Conrad Ferdinand Meyer
Jürg Jenatsch
Conrad Ferdinand Meyer

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Siebentes Kapitel

Herzog Heinrich hatte sich in Chur das stattliche Haus des Ritters Doctor Fortunatus Sprecher zum Quartier erwählt. Der gelehrte Bündner stellte es ihm mit freudigem Diensteifer zur Verfügung, denn es war von jeher sein Ehrgeiz und sein Glück gewesen, sich edeln historischen Persönlichkeiten zu nähern und mit ihnen in einem seinem Geschichtswerke gedeihlichen Verkehr zu bleiben.

Kaum hatte sich der herzogliche Haushalt so standesgemäß, wie es in dem republikanischen Berglande möglich war, in den besten Gemächern der raumreichen patrizischen Wohnung eingerichtet, als nach einer Reihe von düstern stürmischen Tagen der Schnee in schweren Flocken zu fallen begann. Der Winter brach früh herein und die weiße Decke blieb auf den steilen Dächern und ernsthaften Stufengiebeln der alten Bischofsstadt fast ohne Unterbruch liegen, bis am Ende des Hornungs die Föhnstürme das Land fegten und mit den ersten Märztagen die Sonne Kraft gewann.

Der Winter war dem guten Herzog in gezwungener Muße verflossen, denn er war von seinem Heere im Veltlin durch den unwegsamen Schnee der Berge getrennt und auch seine Verhandlungen mit dem französischen Hofe stockten und wollten zu keinem Ziele führen. Wäre die Sorge um den Abschluß des Vertrags neben andern Sorgen und Ungewißheiten und wäre die an dem tätigen Geiste des Feldherrn zehrende gezwungene Muße nicht gewesen, er hätte sich im Sprecherschen Hause nicht unwohl gefühlt und nicht ungern unter seinen schlichten protestantischen Glaubensgenossen verkehrt.

Der Doctor Sprecher achtete sich durch die Gegenwart Rohans hochgeehrt. Erfüllte sich ihm doch der langgehegte Wunsch, den Lebenslauf seines erlauchten Gastes an der Quelle schöpfend aufzeichnen zu dürfen. Mit der liebenswürdigsten Herzensgüte bequemte sich dieser dazu, seinem Wirte täglich ein Bruchstück seiner Schicksale in italienischer Sprache zu erzählen, und in dieser Sprache verfaßte der Doctor auch das Lebensbild, das ein Geschenk werden sollte, denn so hatte es der edle Gast ausdrücklich verlangt, für die Frau Herzogin, die sich noch immer in Venedig aufhielt, und für Rohans Tochter, die dem Herzog Bernhard von Weimar anverlobte Marguerite. Mit dieser erfreulichen, aber privaten Bestimmung seiner gewissenhaften und schönen Arbeit war der Doctor Sprecher nur halb einverstanden. Er hätte sie lieber zum Ruhme des Herzogs und nicht zur Unehre des Verfassers ohne falsche Bescheidenheit alsbald durch die Presse verewigen und in die Welt ausgehen lassen.

Auf andere Weise betätigte sich des Herzogs Adjutant, der junge Wertmüller. Ruhelos trieb er sich in allen hohen und niedern Regionen der kleinen Stadt um. In kürzester Frist war er in Chur eine bekannte Persönlichkeit vom bischöflichen Palaste an, wo er seiner scharfen Augen und boshaften Zunge wegen gescheut, am Spieltische dagegen jederzeit willkommen war, bis hinunter in die dunkelsten Winkelschenken, wo man ihn, wie dort, an den gedehnten Winterabenden gerne kommen und nicht selten noch lieber wieder gehen sah. Es gelang ihm hier, die phlegmatischen Bündner durch seine Sticheleien, politischen Vexierreden und mancherlei andere Brennesseln so lange zu reizen, bis ihnen Dinge entfuhren, die sie nachher schwer bereuten über die Lippen gelassen zu haben.

War das Publikum empfänglich und regte es ihn durch phantasievolle Beschränktheit an, so entfaltete er noch andere in den herzoglichen Gemächern nicht verwendbare, geheime Wissenschaften, die er seinen gründlich getriebenen mathematischen und physikalischen Studien verdankte. Es waren Kartenkünste und Zauberstücke, die dem Locotenenten in den untersten Schichten seines Wirkungskreises den ernstgemeinten Ruf eines Hexenmeisters eintrugen, eine Auszeichnung, die ihm behagte, die aber in Regionen, wo der Weg aus dem erschreckten Kopfe in die derbe Faust ein kurzer ist, mit mancher Leibesgefahr verbunden war.

Diese nächtlichen Anfälle und Handgemenge reizten übrigens die kaltblütige Tapferkeit des Locotenenten mehr, als daß sie ihn von seiner tollen Kurzweil abgebracht hätten. Auch wußte er sich immer glücklich daraus zu ziehen und so rasch, daß seine militärische Ehre nie Schaden litt und die Verwirrung der Geister und die Arbeit der Fäuste erst dann ihren Höhepunkt erreichte, wenn er schon in den stillen Räumen des Sprecherschen Hauses an den herzoglichen Gemächern vorüber auf den Zehen seiner Kammer zuschritt.

Den Herzog, welchem Wertmüller mit unbedingter Treue und rastlosem Diensteifer ergeben war und der ihm deshalb vieles nachsah, beunruhigte er ohne Unterlaß durch seine scharfsinnigen Entdeckungen und warnenden Berichte. Wahrlich, er schien es darauf anzulegen, den hohen Herrn zu keinem Behagen kommen zu lassen.

Auf Jenatsch, dessen aufopfernde Treue mit den schweren Verhältnissen wuchs, der den Herzog täglich besuchte und es sich zur Aufgabe machte, seine Sorgen zu verscheuchen, seine leisesten Wünsche zu erraten, seine Befürchtungen ihm abzulauschen und sie entweder durch die eigene fröhliche Zuversicht zu entwurzeln oder mit beredten, überzeugenden Worten zu widerlegen, – auf Jenatsch, den nützlichsten Ratgeber des Herzogs und den Liebling des Volkes, hatte es der verhärtete Locotenente besonders abgesehen. Wertmüllers Gedanken spürten dem Obersten auf allen Schritten und Tritten nach und er wollte aus der Haut fahren, wenn der Herzog seine Warnungen lächelnd fallen ließ, weil er sie maßloser Eifersucht auf seinen Günstling oder der Unverträglichkeit dieser zwei grundverschiedenen Temperamente zuschrieb.

Was behauptete Wertmüller nicht alles!

Das Scheitern des Vertrags von Chiavenna, welches Rohan von dem einzigen in das Geheimnis gezogenen Bündner verschwiegen wußte, war, wenn man den Locotenenten hörte, schon längst allgemein bekannt, ja wie absichtlich bis in die fernsten Hütten verbreitet, eine Kunde, die man sich nicht verhohlen ins Ohr sagte, nein, von der die Täler dies- und jenseits der rhätischen Alpen widerhallten.

Aber das war das Geringste – Schlimmeres drohte – Bünden unterhandelte mit Spanien, behauptete Wertmüller. Und nicht etwa einzelne Parteigänger und Unruhstifter zettelten, sondern das gesamte Volk war in Gärung und Verschwörung gegen Frankreich begriffen und Jenatsch, der heillose Heuchler, hielt das ganze Spiel des Betrugs in der Hand.

Der Herzog pflegte gemeiniglich leichthin zu erwidern, derartiges habe sich noch nie ereignet, es sei schlechterdings undenkbar, daß ein ganzes Volk sich wie eine geheime Gesellschaft verschwöre, unmöglich, daß nicht mindestens einer ihn warnte unter seinen vielen redlichen Anhängern im Lande. Im schlimmsten Falle würde ihn sein Gastfreund, der ruhige, wohlunterrichtete und keiner Partei pflichtige Doctor Sprecher, gegen dessen ehrenwerte Gesinnung selbst der Locotenent nichts werde einwenden können, vor solchen unerhörten verräterischen Anschlägen sicher stellen.

Der unbekehrbare Zürcher ließ das nicht gelten.

Was die Verschwörung eines ganzen Volkes betreffe, so wolle er gerne zugeben, sagte er, daß sie nirgends möglich wäre als unter den Bündnern, die mit dem nordischen Phlegma die südliche Verschlagenheit in glücklicher Mischung vereinigten. Der erste, beste dieses Volkes könne dem geriebensten Diplomaten zu raten geben. Die Staatskunst sei hier so allgemein verbreitet und landesüblich, daß das ganze Volk wie ein Mann rede oder schweige, wenn es sich um einen deutlichen Vorteil handle; die Schwierigkeit sei also nur, den langsamen Köpfen die Rechnung klar zu machen, und dafür werde der Volksredner Jenatsch ausgiebig gesorgt haben.

Was den gelehrten Herrn Doctor angehe, so wolle er ihm nicht zu nahe treten, aber für mutig halte er ihn nicht, wenigstens nicht einer gewissen geheimen Feme gegenüber, von der man munkle. Er könne hier seine Quelle nicht nennen; aber er müsse glauben, es sei im Lande ein Geheimbund errichtet mit Statuten, die sie den Kletten- oder Kettenbrief nennen – wahrscheinlich um das feste Ineinandergreifen und Zusammenhalten der Bundesglieder zu bezeichnen. Auf Verrat stehe der Tod. Er wolle nun nicht behaupten, daß der Doctor ein Glied dieser Kette sei, er sei nicht das Eisen dazu, aber daß er sich vor diesen Banditen sträflich fürchte, das sei mehr als wahrscheinlich.

Diese Verschwörung, deren Verräter dem Tode verfalle, behandelte der Herzog als eine vom Müßiggange erfundene und geglaubte Schauergeschichte. »Man hat Euch das aufgebunden, Wertmüller«, pflegte er zu scherzen, »um Euerm Argwohne gleich das stärkste Gewürz vorzusetzen! Und gesteht nur, Ihr verdient etwas für Eure böse Zunge.«

Am verdächtigsten war dem Locotenenten die Keckheit, mit der Jenatsch den Herzog über dessen eigene Stellung am französischen Hofe mit schmeichelnden Worten zu täuschen versuchte. Darüber mußte sich Heinrich Rohan doch selber im klaren sein. Was konnte den Bündner dazu bewegen, fragte sich Wertmüller, wenn nicht die teuflische Absicht, den guten Herzog von allen Seiten mit Netzen der Täuschung und dämonischen Irrsals zu umspannen, um den Sichergewordenen um so gewisser zu verderben? Und sein Haß gegen den Obersten steigerte sich ins Unglaubliche.

Priolo war unverrichteter Dinge von Paris zurückgekommen – Wertmüller nahm an, er sei in das Zögerungssystem des Kardinals eingeweiht und von diesem gewonnen, – und wurde mit neuen Briefen wieder weggesandt, welche die dringendsten Vorstellungen enthielten, doch ja die Unterzeichnung des für Frankreich verhältnismäßig günstigen Vertrags nicht länger zu verzögern, nicht die Bündner dadurch spanischen Anerbietungen zugänglich zu machen.

Kaum war Priolo abgereist, so berichtete der tapfere Herr von Lecques, den Rohan an der Spitze seines Heeres im Veltlin zurückgelassen hatte, von drohenden Zeichen des Ungehorsams unter seinen Bündnertruppen, die auf eine allgemeine Gärung im Volke hindeuteten. Er würde, schrieb er, diesen einzelnen Vorfällen weiter keine Bedeutung beilegen, wenn nicht die Spanier in ansehnlichen Massen sich der Grenze näherten, wenn nicht der Herzog von seinem Heere getrennt wäre und sich in der Mitte eines, wie er fürchte, mit der Politik Frankreichs täglich unzufriedener werdenden Landes befände. Er schloß seinen Bericht damit, daß er den Herzog bat und beschwor, sich um jeden Preis mit seinem getreuen Heere im Veltlin zu vereinigen. Sei dies geschehen, habe er, Lecques, seiner peinigenden Verantwortung sich entledigt und den Befehl in die ruhmreichsten Hände niedergelegt, so freue er sich, an der Seite seines Feldherrn, den Degen in der Faust, der ganzen Welt zu trotzen.

Wertmüller vernahm diesen rettenden Vorschlag mit Jubel – und fluchte wütend, als er nach dem nächsten Besuche des Obersten wahrnehmen mußte, daß es diesem gelungen war, den Herzog zu überzeugen, sein Aufenthalt in Chur sei völlig gefahrlos, für die französischen Interessen in Bünden vorteilhaft, bei der Verehrung, die seine Person im Lande genieße, zur Beruhigung der Gemüter sogar unumgänglich notwendig.

Ein Augenblick des Zweifels kam auch für den edlen Herzog. Es war Wertmüller gelungen eine Spur aufzufinden, deren Verfolgung ihn in den Stand setzen konnte, auch das blindeste Vertrauen zu erschüttern. Er hatte in der Schenke zum staubigen Hüttlein die Bekanntschaft eines welschen Quacksalbers gemacht und zufällig erfahren, dieser gedenke jetzt in das Land des Lorbeers und der Myrte zurückzukehren. Das abenteuerliche Männchen, das sich in dem kalten Klima den Magen mit dem gefährlichen weißen Completer wärmte, rühmte sich in prahlerischer Weinlaune seiner hohen diplomatischen Beziehungen und Fähigkeiten; in Wertmüller, der ihn bewundernd anhörte und ihm fleißig einschenkte, blitzte eine Erinnerung auf. Jüngst, als er spät in der Nacht den bischöflichen Palast verließ, hatte er dies unverkennbare Figürchen bei schwachem Mondscheine in einer Ecke des Hofes neben einer Holofernesgestalt und im eifrigsten Gespräche mit dieser erblickt – nur einen Moment, denn die beiden waren beim Klirren seines Schrittes unter einem Torwege verschwunden, aber genügend lang für sein scharfes Auge, um die auffallende Gestalt des Wunderdoctors deutlich gewahr zu werden und in der andern, von einem dunkeln Mantel umhüllten, den Obersten Jenatsch zu vermuten. Das genügte, um den unternehmenden und durch die Winterruhe gelangweilten Locotenenten zu einem lustigen Handstreiche anzufeuern. Er belauerte die Abreise des Italieners, nahm auf ein paar Tage Urlaub, ritt dem fahrenden Wunderdoctor nach und holte ihn auf seinem feurigen Fuchs gegen Abend des ersten Reisetages ein. Wie ein Wegelagerer überfiel er ihn an einer einsamen Stelle der Gebirgsstraße. Der erschrockene Quacksalber mußte zuerst seinen Apothekerkasten ausräumen und sich dann einer Durchsuchung seiner Person unterwerfen. Wie triumphierte Wertmüller, als er, dem Doctor freundschaftlich auf den Rücken klopfend, ein knisterndes Papier verspürte, das zwischen Tuch und Unterfutter eingenäht war, und dann mit der Pflasterschere des Unglücklichen aus dessen scharlachrotem Rocke unversehrt ein eigenhändiges Schreiben seines Feindes an einen Kapuzinerpater herausschnitt, worin Jenatsch diesem Aufträge an den Gubernatore Serbelloni in Mailand gab. Der Wortlaut freilich war dunkel, aber die Tatsache selbst sprach um so klarer. Nachdem der Locotenent den schlotternden Zahnausreißer beruhigt und aus seiner Reiseflasche gestärkt hatte, jagte er in freudigem Galopp nach Chur zurück. Jetzt war der Verräter Jenatsch in seinen Händen.

Er erreichte die Stadt in vorgerückter Nachtstunde und wurde kaum noch vorgelassen. Der Ungeduldige mußte sich damit begnügen, seinem Herrn den verräterischen Brief mit einer gedrängten Auseinandersetzung des Zusammenhangs zu überreichen. Als Wertmüller dann am nächsten Morgen nach einem glücklichen Schlafe sich dem Herzog vorstellte, fand er diesen in sehr getrübter Stimmung und nicht geneigt, auf eine Besprechung des ihm, wie er sagte, unerklärlichen und sehr schmerzlichen Vorfalles einzugehen. Er müsse auch von anderer Seite sich darüber Aufklärung verschaffen.

Kurz vor der Stunde, zu welcher Jenatsch täglich dem Herzog aufzuwarten pflegte, wurde der Locotenent mit einem Tagesbefehl nach der Rheinschanze beordert und, so scharf er auch ritt, er kam zu spät, um dem Obersten vor Herzog Heinrich Stirn gegen Stirn entgegenzutreten.

Bei seiner Rückkehr traf er diesen in der heitersten Laune und wie von einer schweren Last befreit.

»Besten Dank für Euern löblichen Diensteifer, braver Wertmüller!« empfing er den Adjutanten. »Diesmal hat er Euch freilich trotz Eures mit Argusaugen blickenden Scharfsinns in eine grobe Falle gelockt. – Ungern tue ich Eurer Eitelkeit weh. – Jenatsch war hier und ich habe ihn mit aller Offenheit zur Rede gestellt. Er hat sich vollkommen gerechtfertigt. Der Brief ist falsch und die Handschrift auf merkwürdig geschickte Weise nachgeahmt. Der Oberst hat Feinde, in deren Interesse es liegt, ihm mein Vertrauen zu rauben. Sie ahnen nicht, daß sie es mit ihren Kabalen im Gegenteil immer mehr befestigen. Er hat deren namentlich am bischöflichen Hofe unter Euren geistlichen Genossen am Spieltische, Wertmüller. Sie kennen Euch und zählten auf Euern Argwohn und Eure Unternehmungslust. Da Ihr aus Euerm Widerwillen gegen den Oberst und, Euch zur Ehre sei's gesagt, aus Eurer Anhänglichkeit an meine Person kein Geheimnis macht, so war die Intrige der geistlichen Herrn bald eingefädelt. Der elende Dottore war ihr bestochenes Werkzeug. – Gesteht, er hat seine Rolle gut gespielt! Wo wird sich ein Italiener den Anlaß zu einer Komödie jemals entgehen lassen! – Was endlich jene nächtliche Unterredung zwischen Jenatsch und dem Quacksalber unfern der bischöflichen Residenz betrifft, die Euch zu denken gab, so hat es damit seine Richtigkeit – sie drehte sich um das Ausschneiden von Leichdornen. Erinnert Euch, daß Ihr über den Obersten gespottet habt, als er vor ein paar Tagen mit einem Pantoffel am linken Fuße einherschritt.«

Wertmüllers herbes Gesicht verfinsterte sich unter dieser Rede dermaßen, daß der Herzog ihm die Hand auf die Schulter legte und ihn freundlich mit den Worten verabschiedete: »Sprechen wir nicht mehr davon, mein Lieber, die Sache ist nicht von Wichtigkeit.«

Fruchtlos brütend, wie er dem Obersten trotz alledem noch beikommen könne, verließ Wertmüller das herzogliche Gemach. In seinem Zustande verbissener Wut bemerkte er nicht, daß ein blondes Engelsköpfchen sich die Treppen heran ihm entgegen bewegte. Es war die goldlockige Tochter des Hauses, Fräulein Amantia Sprecher, die sich mit einem Strauße erster Märzglöckchen zu dem Herzog begab. Nicht nur übersah sie der Ungestüme, er raste in so weiten Sprüngen die Steinstufen hinunter, daß er sie fast niederrannte. Bestürzt hielt sie sich an dem reich verschlungenen Eisengeländer und sah ihm mit ihren unschuldigen blauen Augen sinnend und vorwurfsvoll nach.

War das derselbe Wertmüller, der ihrer Lieblichkeit sonst in auffallender Weise huldigte, der den ganzen Winter einer ihrer bevorzugten Tänzer gewesen war? Auch auf morgen hatte er sie ja wieder zum Balle, dem letzten und glänzendsten des Faschings, eingeladen. Welche Tarantel hatte ihn heute gestochen?

Wohl war er ihr auch sonst zu Zeiten rücksichtslos erschienen, wenn er sich spöttisch und wegwerfend über bündnerische Zustände und Sitten äußerte. Wer oder was blieb überhaupt von seiner scharfen Zunge verschont! Mit ihr hatte er doch bis jetzt immer eine Ausnahme gemacht und sie war dafür nicht unempfindlich geblieben.

Ihre sanfte kindliche Schönheit und das Gleichgewicht ihrer durchaus friedfertigen Sinnesart wirkte anziehend und beruhigend auf den quecksilbernen Offizier. Die Sprecherin ihrerseits hatte sich in allen Züchten zuweilen mit dem Gedanken beschäftigt, wie sich dieser zürcherische Unband wohl als Eheherr ausnehmen würde, und hatte seine Tapferkeit, den unbestreitbaren Wert seiner Treue an dem edlen frommen Herzog und seine hochgehenden Lebensaussichten mit weisem Herzen in die Waage gelegt gegen seine Schroffheiten, sein absprechendes Wesen und seine Spöttereien über Geistlichkeit und Gottesdienst, die vielleicht doch im Grunde weniger schlimm gemeint waren, als sie übel klangen. Doch war sie – nach dieser rauhen Begegnung mußte sie sich's gestehen – noch keineswegs zu einem günstigen Ergebnis gekommen. – So entschlug sie sich dieser Gedanken, ohne daß es sie große Mühe kostete, und wandelte, den silberhellen Blumenstrauß in ihrer Hand ordnend, langsam die letzten Stufen hinauf.

Fräulein Amantia hegte für den edlen Gast ihres Vaters eine unbegrenzte Verehrung, welche die liebenswürdige Leutseligkeit des Herzogs von jeder Zutat beklommener Scheu befreit hatte. Sie pflegte alltäglich zu einer Stunde, wo er sich nicht ungern stören ließ, in seinem Empfangszimmer zu erscheinen und nach seinen Wünschen zu forschen. Er ermangelte dann nie, hatte er nicht dringende Geschäfte, das gute Kind zurückzuhalten und sich nach den Interessen ihres Tages zu erkundigen.

Heute kam sie eben aus der Wochenpredigt, weniger erbaut als in Zweifel versenkt, denn der Pfarrer Saluz hatte über einen außer der Reihenfolge liegenden Text mit großer Heftigkeit gepredigt, und über welchen schauerlichen Text – den Verrat des Judas Ischariot, Matthäus am sechsundzwanzigsten! Er hatte dadurch seine Zuhörer in große Aufregung versetzt, die sich ängstlich nach dem Zielpunkte dieser Anspielung umsahen und sich, sagte Fräulein Amantia, fast wie seiner Zeit die Jünger fragten: »Herr, wer ist es, der dich verrät?«


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