überreichte. Der Träumenden war alsdann vorgekommen, als lege sich ein Abglanz seines Heiligenscheins um Lucretias erwähltes Haupt.

Die Schwester öffnete die Augen voller Freude und durchdrungen von dem Gefühle, daß sie diese Offenbarung nicht für sich behalten dürfe. So war sie denn gekommen das Gesicht Lucretia mitzuteilen und mit ihr dessen Bedeutung zu besprechen.

Der Eindruck des Traumbildes auf das Fräulein war indessen weniger erfreulich und überzeugend gewesen, als die Nonne gehofft, und sie hatte sich darauf lange bemüht zu ergründen, welche Wurzeln der Weltlust oder der Weltsorge das Fräulein immer noch draußen zurückhielten, denn dieses sprach von dem Kloster, trotz seines Wohlwollens für dasselbe, nur als von seiner einstweiligen Herberge.

An irdischem Besitz schien Lucretias Herz nicht zu hangen, noch weniger an irdischer Liebe; denn einige bescheidene Klosterscherze, die sich Schwester Perpetua einzig in der Absicht das Fräulein zu erforschen in dieser Richtung erlaubte, wurden mit stolzem Lächeln abgewiesen.

Noch eine Möglichkeit hatte die Schwester beunruhigt: Lucretia wollte in der Welt bleiben, bis sie einen würdigen Bluträcher finde, der nach altem Landesbrauche den Tod ihres grausam erschlagenen Vaters mit demjenigen der Mörder sühne, oder sie trage am Ende selbst blutige Gedanken mit sich herum, die sich mit dem Frieden des Klosters nicht vertrugen.

Diese schreckliche Vermutung, die ursprünglich ihrem zahmen und frühe durch Klosterzucht geregelten Gemüte ferne lag, – Perpetua war keine schwerblütige Bündnerin, sondern entstammte einer ehrbaren Zugerfamilie – hatte ihr der alte Lucas zu Riedberg noch vor der Fahrt, die er nach Italien getan, um das Fräulein heimzugeleiten, zu wiederholten Malen nahegelegt. Er selbst war ganz davon durchdrungen, wie von einer unabwendbaren Notwendigkeit. Aber auch diese Mutmaßung hielt nicht Stand. Lucretia war der Schwester heute so kindlich weich und versöhnlich erschienen, daß sie sich einen derartigen Verdacht als ein Unrecht gegen das verwaiste Fräulein vorwarf.

In Wahrheit, heute hegte Lucretia keine Rachegedanken. Sie sann mit einer Trauer, die ihre geheime Süßigkeit hatte, den Erlebnissen ihrer Heimreise aus Venedig nach. Ein seltsames Verhängnis hatte das Leben des ihrer Rache Verfallenen in ihre Hand gegeben und sie hatte es nicht genommen, sie wußte heute mit voller Herzensüberzeugung, daß sie es nicht nehmen dürfe. Der Widerstreit ihrer Gefühle hatte sich gelegt, sie war zur Ruhe gekommen.

 

Lucretia hatte Venedig, begleitet von ihrem treuen Lucas, im Frühjahr verlassen und die lange Strecke bis nahe an die Grafschaft Chiavenna erst über Verona und Bergamo und dann längs der blühenden Ufer des Comersees in mäßigen Tagritten ohne Aufenthalt und Abenteuer zurückgelegt. Grimani hatte sie mit einem Geleitbriefe durch das Venetianische versehen – im Mailändischen genügte ihr Name – und von Rohan war ihr als schützender Kavalier der junge Wertmüller mitgegeben worden.

Wohl hatte die Herzogin gegen dieses für die schöne Reisende, wie sie behauptete, in keiner Weise passende Geleite zuerst Einspruch erhoben; aber der Herzog kannte die guten und schlimmen Eigenschaften seines Wertmüller nicht erst seit gestern und wußte, daß sein wunderlicher Adjutant sich noch in jeder ernsten Probe ehrenhaft, zuverlässig und tapfer erwiesen hatte.

So strebte Donna Lucretia, von dem triumphierend neben ihr reitenden Locotenenten geistvoller, als ihr wohltat, unterhalten, den täglich sich vergrößernden Silberspitzen ihrer heimischen Gebirge entgegen und eines Tages gelangte der kleine Reisezug in die sumpfige Ebene, durch welche die Adda sich langsam dem Nordende des Comersees zuwindet. Da sie am Morgen in der kühlen Frühe aufgebrochen waren, beschlossen sie an einem Kreuzwege unfern der drohenden Festung Fuentes vor einer Locanda kurze Mittagsrast zu halten, um dann heute noch Chiavenna zu gewinnen und am nächsten Tage den Saumpfad über den Splügen einzuschlagen.

Lucretia zog es vor, die unreinliche Herberge nicht zu betreten; sie setzte sich allein in eine Weinlaube, deren blasses Frühlingsgrün sich eben aus den springenden Knospen entwickelte. So hatte sie eine Weile den Hühnern zugesehn, die neben der Krippe das von den fressenden Pferden herausgeworfene Futter aufpickten, da erblickte sie zwischen den zarten Blättern und jungen Ranken hindurch auf der staubigen Landstraße einen Zug Leute, der sogleich ihre ganze Aufmerksamkeit fesselte. Sie erriet, daß ein Gefangener eingebracht werde, und als er näher kam, erbebte ihre Seele. Ein halbes Dutzend spanischer Soldaten, voran ein alter dürrer Hauptmann zu Pferde, führten in ihrer Mitte einen Mann in der Alltagstracht des Veltlinerbauers, dessen Kleider zerrissen und über und über von Sumpfwasser geschwärzt waren. Staub und Blut entstellten sein Angesicht, und die Hände waren ihm mit groben Stricken hinter dem Rücken zusammengebunden. Das Fräulein erkannte mit Entsetzen die hohe Gestalt und die trotzige Haltung des Jürg Jenatsch. Auf den Spuren des eingeholten Flüchtlings schnüffelten spanische Bluthunde, welche wohl bei dieser Menschenjagd Dienste geleistet hatten, und gelbe halbnackte Jungen und blödsinnige Zwerggestalten liefen johlend hinter dem gewaltigen wehrlosen Manne her. Beim Herannahen des Trupps eilten die Bewohner des Hauses vor der Türe zusammen, auch Lucas kam herbei, der eben die Pferde wieder gesattelt hatte, und Wertmüller trat hinter Lucretia.

Der spanische Hauptmann gebot seinen Leuten Halt, stellte sich in den Schatten der Hauspforte und nahm seine Sturmhaube von dem totenkopfähnlichen Haupte, dessen braune Knochen nur durch zwei erhitzte, tiefliegende Augen belebt erschienen. Dann hieß er sein abgejagtes Tier, dessen Riemenzeug zerrissen war, zur Zisterne führen und fragte kurz und barsch: »Ist jemand hier, der in diesem Späher den vormaligen ketzerischen Prädikanten und vielfachen Mörder Georg Jenatsch erkennt?«

Es schlurfte in zerfetzten Schuhen ein ältlicher Knecht herbei und sagte mit kriechender Miene: »Zu dienen, Exzellenz. Ich hauste anno 1620 in Berbenn und war dabei, als dieser Gotteslästerer mit verfluchter Hand meinen leiblichen Bruder gegen den Hochaltar von St. Peter schleuderte, daß der Ärmste für sein Lebtag ein Gebresten davontrug.« –

»Das paßt«, sagte der Spanier, »ich betraf denselben Prädikanten im gleichen Sommer an der Zugbrücke unserer Festung. Eure Ausflüchte, Mann, helfen Euch nicht und der Strick ist Euch gewiß.«


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