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Dreizehntes Kapitel.

Kenelm klopfte an die Thür des Häuschens und eine schwache Stimme rief: »Herein!«

Er bückte sich und trat über die Schwelle. Seit seiner Begegnung mit Tom Bowles konnte er diesem unglücklichen Liebhaber seine Sympathie nicht versagen, denn es ist nur natürlich, daß wir einen Menschen, den wir besiegt haben, lieben; und er war keineswegs für Jessie's Liebe zu einem Krüppel zum voraus günstig gestimmt.

Als aber zwei sanfte, klare, dunkle Augen und ein bleiches intelligentes Gesicht, mit jenem unaussprechlich feinen Ausdruck, welchen eine zarte Gesundheit namentlich jungen Leuten so oft verleiht, seinem ruhigen Blick begegneten, war sein Herz alsbald für den Nebenbuhler Tom's gewonnen.

269 Will Somers saß am Kamin, in welchem trotz der Wärme des Sommerabends noch einige Kohlen glimmten; neben ihm stand ein ungehobelter kleiner Tisch, auf welchem Weidenzweige und geschälte weiße Späne neben einem offenen Buche lagen. Seine bleichen, schlanken Hände arbeiteten an einem halbvollendeten kleinen Korbe. Seine Mutter war eben damit beschäftigt, das Theegeschirr von einem andern, am Fenster stehenden kleinen Tische wegzuräumen. Will stand nach der auf dem Lande herrschenden guten Sitte bei dem Eintritt des Fremden auf; die Mutter, eine magere, kleine Frau mit einem milden, ergebenen Gesicht, sah sich erstaunt um und machte einen Knix.

Das Häuschen war sehr sauber gehalten, wie es in den meisten Bauerhäuschen der Fall ist, wo die Frau nach ihrem Belieben schalten kann. Auf der der Thür gegenüber stehenden Anrichte aus Tannenholz war das bescheidene irdene Geschirr aufgestellt. An den geweißten Wänden prangten colorirte Blätter, hauptsächlich Darstellungen biblischer Gegenstände aus dem neuen Testament, so zum Beispiel der verlorene Sohn in blauem Rock und gelben Hosen, mit auf die Hacken herabhängenden Socken. In einer Ecke des Zimmers stand ein Haufen Körbe von verschiedener Größe und in einer 270 andern ein Bücherschränkchen, ein Zimmerzierrath, den man in Bauerhäusern viel seltener findet als bunte Bilder und glänzendes Geschirr. Natürlich konnte Kenelm das nicht Alles im Einzelnen mit einem Blick umfassen. Aber wie der an Verallgemeinerung gewöhnte Geist eines Menschen wunderbar rasch zu einem richtigen Schluß gelangt, während ein nur an Einzelnheiten zu haften gewöhnter Geist wunderbar langsam zu irgend welchem Schluß überhaupt gelangt und, wenn er dazu gelangt, meistens falsch urtheilt, so urtheilte Kenelm vollkommen richtig, als er zu folgendem Schluß gelangte:

Ich befinde mich hier unter einfachen englischen Bauern; aber aus irgendeinem durch die relative Höhe der Löhne nicht hinreichend zu erklärenden Grunde habe ich es hier mit besonders guten Exemplaren dieser Klasse zu thun.

»Verzeihen Sie, daß ich zu dieser Stunde bei Ihnen eindringe, Frau Somers«, sagte Kenelm, der seit seiner frühsten Jugend zu vertraulich mit Bauern verkehrt hatte, um nicht zu wissen, wie rasch sie, wenn sie an ihrem häuslichen Herde sitzen, in dem Benehmen eines Fremden die ihnen erwiesene Achtung herausfühlen und wie empfindlich sie gegen den Mangel dieser Achtung sind, »aber ich bleibe nur kurze Zeit 271 hier im Dorfe und möchte nicht gern fortgehen, ohne die Körbe Ihres Sohnes, von denen ich viel gehört habe, gesehen zu haben.«

»Sie sind sehr gütig, mein Herr«, sagte Will mit einem wohlgefälligen Lächeln, das sein Gesicht wunderbar verklärte. »Ich habe nur wenige einfache Sachen hier; feinere Arbeit mache ich meistens nur auf Bestellung.«

»Sehen Sie«, sagte Frau Somers, »hübsche Arbeitskörbe und dergleichen Sachen nehmen viel mehr Zeit weg, und wenn er so etwas nicht auf Bestellung macht, so ist es sehr die Frage, ob er es verkauft. Aber bitte, setzen Sie sich doch, Herr« – mit diesen Worten rückte Frau Somers einen Stuhl für ihren Gast heran – »ich will rasch hinauslaufen und den Arbeitskorb holen, den mein Sohn für Fräulein Travers gemacht hat. Er soll morgen abgegeben werden und ich habe ihn weggestellt, damit nichts damit passirt.«

Kenelm setzte sich, rückte seinen Stuhl nahe an den Will's heran und nahm den halbvollendeten Korb, den der junge Mensch bei seinem Eintritt auf den Tisch gestellt hatte, in die Hand.

»Dies scheint mir sehr hübsch und fein gearbeitet«, sagte Kenelm, »und die Form verspricht so elegant zu 272 werden, daß der Korb, wenn er fertig ist, jeder Dame gefallen muß.«

»Dieser ist für Frau Lethbridge«, sagte Will; »sie wollte etwas zum Aufbewahren von Karten und Briefen haben und ich habe die Form nach einem Buche mit Zeichnungen gewählt, das Herr Lethbridge so gut war, mir zu leihen. Kennen Sie Herrn Lethbridge, mein Herr? Er ist ein sehr guter Mann.«

»Nein, ich kenne ihn nicht, wer ist er?«

»Unser Pfarrer, Herr. Hier ist das Buch.«

Zu Kenelm's Ueberraschung war es ein Werk über Pompeji und enthielt Holzschnitte nach den Geräthschaften und Ornamenten, Mosaiken und Fresken, die man in jener merkwürdigen kleinen Stadt gefunden hat.

»Aha! da ist ja Ihr Modell«, sagte Kenelm, »eine sogenannte Patera und zwar eine wunderschöne. Sie copiren sie viel treuer, als ich es in einem Korbgeflecht nach dem Original in Bronze für möglich gehalten haben würde; aber Sie sehen wohl, daß die Schönheit dieser kleinen Schale wesentlich auf den beiden auf dem Rande sitzenden Tauben beruht; dieses Ornament können Sie in Ihrem Material unmöglich herstellen.«

»Frau Lethbridge meinte, man könne vielleicht zwei ausgestopfte Kanarienvögel auf den Rand des Korbes setzen.«

273 »Meinte sie das? Du lieber Gott!« rief Kenelm aus.

»Aber das wollte mir nicht recht gefallen«, fuhr Will fort, »und ich habe mir die Freiheit genommen, es Frau Lethbridge zu sagen.«

»Warum gefiel es Ihnen nicht?«

»Nun, ich weiß nicht recht, aber es kam mir vor, als wäre das nicht das Richtige.«

»Es wäre von dem schlechtesten Geschmack gewesen und würde den Effect Ihrer Flechtarbeit ganz verdorben haben. Ich will versuchen, Ihnen zu erklären, warum. Sie sehen hier auf der nächsten Seite eine Zeichnung nach einer sehr schönen Statue. Natürlich soll diese Statue eine Darstellung der Natur sein, aber der idealisirten Natur. Sie wissen nicht, was dieses schwere Wort ›idealisirt‹ bedeuten soll, und sehr wenige Leute wissen das. Es bedeutet die künstlerische Ausführung von etwas in Gemäßheit der Idee, welche sich der Geist eines Menschen von etwas in der Natur bildet. Dieses Etwas in der Natur muß selbstverständlich sorgfältig studirt sein, bevor der Mensch an die künstlerische Ausführung seiner Idee gehen kann. Der Künstler zum Beispiel, welcher jene Statue gemacht hat, muß die Verhältnisse des menschlichen Körpers gekannt haben. Er muß Studien nach 274 verschiedenen Theilen desselben, nach Köpfen und Händen, Armen und Beinen und so weiter gemacht haben, und nachdem er das gethan hat, stellt er alle seine verschiedenen Studien nach einzelnen Theilen zusammen, sodaß sie ein neues Ganzes bilden, welches bestimmt ist, einer in seinem eigenen Geiste gebildeten Idee Gestalt zu verleihen. Können Sie mir folgen?«

»Zum Theil, Herr; aber ganz klar ist mir die Sache noch nicht.«

»Das ist ganz natürlich; aber Sie werden sich schon zurecht finden, wenn Sie noch einmal überdenken, was ich sage. Wenn ich nun, um diese Statue, die aus Metall oder Stein besteht, natürlicher zu machen, ihr eine Perrücke von wirklichem Haar aufsetzte, würden Sie da nicht auf der Stelle fühlen, daß ich das Werk verdorben hätte, daß das, wie Sie es klar ausdrücken, nicht das Richtige sein würde, und daß ich, statt das Kunstwerk natürlicher zu machen, es lächerlich unnatürlich gemacht hätte, indem ich dem Geiste des Beschauers unverständigerweise den Contrast zwischen dem realen, durch eine Perrücke von Haar dargestellten Leben und dem durch eine in Stein oder Metall verkörperte Idee dargestellten Kunstwerke aufgedrängt haben würde. Je höher das Kunstwerk, das heißt, je höher die Idee, welche es als eine neue Combination der der Natur 275 entnommenen Einzelnheiten darstellt, steht, desto mehr wird es herabgesetzt oder verdorben durch den Versuch, ihm eine Art von Realität zu verleihen, welche nicht zu den zu seiner Herstellung verwendeten Materialien stimmt. Und diese Regel ist anwendbar auf jedes noch so bescheidene künstlerische Thun. Ein paar ausgestopfte Kanarienvögel auf dem Rande einer Imitation, Korbgeflecht einer griechischen Trinkschale, würden grade so geschmacklos sein wie eine Perrücke aus dem Friseurladen auf dem Kopf einer Marmorstatue des Apollo.«

»Ich verstehe«, sagte Will, den Kopf wie brütend gesenkt, »ich glaube wenigstens zu verstehen, und ich bin Ihnen sehr dankbar, mein Herr.«

Frau Somers war mit dem Arbeitskorb schon lange wieder heruntergekommen, blieb aber mit demselben in der Hand stehen und wagte es nicht den Herrn zu unterbrechen, sondern hörte seinem Vortrage mit so viel Geduld und so wenig Verständniß zu, als wäre es eine der Controverspredigten über Ritualismus, mit welchen Herr Lethbridge bei großen Gelegenheiten seine Gemeinde beehrte.

Als Kenelm jetzt seine kritische Vorlesung beendigt hatte, aus welcher gewisse Poeten und Novellisten, die es fertig bringen, das Ideal durch den Versuch zu carikiren, Perrücken von wirklichem Haar auf die Köpfe 276 von Marmorstatuen zu setzen, ein paar nützliche Winke entlehnen könnten, wenn sie sich so weit herablassen wollten, was freilich nicht wahrscheinlich ist, und nun gewahr wurde, daß Frau Somers neben ihm stand, nahm er ihr den Korb ab, der verschiedene Fächer für die von Damen bei ihren Handarbeiten gebrauchten Geräthschaften enthielt und wirklich sehr hübsch und elegant war, und ertheilte demselben ein wohlverdientes Lob.

»Die junge Dame will ihn selbst noch mit Seide füttern und eine Bandrüsche darum nähen«, sagte Frau Somers stolz.

»Die Bandrüsche wird doch nichts verderben, Herr?« sagte Will in fragendem Ton.

»Durchaus nicht. Ihr natürliches Gefühl für das Angemessene sagt Ihnen, daß Bänder ganz gut zu Stroh und einem leichten Strohgeflecht wie dieses passen, wogegen Sie an jenen groben Packkörben, die da in der Ecke stehen, keine Bänder anbringen würden. Aehnliches zu Aehnlichem! Für jene Körbe paßt ein dicker Strick, grade wie ein Dichter, der seine Kunst versteht, in Gedichten, welche zierlich sein und für einen eleganten Salon passen sollen, zierliche Ausdrücke verwendet und sich dagegen sorgfältig scheut, solche Worte an die Stelle eines derben Ausdrucks in solchen Gedichten zu 277 verwenden, welche bestimmt sind, stark und trotz rauher Behandlung unterwegs in weite Ferne zu wirken. Aber Sie müßten wirklich mit dieser Phantasiearbeit viel mehr Geld verdienen, als Sie es als Tagelöhner können.«

Will seufzte. »Nicht in dieser Gegend, Herr. Vielleicht in einer Stadt.«

»Warum ziehen Sie dann nicht nach einer Stadt?«

Der junge Mensch erröthete und schüttelte den Kopf.

Kenelm wandte sich, wie um an sie zu appelliren, nach Frau Somers um.

»Ich werde gern überall hingehen, wo es am besten für meinen Jungen ist, Herr. Aber –« Hier hielt sie inne und eine Thräne tropfte ihr über die Wange.

»Ich fange jetzt an, etwas bekannt zu werden«, begann Will in einem heiterern Ton wieder, »und die Arbeit wird schon kommen, wenn man nur ein bischen Geduld hat.«

Kenelm hielt es weder für höflich noch für discret, sich bei dieser ersten Begegnung noch weiter in Will's Vertrauen einzudrängen, und er fing an, mehr, als er es anfänglich gethan hatte, nicht nur den dumpfen Schmerz der bei seinem Zweikampf erhaltenen Quetschungen, sondern auch eine Müdigkeit zu fühlen, welche 278 sich durch ein in freier Luft vollbrachtes Tagewerk nicht hinreichend erklärte. Er verabschiedete sich daher etwas plötzlich mit der Erklärung, daß er sehr gern in den Besitz einiger Proben von Will's Erfindungsgabe und Geschicklichkeit gelangen und wieder vorkommen oder schreiben werde, um nähere Weisungen zu geben.

Grade als er auf seinem Rückwege in die Nähe von Tom Bowles' Hause kam, sah Kenelm, wie ein Mann ein an der Pforte angebundenes Pony bestieg und einige Worte mit einer respectabel aussehenden Frau wechselte, bevor er davonritt. Er wollte eben an Kenelm vorüberreiten, ohne von ihm Notiz zu nehmen, als dieser philosophische Landstreicher ihn mit den Worten anhielt: »Wenn ich mich nicht irre, mein Herr, sind Sie der Doctor. Es steht doch nicht schlimm mit Herrn Bowles?«

Der Doctor schüttelte den Kopf. »Das kann ich noch nicht sagen. Er hat einen häßlichen Schlag an einer Stelle.«

»Es war grade unter dem linken Ohr. Ich hatte nicht genau dahin gezielt; aber unglücklicherweise machte Bowles in dem Augenblick eine kleine Seitenbewegung mit dem Kopf, vielleicht in der Ueberraschung über einen unmittelbar vorhergehenden Schlag zwischen den 279 Augen, und so bekam er, wie Sie sagen, einen häßlichen Schlag. Aber wenn dieser Schlag ihn von der Gewohnheit kurirt, andern Leuten, die es weniger vertragen können, häßliche Schläge zu versetzen, so wird vielleicht Alles zu seinem Besten ausschlagen, wie gewiß auch Ihr Schullehrer gesagt hat, als er Sie durchprügelte.«

»Gerechter Gott! Sind Sie der Mann, der mit ihm gekämpft hat – Sie? Das kann ich mir nicht denken.«

»Warum nicht?«

»Warum nicht! Soweit ich es bei dieser Beleuchtung beurtheilen kann, muß Tom Bowles, wenn Sie auch ein hochgewachsener Bursche sind, ein viel schwereres Gewicht haben als Sie.«

»Tom Spring war der Vorkämpfer Englands und nach den Berichten über sein Gewicht, welche die Geschichte uns in ihren Archiven aufbewahrt hat, wog Tom Spring leichter als ich.«

»Aber sind Sie ein Preisfechter?«

»Ich bin das grade so gut wie irgend etwas Anderes. Aber um wieder auf Herrn Bowles zurückzukommen, haben Sie ihm zur Ader lassen müssen?«

»Ja; er war ganz oder doch nahezu bewußtlos, als ich kam. Ich habe ihm ein paar Unzen Blut 280 abgelassen, und er ist jetzt Gott Lob wieder bei Bewußtsein, muß aber sehr ruhig gehalten werden.«

»Gewiß; aber ich hoffe, er wird morgen wohl genug sein, um mich sehen zu können.«

»Das hoffe ich auch, wenn ich es auch noch nicht bestimmt sagen kann. Ein Streit über ein Mädchen – wie?«

»Ueber Geld war es nicht. Und ich glaube, wenn es kein Geld und keine Weiber in der Welt gäbe, würde es auch keinen Streit und sehr wenige Doctoren geben. Gute Nacht. Herr!«

»Es ist etwas bei mir sehr Auffallendes«, sagte Kenelm, als er jetzt die Gartenpforte zu Herrn Saunderson's Heimwesen öffnete, »daß ich, obgleich ich den ganzen Tag nichts zu essen bekommen habe als ein paar jämmerliche Butterbröde, nicht den mindesten Hunger verspüre. Ein solcher Stillstand in der Erfüllung ihrer gesetzlichen Pflichten von seiten der Verdauungsorgane ist bei mir noch nie vorgekommen. Das ist unheimlich und muß etwas Besonderes zu bedeuten haben.«

Als Kenelm ins Wohnzimmer trat, saß die Familie, obgleich sie mit dem Abendessen längst fertig war, noch um den Tisch. Bei Kenelm's Eintritt standen sie alle auf. Der Ruf seiner Thaten war ihm 281 vorangegangen. Er unterbrach die Glückwünsche, Complimente und Fragen, mit welchen der gutmüthige Pachter ihn bestürmte, durch einen melancholischen Ausruf: »Aber ich habe meinen Appetit verloren! Keine Ehren können mich dafür entschädigen. Lassen Sie mich ruhig zu Bett gehen, vielleicht daß die Natur mich in dem Zauberreich des Schlafes durch den Traum eines Abendessens wiederherstellt.« 282


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