Conrad Ferdinand Meyer
Jürg Jenatsch
Conrad Ferdinand Meyer

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Der Hauptmann, der diese tollen und geschmacklosen Ausfälle der Eingebung des Weines zuschrieb, wie sie sich bei dieser ehrgeizigen und auf jedes fremde Verdienst eifersüchtigen Natur äußerte, ließ den jungen Offizier, der den Gegenstand nicht erschöpfen konnte und dem darüber die Zeit verging, seine Laune weidlich tummeln und blieb dabei, Zürich habe in den letzten gefahrvollen Zeiten ebenso viel Klugheit als Festigkeit gezeigt, und wenn es sich mit dem Schilde vorsichtiger Neutralität gedeckt, sei das, wie der Schweiz, so Graubünden zu Statten gekommen.

Dann trat der in Venedig sich unsicher fühlende Bündner, welcher, ohne daß Wertmüller es ahnte, allem was im Bereiche seines geübten und weittragenden Auges sich begab, die schärfste Aufmerksamkeit zuwandte und auch in dieser abgelegenen Locanda keine Rast fand, hinaus an den schmalen Strand, ohne auf Wertmüllers spöttisches Gelächter zu achten.

»Neutralität!« rief dieser, dem Hauptmann in die Gondel nachspringend, aus. »Da hat mir der Witz des Zufalls ein Zettelchen in die Hand gespielt, das für unsere aufrichtige, streng abgewogene Neutralität und nebenbei für unsere schlichte Bürgertugend ein rührendes Zeugnis ablegt. – Die Gleisner und Pharisäer!... Wollt Ihr wissen, Hauptmann, was jeder unsrer Ratsherren und Zunftmeister wert ist? Ich hatte neulich im Namen meines Herzogs«, sagte er, seine Brieftasche hervorziehend, »dem französischen Gesandten in Solothurn ein Heft zu überschicken, worin ihm sein Verhalten in den verschiedenen Möglichkeiten des bevorstehenden Feldzuges im Veltlin von meinem Herrn vorgezeichnet wurde, und erhielt es mit Randbemerkungen und Einlagen der Gesandtschaft zurück. Seht hier, was ich in Form eines zufällig stecken gebliebenen Buchzeichens zwischen den Blättern fand!« – Er entfaltete einen schmalen Papierstreifen, auf dem eine Reihe von Namen zürcherischer Standespersonen verzeichnet stand mit beigesetzten höhern und niedrigern Zahlen, neben welchen das verräterische Livreszeichen unverkennbar zu lesen war. Das Ganze stellte freilich eine nur unbedeutende Summe dar.

Diesmal konnte sich Jenatsch eines herzlichen Lachens nicht enthalten. »Das gesteh' ich! Eine großartige Bestechung!« spottete er. »Wer konnte das ahnen! Aber gerade, daß sie dieses Taschengeld so verschämt und vorsichtig einstecken, das dürfen wir als einen ganz anständigen Rest von Tugend nicht unterschätzen. Unsre Salis und Planta nehmen ausländisches Gold mit edler Unbefangenheit am hellen Tage, auch sind es ganz andere Summen.«

Während Wertmüller noch die Papiere seiner überfüllten Brieftasche musterte, durchlief Jenatsch mit einiger Spannung die unrühmliche Liste, auf welcher er zu seiner Befriedigung den Namen Waser nicht fand. Jetzt zerriß er sie plötzlich in kleine Stücke. Erst als die weißen Fetzen schon fern auf der von der Abendbrise bewegten Flut schwebten, ward Wertmüller seinen Verlust gewahr und hielt mit Mühe einen Ausbruch seines Ärgers zurück.

Jenatsch erklärte ihm ruhig, er habe als Freund sein Bestes wahrgenommen, dies Papier würde ihm und andern nichts als Verdruß gebracht haben. Zürich sei seine Wiege und Sohnespflicht sei's, die kleinen Schwächen einer treuen Mutter zu verheimlichen.

»Was mich abhielt, Euch auf die Finger zu sehen, Hauptmann, war dieser Brief«, sagte der Locotenent. »Er ist noch uneröffnet, wie ich gewahre, und steckt schon seit drei Tagen in meiner Brieftasche. Ich habe wahrhaftig vergessen, ihn zu lesen. Er kommt von meinem Vetter, der in Mailand trotz seines Protestantismus als Handelsherr gute Geschäfte macht und beim Gubernatore Serbelloni in Gunsten steht. Gestattet mir, in Eurer Gegenwart von dem Inhalte des Schreibens Kenntnis zu nehmen.«

Jenatsch winkte bejahend und Wertmüller vertiefte sich eine geraume Weile in den Brief, erst um sich Haltung zu geben, denn das eigenmächtige Tun des Hauptmanns hatte ihn beleidigt, nach und nach mit immer größerem Interesse.

»Eine gloriose Geschichte! Beim Jupiter, eine alte Römerin!« rief er endlich aus. »Ich kann Euch das nicht vorenthalten, obgleich Ihr eben, Hauptmann, mein kameradschaftliches Verhalten hinterlistig mißbraucht habt! Um so weniger da Euch das Ereignis sozusagen persönlich angeht, denn die Hauptrolle hat eine Bündnerin! Mit den Worten dieser Krämerseele – ich meine den Briefsteller, meinen langweiligen Vetter, – mag ich es Euch freilich nicht mitteilen, es wäre schade darum! Erlaubt mir, Euch die seltene Historie frei vorzutragen. Also:

In Mailand lebt, wie Euch nicht unbekannt sein wird, Euer alter bissiger Herr Rudolf, der Planta von Zernetz, mit seinem gleichnamigen, die brave Bärentatze mit Unehren im Wappen führenden Sonne in den ärmlichsten Umständen. Jener intrigiert und speist mit dem Gubernatore und dieser treibt sich mit dessen Neffen in den eines weiten Rufs genießenden Spielhäusern und Spelunken der Stadt herum. Die zwei jungen Gesellen sind von der gleichen Gemütsart, und während der alte Planta vom Oheim mit politischen Hoffnungen kärglich genährt wird, erhält der junge vom Neffen, dem ein Gefährte seiner Tollheit erwünscht und ein waffenkundiger Gehilfe seiner nicht über jeden Zweifel erhabenen Tapferkeit unentbehrlich ist, reichliche Mittel zum ausgiebigen Genusse der Gegenwart. Dafür wollte sich der Knabe Rudolf dankbar erweisen, und da es ihm an Herz und Geist fehlt, um seinem freigebigem Freunde einen ehrenvollen und guten Dienst zu leisten, verfiel er auf einen schlechten und schimpflichen. Bei dem alten Planta, der einen verfallenen Palast im einsamsten Stadtquartiere bewohnt, hatte eine verwaiste Nichte, ich weiß nicht von welcher geächteten Seitenlinie des Hauses, Zuflucht gefunden. Dies Mädchen, eine seltene Schönheit, soll auf einen großen Besitz in Bünden gerechnet, aber unter den gegenwärtigen politischen Umständen unsichern Anspruch haben und wurde um dieser Aussicht willen von dem alten Rudolf seinem Sohne zur Frau bestimmt. Lucretia jedoch ist edlen Sinnes und verschmäht den nichtswürdigen und unnützen Gesellen. Nun mag Rudolf, um auf einen Wurf seinen Groll zu kühlen und seine Schuld abzutragen, mit dem jungen Serbelloni, dem die nur in der Kirche sichtbare bündnerische Schönheit als das höchste Gut erschien, einen niederträchtigen Handel abgeschlossen haben. Genug, in einer Nacht, da der alte Rudolf beim Gubernatore, der junge im Spielhaus sitzt und Lucretia mit einer bejahrten lombardischen Dienerin in dem öden Hause allein ist, hört sie verdächtiges Geräusch im Nebengemache. Diebe vermutend, ergreift sie das erste beste Messer und tritt in ihre vom Monde nur schwach erhellte Kammer. Da drückt sich eine dunkle Gestalt in den Schatten. Lucretia schreitet auf sie zu und ruft sie an. Der junge Serbelloni tritt ihr entgegen, stürzt ihr zu Füßen und umfängt ihre Kniee mit den glühendsten Liebesbeteurungen. Sie nennt ihn einen Nichtswürdigen und behandelt ihn mit so kalter Verachtung, daß sein Flehen sich jäh in Drohung verwandelt und er ihr sagt, sie sei in seiner Gewalt, die Türen seien bewacht. Doch Lucretia, von stattlicher Gestalt und hohem Gemüt, hält den Emporspringenden mit der Linken kraftvoll nieder und stößt ihm mit der Rechten von oben das Messer in die Brust. Er schwankt und schreit nach seinen Knechten. Jetzt stürzt die bestochene Kammervettel, die an der Tür gehorcht hatte, mit Jammergeschrei ins Gemach und schreckt mit ihrem mörderlichen Hilferufen die Nachbarschaft aus dem Schlafe. Die gewaltsame Entführung ist vereitelt, man hebt den blutenden Serbelloni auf und trägt ihn weg. Die Wahrheit wird vertuscht, der Vorfall durch einen unzeitigen Besuch bei dem jungen Planta notdürftig erklärt und als ein Mißverständnis achselzuckend beklagt. Die schöne Lucretia aber begibt sich schon am nächsten Morgen in den Palast des Gubernatore, bittet um seinen Schutz, wird, da der Neffe nicht auf den Tod verwundet ist, vom Oheim mit höchster Auszeichnung, ja mit Bewunderung aufgenommen und tut ihm den Entschluß kund, welches Schicksal ihrer dort warte, in ihre bündnerischen Berge zurückzukehren, denn es sei besser daheim zu darben als das schmachvolle Brot der Verbannung zu essen.« –

Nach einer längern Pause fuhr Wertmüller fort: »Der Schluß des Briefes ist merkwürdig. Man meint, sie habe sich nach Venedig gewandt, um von meinem Herzog einen Freibrief zur Heimreise zu begehren. – Seid Ihr nicht stolz auf diese bündnerische Judith? Diesmal hätte ich für meine Erzählung sicher auf Euern Beifall gerechnet und Ihr schweigt wie eine Statua, Herr Hauptmann?«

Mit neugierigen Augen schaute der Locotenent dem gegenüber sitzenden Jenatsch, der sich zum Schutze gegen den Abendwind fest in seinen Mantel gewickelt hatte, in das von dem spanischen Hute beschattete Gesicht; aber ein Scherzwort, das er ihm zuzuwerfen im Begriffe war, erstarb auf seiner Lippe und ihn fröstelte.

Das braune Antlitz des in der Gondel Zurückgelehnten, das er im Laufe dieses Tages immer belebt und bewegt gesehen hatte von den verschiedensten Äußerungen eines feurigen Temperamentes und geschmeidigen Geistes, es war wie erstorben und erkaltet zu metallener Härte. Unverwandt staunte es vor sich hin auf die dämmernd geröteten Wellen und erschien fremdartig verzogen und drohend in seiner Erstarrung.

Der Zürcher indessen ließ sich nicht gerne verblüffen, und da ihm nichts Schickliches und Kluges einfiel, kam er noch einmal mit bewundernden Ausführungen auf die bündnerische Judith zurück.

»Laßt doch die unwürdige, die überaus unpassende Vergleichung!« fuhr jetzt der andere heftig und scharf aus seinem Traume auf. – »Jede Bündnerin hätte an Lucretias Stelle wie sie getan.«

Dann schien er plötzlich die nahenden Lichter der Stadt zu bemerken und sprang, auf sie hinweisend, ohne jede Vermittlung in einen liebenswürdigen Ton über. »Da langen wir ja schon an«, sagte er leichthin. »Könnten wir nicht, bevor wir an der Treppe des Herzogs anlegen, hinaus an die Zattere fahren, wohin ich meine Dienerschaft mit den aus Dalmatien zurückgebrachten Habseligkeiten beordert habe? Ich möchte diese gleich im Palaste des Herzogs in Sicherheit bringen.«

»Das geht kaum an, Hauptmann. Der Umweg wäre bedeutend und die Nacht bricht ein. Ich hafte für Euch und der Herzog ist pünktlich bis zur Peinlichkeit!« erwiderte der Zürcher und er wunderte sich insgeheim und fragte sich, warum Jenatsch für sich und das Seinige wohl Schutz bedürfe.

Noch einmal suchte er auf dem tiefbeschatteten Gesichte vor ihm zu lesen, aber die Gondel bog eben in eine schmale, finstere Lagune ein und nur zwei glühende Augensterne blickten ihm, wie die eines Löwen, aus der Nacht entgegen.

Als die Gondel im Canal grande vor den Marmorstufen des herzoglichen Palastes neben einer andern, zur Abfahrt bereiten, anlegte, zeigten sich auf der Schwelle des schön gewölbten Tores zwei Männergestalten in Staatstracht, die sich in ausdrucksvoller Silhouette vom hellen Hintergrunde der glänzend erleuchteten Halle abhoben. Die eine zeigte den feinen Bau und die ruhige, geschmeidige Bewegung des vornehmen Venetianers, die andere, von behaglicher Fülle und deutschehrbarem Ansehen, weigerte sich mit etwas kleinstädtischer Höflichkeit den Vortritt zu nehmen.

»Voran, Herr Waser! Ihr seid mein verehrter Gast«, sagte der Schlanke, den jetzt Jenatsch und Wertmüller als den Provveditore der Republik mit höchster Ehrerbietung begrüßten. Grimani wandte sich dem Bündner mit gewinnender Freundlichkeit zu.

»Für diesmal keine Auseinandersetzung«, sagte er. »Ich darf Euch, da Ihr von dem edlen Herzog erwartet seid, hier nicht aufhalten. Von minder Wichtigem später. Wir sehen uns wieder.«

Herr Waser konnte es nicht unterlassen auch seinerseits, bevor er den Fuß in die Gondel setzte, dem Jugendfreunde die Hand zu reichen und ihm zuzuflüstern: »Der Herzog ist dir überaus günstig und auch Grimani, mein guter Wirt in Venedig, äußerte sich wohlwollend über deine Person und rühmte deine Leistungen.«

Die Gondel fuhr ab. Während sie die Halle durchschritten, sagte Jenatsch lächelnd zu Wertmüller: »Ich bin in den dalmatischen Bergen verwildert und soll jetzt ohne Vorbereitung die Sphäre der zarten Herzogin betreten. – Sie ist ohne Frage an Rang und Geist die vornehmste Dame, der mich meine Sterne zu Füßen legten. Erlaubt, Locotenent, daß ich in Eurer Kammer mein Wams bürste, und leiht mir Euern schönsten Spitzenkragen!«

Damit eilten die beiden Offiziere in raschen Sätzen die breitgestuften Treppen hinauf


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