Conrad Ferdinand Meyer
Jürg Jenatsch
Conrad Ferdinand Meyer

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Fünftes Kapitel

Der Herzog ist allein, er wünscht Euch wohl vertraulich zu sprechen«, sagte Wertmüller zu Jenatsch, als er ihn einige Augenblicke später in die herzoglichen Gemächer einführte. Er ließ ihn zuerst in ein mäßig beleuchtetes, mit dunkelm Holzwerke bekleidetes Vorzimmer treten, das durch eine von Säulen geteilte dreifache Bogenpforte den vollen Blick in den einige Stufen höher gelegenen Prachtsaal gewährte.

Dieses reich vergoldete längliche Gemach mit seiner Reihe von fünf Fensterbogen mochte die auf den Canal schauende Fassade des prunkenden Bauwerks bilden. Der Herzog kehrte der dämmerigen Fensterwand den Rücken zu. Er saß, in einem Buche lesend, vor dem hohen, mit verschlungenen Figuren und Fruchtschnüren von Marmor umrahmten und überladenen Kamine, in welchem ein lebhaftes Feuer flammte.

Schon setzte Wertmüller den Fuß auf die mit türkischen Teppichen belegten Stufen, um den Hauptmann anzumelden, als der Herzog sein Buch schloß und, sich von seinem Sitze erhebend, es auf den Kaminsims legte, ohne jedoch den Eintretenden, die er noch nicht bemerkt hatte, sich zuzuwenden.

Im gleichen Augenblicke hielt Jenatsch den jungen Offizier, der ihn vorstellen wollte, mit einem raschen Griffe seiner eisernen Hand zurück. »Halt«, flüsterte er, auf die Türe eines zweiten, ihnen gerade gegenüberliegenden Nebenraumes hinweisend, – »ich komme zur Unzeit.«

Durch diese Tür trat mit lebhafter Bewegung und verweintem Angesichte die Herzogin und führte an der Hand eine große ruhige Frauengestalt ihrem Gemahle entgegen, in welcher Wertmüller auf den ersten Blick die Beterin vor dem Hochaltare der Frari wiedererkannte.

Unwillkürlich dem Gefühle des ihn Zurückziehenden gehorchend, wich er mit Jenatsch hinter die Draperie des Einganges zurück und blieb dort stehen als ein verborgener, aber aufmerksamer Zeuge auch des Geringsten, was im Saale vorging.

»Hier bring' ich Euch eine vom Schicksal Verfolgte, mein Gemahl«, begann die erregte Herzogin. »Sie ist Eurer christlichen Hilfeleistung und Eures ritterlichen Schutzes bedürftig und, wahrlich, es ist Eurer hohen Tugend würdig, ihr Schirmvogt zu werden. – Sie hat mir ihr volles Vertrauen geschenkt und ihr schmerzenreiches Los ohne Rückhalt entschleiert. Dabei war mir vergönnt – ich kann es auch in ihrer Gegenwart nicht verschweigen – einen erhebenden Blick in die Tragödie eines mit dem ehernen Schicksale kämpfenden, antiken Charakters zu tun. Dieses edle Wesen trägt nicht ohne Bedeutung den Namen Lucretia. Sie stammt aus einem der besten Geschlechter jenes wilden Berglandes, das Euch als seinem Retter entgegenharrt. Noch war sie ein harmloses Kind, als ihr Vater, der einzige Gegenstand ihrer Liebe, von grausamen Feinden nächtlich gewürgt und sie schutzlos und geächtet dem Elende und der Bosheit dieser gottlosen Welt preisgegeben wurde... Aber ihr Herz blieb rein und ihre tapfere Hand zerschnitt mit dem Dolche die Schlingen des Lasters. Seid ihr hilfreich, teurer Herr! Alle dieser geliebten Lucretia erzeigte Gnade seh' ich an, als hättet Ihr sie mir erwiesen; denn ihr Unglück erfüllt meine ganze Seele!«

Hier brach die gerührte Fürbitterin von neuem in Tränen aus und warf sich, das Antlitz mit den Händen bedeckend, in einen Lehnstuhl.

Während dieser Rede der vornehmen Hugenottin, in welcher sich der Schwung des damals Mode werdenden Corneille fühlbar machte, hatte der Herzog seine Blicke voller Güte auf die schweigend und bescheiden vor ihm stehende Bündnerin gerichtet, als suchte er in ihren ruhigen Zügen und in ihren warmen dunklen Augen das Anliegen zu lesen, welches sie zu ihm führte; denn dieses war ihm bis jetzt trotz der eifrigen Verwendung seiner Gemahlin vollkommen unverständlich und verborgen geblieben.

»Ich bin des Pompejus Planta Tochter, Lucretia«, beantwortete jetzt die Fremde seine stumme Frage. »Als mein Vater in Bünden geächtet ward, brachte er mich, die Fünfzehnjährige, zu den Klosterfrauen nach Monza und dort traf mich die Kunde seiner Ermordung. Erlaßt mir, Euch zu sagen, wie sie mein Leben zerstörte und wie völlig ich seither verwaist bin. Heim in mein Bünden konnte ich nicht kehren und kann es auch jetzt nicht ohne Eure Hilfe. Es ist geschlagen von Krieg und schwerer innerer Zwietracht, denn der Fluch ungerochener Mordtat ruht auf ihm und das Blut meines Vaters schreit gen Himmel. – Wohl lebt mir noch ein Ohm in Mailand, der geachtete Rudolf Planta, der bis heute mit mir das Brot der Verbannung teilte; denn in das Stift zu Monza trat ich nicht, weil ich zu arm war und meine Berge nicht auf ewig missen wollte. Warum ich jetzt den Ohm verlasse, gestattet mir zu verschweigen. – Ich bin ein vom Stamme gerissener, auf dem Strome treibender Zweig und kann nicht Wurzel schlagen, bis ich den Boden der Heimat erreiche und getränkt werde mit dem Blute gerechter Sühne.

Gebt mir einen Freibrief nach Bünden, edler Herr! Ich habe vernommen, daß Euer Einfluß schon jetzt dort mächtig ist und sich bald auf Eure siegreichen Waffen stützen wird. Ich habe gegen mein Vaterland nie gefrevelt und bin den Anschlägen meines Ohms und der spanischen Partei in Gedanken und Taten völlig fremd geblieben. Ich will mein Erbhaus zurückfordern und das Recht meines Vaters suchen, denn allein dazu bin ich noch da.«

Der Herzog hatte der schönen Fremden mit Aufmerksamkeit zugehört, jetzt ergriff er väterlich ihre Hand und sagte mit überlegener Milde: »Ich begreife den Schmerz Eurer Verlassenheit, mein Fräulein, auch bin ich damit einverstanden, daß Ihr Euren heimatlichen Boden wieder gewinnt und dort dem Andenken Eures Vaters lebt. Gern werd' ich durch einen Freibrief Euch dazu behilflich sein. – Anders verhält es sich mit dem, was Ihr Sühne nennt. Bedarf es einer solchen, so, glaubt es, wird sie nicht ausbleiben. Unser ganzes Leben, ja das Leben der Menschheit seit ihrem Anfange ist eine Verkettung von Schuld und Sühne. Schwer aber ist es dem menschlichen Kurzblicke die richtige Vergeltung zu wählen, und sicherer in jedem Falle, Frevel durch Opfer der Liebe zu tilgen als Gewalttat durch Gewalttat zu rächen und so Fluch auf Fluch zu häufen. – Besonders die unsichere Frauenhand berühre niemals in den Leidenschaften des Bürgerkriegs die zweischneidige Waffe persönlicher Rache. Mehr als einmal in unsern heimischen Kämpfen war auch ich von Mörderhand bedroht, aber, hätte sie mich getroffen, mit dem letzten Atemzuge hätte ich Frau und Kind angefleht, sich mit keinem Rachegedanken, geschweige mit einer Rachetat zu beflecken. Denn: Ich will vergelten, spricht der Herr.«

Lucretia sah den Herzog mit ernsten, zweifelnden Blicken an. Die christliche Milde des Feldherrn befremdete sie und sein Tadel traf sie unerwartet. Aber bevor sie noch ihre Gedanken zur Antwort gesammelt hatte, veränderte sich plötzlich ihr Angesicht, als erblicke sie etwas Unmögliches. Ihre ganze Seele trat in die erschrockenen Augen, die, wie gebannt, auf der mittleren Säulenpforte haften blieben.

Dort erschien, festen Trittes die Stufen herankommend, die hochaufgerichtete Gestalt eines Mannes. Stolz und gefaßt, wie ein verurteilter König sein Blutgerüst besteigt, schritt Jürg Jenatsch der Erstarrenden mit entblößtem Haupte entgegen.

Nach einer stummen Begrüßung des herzoglichen Paares trat er vor die Tochter des Herrn Pompejus hin, heftete seinen Blick auf die lange nicht Gesehene und sprach in abgebrochenen Sätzen: »Dein Recht soll dir werden, Lucretia. Der Mann, der den Planta erschlug, ist dir von Rechtswegen verfallen. Er stellt sich dir und erwartet hier deinen Spruch. Nimm sein Leben. Es ist dein – zwiefach dein. Schon der Knabe hätte es für dich geopfert. Seit ich die Hand an deinen Vater legen mußte, ist mir das Dasein verhaßt, wo ich es nicht für das von Tausenden meines Volkes einsetzen kann. Danach dürstet meine Seele und dazu bietet mir dieser edle Herr vielleicht morgen schon Gelegenheit. Das bedenke, Lucretia Planta! Bei dir steht die Entscheidung, wer von euch beiden das größere Recht auf mein Blut habe, ob Bünden oder du.« –

Der Eindruck dieser Erklärung auf das Fräulein war ein gewaltsamer und beirrender. Der Mörder, in dessen Verfolgung sie die Pflicht ihres Lebens sah, legte aus freiem Entschlusse das seinige in ihre Hand und er tat es mit einer Hochherzigkeit, die eine ebenbürtige Seele reizen mußte, sich ihr mit einer großen Tat der Verzeihung gleichzustellen. Diesen Wetteifer edler Gefühle schien wenigstens die Herzogin zu erwarten, die aus der Rede des Bündners und der Gewalt ihres Eindrucks auf Lucretia leicht erraten hatte, daß eine gemeinsam verlebte Jugend und warme Neigung die beiden verkette. Sie glaubte, nach der eigenen Gemütsstimmung urteilend, Lucretia werde ihre Arme, die sie einen Augenblick in inniger Bewegung gegen den Jugendgenossen erhoben hatte, rasch um seinen Hals werfen und den gerechten, langjährigen Haß gegen den Mörder ihres Vaters dem Zauber einer alten Liebe und der Unwiderstehlichkeit dieses wundersamen Mannes zum Opfer bringen.

Aber es geschah nicht also. Die erhobenen Arme sanken und die Herzogin sah Lucretias schöne Gestalt erbeben, vom tiefsten Jammer erschüttert. Sie stöhnte laut auf, dann machte sich ihr ein Jugendleben lang stolz getragenes Elend Luft und, sich und ihre fremde Umgebung gänzlich vergessend, brach die qualvoll Bedrängte in einen Strom leidenschaftlicher Klage aus.

»Jürg, Jürg«, rief sie, »warum hast du mir das getan? Gespiele meiner Kindheit, Schutz meiner Jugend! Oft im finstern italienischen Kloster oder in der unheimlichen Behausung meines Ohms, wenn mein Herz nach der Heimat schrie und ich sie doch nicht betreten durfte, ohne die Rache meines Vaters besorgt zu haben, dann im bangen Halbtraume sah ich dich, den treuen Gesellen, zum gewaltigen Kriegsmanne erwachsen und ich rief dich an: Jürg, räche meinen Vater! Ich habe niemand als dich! Du tatest mir ja sonst alles zu liebe, was du mir nur an den Augen absehen konntest. Jetzt hilf mir, Jürg, meine heiligste Pflicht zu erfüllen!... Und ich ergriff deine starke Hand... Aber weh' mir, sie trieft von Blut! Du Entsetzlicher, du bist der Mörder! Mir aus den Augen! Denn meine Augen sind mit dir im Bunde – und sündigen – und sind mitschuldig am Blute des Vaters. Hinweg! Kein Friede, kein Vertrag mit dir.«

So klagte Lucretia und rang die Hände in innerm Zwiespalte und trostloser Verzweiflung.

Die Herzogin legte beschwichtigend ihren feinen Arm um den Nacken der Haltungslosen und die weinende Lucretia ließ sich willig von ihr in das Nebenzimmer zurückführen. Dann erschien die edle Dame noch einmal auf der Schwelle und flüsterte dem ihr entgegentretenden Gemahle zu. »Ich werde sie mit Eurer Bewilligung, sobald sie sich erholt hat, persönlich in meiner Gondel nach ihrer Wohnung bringen. Sie ist bei a Marca, Eurem Wechsler, abgestiegen, dessen Frau ihre entfernte Verwandte ist. Die treue Echagues mag uns begleiten.«

Der Herzog bezeugte der Hilfreichen eine freundliche Beistimmung und die gefühlvolle Dame verschwand mit einem letzten, halb vorwurfsvollen, halb bewundernden Blicke auf den Bündner.

 

»Ihr tragt ein schweres Schicksal, Georg Jenatsch«, sagte, als sie jetzt allein waren, der Herzog zu dem Hauptmanne, dessen Blässe ihm auffiel und der einen harten Ausdruck auf dem Antlitze trug, als bekämpfe und verberge er gewaltsam den stechenden Schmerz einer alten Wunde. »Euch aber ist die Sühne für das mörderisch von Euch vergossene Blut gezeigt. Was Ihr in wildem Jugendfeuer verbrochen, dafür sollt Ihr mit der Arbeit geläuterter Manneskraft zahlen. In rasender Selbsthilfe, mit willkürlichen Taten des Hasses wolltet Ihr Euer Vaterland befreien und habt es dem Verderben zugeführt; heute sollt Ihr es retten helfen durch selbstverleugnende Taten des Gehorsams und kriegerischer Zucht, durch die Unterordnung unter einen leitenden planvollen Willen. – Wo die Tollkühnheit nützt, da will ich Euch hinstellen; ich weiß nun, warum Ihr die Gefahr sucht und liebt. – Von jetzt betrachtet Euch als in meinen Diensten stehend, denn ich habe mich heute überzeugt, daß mein Einfluß genügen wird, Euch hier frei zu machen. Ich glaube nicht, daß der Provveditore Grimani Euch mir streitig machen wird. Sein Interesse an Euch schien mir lau. Er äußerte sich gleichgültig über die Möglichkeit Eurer Beurlaubung. Wann wird Eure venetianische Kapitulation abgelaufen sein?«

– »Vor Monatsfrist, erlauchter Herr.«

– »Dann ist es gut. Überlaßt mir die Vermittelung. Am einfachsten nehmt ihr schon heute bei mir Wohnung und sendet sogleich nach Dienerschaft und Gepäck.«

 

Hier näherte sich Wertmüller, der bis dahin im Vorgemache unsichtbar geblieben war, mit einer ingrimmigen, tragikomischen Miene, denn die von ihm scharf beobachtete Szene hatte einen gemischten Eindruck auf ihn gemacht, und meldete, der Hauptmann habe Gepäck und Leute an der Landungsmauer der Zattere zurückgelassen. Sofern ihm dieser Vollmacht gebe, werde er sie abholen.

Jenatsch war in einen Fensterbogen getreten und überstreifte mit scharfem Blicke den mondbeschienenen Canal, bis in die von den Uferpalästen geworfenen tiefen Schatten hineinspähend. Abwärts, abwärts bot die Wasserstraße das gewohnte friedliche Nachtbild. Nun wandte er sich rasch und beurlaubte sich beim Herzog, um selbst nach seiner Habe und seiner Bedienung zu sehen, welcher er, wie er sagte, strengen Befehl hinterlassen habe, keiner anderen Weisung Folge zu leisten als seiner eigenen mündlichen.

Der Herzog trat auf den schmalen Balkon und blickte, noch unter dem Eindrucke der seltsamen Vorgänge des Abends, in die ruhige Mondnacht hinaus. Er sah, wie Jenatsch eine Gondel bestieg, wie sie abstieß und mit schnellen leisen Ruderschlägen der Wendung des Canals zuglitt. – Jetzt hielt sie wie unschlüssig still, – jetzt strebte sie eilig der nächsten Landungstreppe zu. Was war das? Aus einer Seitenlagune und gegenüber aus dem Schatten der Paläste schossen plötzlich vier schmale, offene Fahrzeuge hervor und darin blitzte es wie Waffen. Schon war die Gondel von allen Seiten umringt. Der Herzog beugte sich gespannt lauschend über die Brüstung. Er glaubte einen Augenblick im unsichern Mondlichte eine große Gestalt mit gezogenem Degen auf dem Vorderteile des umzingelten Nachens zu erblicken, sie schien ans Ufer springen zu wollen, – da verwirrte sich die Gruppe zum undeutlichen Handgemenge. Leises Waffengeräusch erreichte das Ohr des Herzogs und jetzt, laut und scharf durch die nächtliche Stille schmetternd, ein Ruf! Deutlich erscholl es und dringend:

»Herzog Rohan, befreie deinen Knecht!«


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