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Zweites Kapitel.

Ein Familienrath versammelte sich in Exmundham, um über den Namen zu berathen, auf welchen dieses merkwürdige Kind in die christliche Gemeinschaft aufgenommen werden sollte. Die jüngeren Zweige dieses alten Hauses bestanden zunächst aus dem verhaßten, einem schottischen Zweige angehörenden präsumtiven Erben mit Namen Chillingly-Gordon. Er war der verwittwete Vater eines einzigen, jetzt dreijährigen Sohnes, der glücklicherweise nichts von der Beeinträchtigung ahnte, welche seinen Aussichten durch die Ankunft des Neugeborenen widerfuhren, was man von seinem caledonischen Vater nicht behaupten konnte. Herr Chillingly-Gordon gehörte zu jenen Leuten, die in der Welt gut fortkommen, ohne daß wir begreifen, weshalb. Seine Eltern starben, als er noch ein Kind 9 war, und hinterließen ihm nichts; aber die Verwendung seiner Familie verschaffte ihm Aufnahme in die Charter-House-Schule, in welcher berühmten Anstalt er sich nicht merklich hervorthat. Nichtsdestoweniger nahm der Staat ihn, sobald er die Schule verlassen hatte, unter seine besondere Obhut und gab ihm die Stelle eines Kanzlisten auf einem öffentlichen Bureau. Und so ging es ihm ferner gut in der Welt und jetzt war er ein Zollcommissär mit einem jährlichen Gehalte von fünfzehnhundert Pfund Sterling. Sobald er sich auf diese Weise in den Stand gesetzt sah, eine Frau zu ernähren, suchte er sich eine aus, die ihm auch bei seiner eigenen Ernährung behülflich war. Sie war die Wittwe eines irischen Pairs mit einem Wittwengehalt von jährlich zweitausend Pfund Sterling.

Wenige Monate nach seiner Verheirathung versicherte Chillingly-Gordon das Leben seiner Frau, sodaß er sich für den Fall ihres Todes eine Jahreseinnahme von tausend Pfund Sterling sicherte. Da sie einige Jahre jünger als er und anscheinend von guter Gesundheit war, so erschien der Abzug an seiner Einnahme, den er sich durch die Jahreszahlung für die Versicherung auferlegte, als ein auffallend großes Opfer gegenwärtigen Genusses für künftige Möglichkeitsfälle. Die Folge bewährte seinen Ruf eines scharfblickenden 10 Mannes; denn seine Frau starb im zweiten Jahre ihrer Ehe, wenige Monate nach der Geburt ihres einzigen Kindes an einem Herzleiden, welches den Aerzten verborgen geblieben war, welches aber Gordon in seiner Zärtlichkeit offenbar entdeckt hatte, ehe er ein Leben versicherte, das ihm zu kostbar war, als daß er sich nicht eine Entschädigung für seinen Verlust hätte sichern sollen. Er war also jetzt im Besitz von jährlich zweitausendfünfhundert Pfund Sterling und es ging ihm daher pecuniär sehr gut. Er hatte sich überdies einen Ruf erworben, der ihm eine sociale Stellung gab, die weit höher war als die ihm von dem prüfenden Staate zuerkannte. Er galt für einen Mann von solidem Urtheil und seinen Ansichten über alle privaten und öffentlichen Angelegenheiten wurde Werth beigelegt. Wenn man diese Ansichten kritisch beleuchtete, waren sie nicht viel werth, aber er hatte eine imponirende Art, sie auszusprechen. Fax sagte einmal, noch nie sei jemand so weise gewesen, wie Lord Thurlaw aussehe; Lord Thurlaw aber konnte nicht weiser ausgesehen haben, als es Herr Chillingly-Gordon that. Er hatte eine viereckige Kinnlade und große rothe buschige Augenbrauen, die er mit großem Effect herabzog, wenn er ein Urtheil abgab. Er hatte noch eine andere Eigenschaft, die sein Ansehen bei den Leuten erhöhte, er war 11 ein sehr unangenehmer Mensch; er konnte grob werden, wenn man ihm widersprach, und da die meisten Menschen sich nicht gern grob behandeln lassen, widersprach man ihm selten.

Herr Chillingly-Mivers, ein anderes Mitglied eines Nebenzweiges der Familie, war ebenfalls ein wenn auch in anderer Weise ausgezeichneter Mann. Er war ein jetzt etwa fünfunddreißigjähriger Junggeselle, der sich durch seine außerordentliche, mit den feinsten Manieren zur Geltung gebrachte Verachtung aller Menschen und aller Dinge auszeichnete. Er war der Gründer und Haupteigenthümer eines »Der Londoner« genannten Journals, welches kürzlich dieses Princip der Verachtung verkündet hatte, und wie wir kaum zu bemerken brauchen, außerordentlich beliebt bei allen jenen maßgebenden Persönlichkeiten war, die niemand bewundern und an nichts glauben. Herr Chillingly-Mivers galt sich selbst in seinen eigenen und aller übrigen Menschen Augen für einen Mann, der die höchsten Erfolge in jedem Zweige der Literatur hätte erringen können, wenn er geruht hätte, sein Talent einem dieser Zweige zuzuwenden. Aber er geruhte nicht und hatte daher das vollste Recht, den Leuten zu verstehen zu geben, daß, wenn er ein Epos, ein Drama, einen Roman, ein Geschichtswerk oder eine 12 metaphysische Abhandlung geschrieben hätte, man nicht mehr von Milton, Shakespeare, Cervantes, Hume und Berkley reden würde. Er hielt sehr auf die Würde der Anonymität und was er selbst in seinem eigenen Blatte schrieb, konnte niemand mit Bestimmtheit angeben. Aber wie dem auch sei, jedenfalls war Herr Chillingly-Mivers, was Herr Chillingly-Gordon nicht war, ein sehr gescheidter und keineswegs gesellschaftlich unangenehmer Mann.

Der Ehrwürdige John Stalworth Chillingly war ein entschiedener Anhänger des sogenannten muskulösen Christenthums Muscular Christianity: halb scherzhafte Bezeichnung einer eigenthümlichen kirchlichen Richtung, welche eine Art Vergötterung mit der Entwickelung der Muskelkraft treibt und daher neben großer Frömmigkeit auf die Uebung alles derartigen Sport großen Werth legt. — Anm. d. Uebers. und überdies ein sehr schönes Exemplar desselben, ein großer stattlicher Mann mit breiten Schultern und stark entwickelten Waden. Einen Deisten, der es gewagt hätte, ihm unter die Augen zu treten, würde er sofort zu Boden geschlagen haben. Der Sieur de Joinville erzählt in seinem Leben Ludwig's des Heiligen, daß eine Versammlung von Geistlichen und Theologen die Juden einer orientalischen Stadt 13 zusammenberief, um mit ihnen über die Wahrheiten des Christenthums zu disputiren, und daß ein Ritter, der im Kriege zum Krüppel geschlagen war und auf Krücken ging, sich die Erlaubniß erbat und erhielt, bei der Debatte zugegen zu sein. Die Juden strömten in Schaaren herbei und alsbald richtete ein Prälat an einen gelehrten Rabbi in mildem Ton die Hauptfrage, ob er an die Göttlichkeit des Herrn glaube. Kaum hatte der Rabbi die Frage mit einem entschiedenen Nein beantwortet, als der fromme Ritter, über eine solche Blasphemie empört, seine Krücke in die Hand nahm, den Rabbi damit zu Boden warf, sich dann unter die übrigen Ungläubigen stürzte und sie, nachdem er sie übel zugerichtet hatte, bald in schmähliche Flucht jagte. Das Benehmen des Ritters wurde dem heiligen König mit der Bitte berichtet, demselben einen gebührenden Verweis zu ertheilen; aber der heilige König gab folgendes weise Urtheil ab: »Wenn ein frommer Ritter zugleich ein sehr gelehrter Geistlicher ist und den Lehren des Ungläubigen mit guten Argumenten entgegentreten kann, so soll er sich gewiß dieser Argumente bedienen; wenn aber ein frommer Ritter kein gelehrter Geistlicher ist und ihm keine Argumente zu Gebote stehen, dann mag der fromme Ritter der Discussion mit der Klinge seines guten Schwertes ein kurzes Ende machen.«

14 Der Ehrw. John Stalworth Chillingly war derselben Ansicht wie der heilige Ludwig, im Uebrigen aber war er ein milder und liebenswürdiger Mann. Er ermunterte die Mitglieder seiner ländlichen Gemeinde zum Cricketspiel und anderen männlichen Uebungen; er war ein geschickter und kühner Reiter, ging aber nicht auf die Jagd, er war ein Freund der Geselligkeit, und sprach der Flasche wacker zu. Aber in literarischen Dingen hatte er einen feinen und friedlichen Geschmack, ganz anders wie man es bei seiner muskulösen christlichen Richtung hätte erwarten sollen. Er war ein großer Freund von Poesie, mochte aber weder Scott noch Byron, die er für oberflächliche Schreier hielt; er behauptete, Pope sei nur ein Versmacher und der größte englische Dichter sei Wordsworth; er machte sich nicht viel aus den alten Classikern und bestritt den französischen Dichtern jedes Verdienst. Von italienischer Poesie verstand er nichts; aber er pfuschte ein wenig im Deutschen und langweilte seine Freunde gern mit Goethe's »Hermann und Dorothea«. Er hatte eine einfache kleine Frau geheirathet, die ihn schweigend verehrte und überzeugt war, daß es kein Schisma in der Kirche geben würde wenn er Erzbischof von Canterbury und damit an seinem rechten Platze wäre, eine Ansicht, in welcher er mit seiner Frau völlig übereinstimmte.

15 Neben diesen drei männlichen Exemplaren der Familie Chillingly war das schöne Geschlecht in Abwesenheit von Lady Chillingly, welche noch das Zimmer hüten mußte, durch drei weibliche Chillinglys, unverheirathete Schwestern von Sir Peter, vertreten. Einer der Gründe, aus denen sie ledig geblieben, war vielleicht, daß sie einander so ähnlich waren, daß ein Freier in Verlegenheit gewesen sein würde, welche von den dreien er wählen solle, und hätte fürchten müssen, daß, wenn er eine wähle, es ihm den nächsten Tag begegnen könne, aus Versehen eine andere zu küssen. Alle drei waren groß, hager, mit langem Hals und einer hübschen Ansammlung von Knochen unterhalb des Halses, alle drei hatten hellblondes Haar, blaßrothe Augenlider, helle Augen und eine bleiche Gesichtsfarbe; alle drei kleideten sich immer ganz gleich und ihre Lieblingsfarbe war ein grelles Grün, in welche Farbe sie auch heute gekleidet waren. Dieser äußern Aehnlichkeit entsprechend würde ein gewöhnlicher Beobachter auch ihre Charaktere und ihre Art zu denken ganz gleich gefunden haben. Alle drei hatten strenge Begriffe von weiblicher Schicklichkeit, benahmen sich tadellos, sehr reservirt und vorsichtig gegen Fremde, sehr zärtlich gegen einander und gegen ihre Verwandten und Lieblinge und sehr gut gegen die Armen, die sie 16 als eine besondere Art von Geschöpfen betrachteten und mit jenem Wohlwollen behandelten, welches die Menschen den stummen Thieren angedeihen zu lassen pflegen. Ihr Geist schöpfte seine Nahrung aus denselben Büchern; was die eine las, lasen auch die anderen. Ihre Lectüre bestand hauptsächlich aus zweierlei Arten von Büchern, nämlich Romanen und solchen Büchern, die sie speciell als gute bezeichneten. Sie hatten die Gewohnheit, mit diesen beiden Arten von Büchern abzuwechseln, heute einen Roman, morgen ein »gutes Buch«, übermorgen wieder einen Roman zu lesen und so fort. So wurde die Phantasie, wenn sie am Montag zu sehr aufgeregt worden war, am Dienstag wieder zu einer mäßigen Temperatur abgekühlt und, wenn sie in Folge dessen am Dienstag zu erfrieren drohte, am Mittwoch wieder durch ein lauwarmes Bad belebt. Ihre Lieblingsromane waren freilich selten geeignet, den geistigen Thermometer bis auf den Siedegrad steigen zu lassen. Die Helden und Heldinnen dieser Romane benahmen sich musterhaft. Damals waren die Romane von James en vogue und die drei Schwestern kamen darin überein, daß das Romane seien, welche ein Vater seinen Töchtern getrost in die Hand geben könne.

Aber wenn auch, wie gesagt, ein oberflächlicher 17 Beobachter keinen Unterschied zwischen diesen drei Damen gefunden und mit Bezug auf ihre gewöhnlich grüne Kleidung erklärt haben würde, sie seien einander so ähnlich wie eine Erbse der anderen, so hatte doch jede von ihnen, wie sich bei genauerer Beobachtung ergab, ihre eigene Idiosynkrasie. Fräulein Margarethe, die Aelteste, hatte das Commando; sie führte die gemeinschaftliche Haushaltung, die gemeinschaftliche Kasse und entschied jeden etwa entstehenden Zweifel, ob sie Frau Soundso zum Thee einladen sollten oder nicht, ob Mary entlassen werden solle oder nicht, ob sie den Monat October in Broadstairs oder in Sandgate zubringen sollten. Fräulein Margarethe war in Wahrheit der personificirte Wille der vereinigten Körperschaft. Fräulein Sibylle hatte einen sanfteren Charakter und ein melancholischeres Temperament; sie hatte eine poetische Ader und machte gelegentlich Gedichte, von denen einige, auf Velinpapier gedruckt, Verkaufsgegenstände auf Bazars zu wohlthätigen Zwecken gebildet hatten. Die Grafschaftszeitungen urtheilten, daß diese Gedichte »das volle Gepräge der Eleganz eines gebildeten weiblichen Geistes an sich trügen«. Die beiden anderen Schwestern stimmten darin überein, daß Sibylle das Genie in ihrem Haushalte, daß sie aber wie alle Genies nicht praktisch genug für das Leben sei.

18 Fräulein Sara Chillingly, welche die jüngste von den dreien und eben in ihr vierundvierzigstes Jahr getreten war, wurde von den anderen als »ein liebes Kind, das zwar ein bischen unartig, aber doch ein so herziges Ding sei, daß niemand das Herz haben könne, sie zu schelten«, betrachtet. Fräulein Margarethe sagte, sie sei ein albernes Ding, und Fräulein Sibylle schrieb ein Gedicht auf sie, das die Ueberschrift trug:

»Warnung an ein junges Mädchen gegen die Freuden der Welt.«

Sie nannten sie alle Sally; die andern beiden Schwestern hatten keine Diminutivnamen.

Diese drei Schwestern, welche alle viel älter waren als Sir Peter, bewohnten in der Hauptstraße der Hauptstadt ihrer heimatlichen Grafschaft ein hübsches altmodisches, aus rothen Backsteinen erbautes Haus mit großem Garten. Sie hatten eine jede ein Heirathsgut von zehntausend Pfund Sterling, und der präsumtive Erbe würde, wenn er sie alle drei zugleich hätte bekommen können, sie geheirathet und sich die dreißigtausend Pfund Sterling auf ihren Todesfall durch den Ehecontract gesichert haben. Aber wir sind noch nicht dahin gelangt, das Mormonenthum als gesetzlich anzuerkennen. Indessen, wenn unser socialer 19 Fortschritt sich auf der jetzt betretenen Bahn fortbewegt, wer weiß, welche Triumphe über die Vorurtheile unserer Vorfahren unsere Nachkommen noch feiern werden. 20


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