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Neuntes Kapitel.

Es war ein hübsches, schmuckes Pachterhaus, wie es gut zu zwei- bis dreihundert Ackern Landes von leidlichem Boden paßte, die leidlich von einem thätigen altmodischen Pachter bewirthschaftet wurden, der zwar weder Mähmaschinen noch Dampfpflüge zur Anwendung brachte, noch auch in chemischen Experimenten pfuschte, aber doch ein angemessenes Kapital in sein Land steckte und dieses Kapital sehr gut verzinste.

Das Abendessen war aufgetragen in einem geräumigen, wiewohl niedrigen Wohnzimmer, mit einer Glasthür, die jetzt ebenso offen stand, wie alle die Gitterfenster, welche auf einen kleinen Garten hinaussahen, der in einem üppigen Flor jener alten englischen Blumen prangte, die heutzutage aus anspruchsvolleren, aber nicht entfernt so schön duftenden Gärten verbannt 218 sind. In einem Winkel desselben stand eine Geißblattlaube und ihr gegenüber eine Reihe von Bienenkörben. In dem Zimmer selbst wehte eine behagliche Atmosphäre und herrschte jene Art von Eleganz, welche auf das Walten des Genius weiblichen Geschmacks deutet. An der Wand hing an blauen Bändern ein Büchergestell mit zierlich gebundenen kleinen Büchern; auf allen Fenstersimsen standen Blumentöpfe; es fehlte auch nicht an einem kleinen Klavier; an den Wänden prangten theils Kupferstiche mit Portraits von Grafschaftsmagnaten und preisgekrönten Ochsen, theils Mustertücher, auf denen moralische Verse und die Namen und Geburtstage der Großmutter, der Mutter, der Frau und der Töchter des Pachters in Wolle gestickt waren. Ueber dem Kaminsims hing ein kleiner Spiegel und über demselben ein Fuchsschwanz als Trophäe, während in einer Ecke des Zimmers ein mit Gefäßen von altem englischen und indischem Porzellan reich gefüllter Glasschrank stand.

Die Familie bestand aus dem Pachter, seiner Frau, drei munteren Töchtern und einem blassen, schlanken Burschen von etwa zwanzig Jahren, dem einzigen Sohne, der keine Lust hatte, Landmann zu werden; er war in einer höheren lateinischen Schule erzogen und hatte hohe Begriffe von der Entwickelung des 219 menschlichen Geistes und den Fortschritten unseres Zeitalters.

Kenelm war, obgleich einer der ernstesten Sterblichen, doch einer der wenigst schüchternen; in der That ist Schüchternheit in der Regel das Symptom einer sehr regen Eigenliebe; von dieser besaß aber der jugendliche Chillingly kaum mehr als die drei Fische seines altererbten Wappens. Er fühlte sich bei seinen Wirthen vollkommen zu Hause, hatte jedoch wohl Acht, seine Aufmerksamkeiten so gleichmäßig unter die drei Töchter zu vertheilen, daß kein Verdacht besonderer Bevorzugung einer derselben gegen ihn aufkommen konnte. Eine Mehrzahl, dachte er, besonders eine ungleiche, gewährt ihren Schutz. Weder die drei Grazien noch die neun Musen haben sich je verheirathet.

»Sie lieben gewiß die Musik, meine jungen Damen«, sagte Kenelm, indem er nach dem Klavier sah.

»Ja, ich liebe sie sehr«, erwiderte die Aelteste, indem sie für die Schwestern mit antwortete.

»Die Zeiten haben sich geändert«, sagte der Pachter, der eben dem Fremden gekochtes Ochsenfleisch und Rüben auf seinen Teller häufte. »In meiner Jugend ließen nur große Pachter ihre Töchter Klavier lernen und schickten ihre Söhne in eine gute Schule. Jetzt sind wir kleinen Leute dafür, unseren Kindern 220 ein paar Stufen höher auf der Leiter hinauf zu helfen.«

»Die Bildung des Volkes schreitet fort«, sagte der Sohn mit dem Nachdruck eines Weisen, der den Schatz der Philosophie um einen originellen Gedanken bereichert.

»Unzweifelhaft besteht jetzt ein größeres Gleichmaß der Bildung als unter der vorigen Generation«, sagte Kenelm; »Leute aus allen Ständen sprechen dieselben Gemeinplätze in sehr ähnlichen Satzformen aus. Und in dem Maße, wie sich die Demokratie des Geistes erweitert, breiten sich auch, wie mir ein ärztlicher Freund versichert, Leiden, welche früher auf die Aristokratie – was das Wort eigentlich heißt, weiß ich nicht – beschränkt waren, unter den unteren Volksklassen aus, tic douloureux und andere Nervenleiden kommen jetzt massenhaft vor und das menschliche Geschlecht wird, wenigstens in England, schwächer und zarter. Es gibt eine Fabel von einem Mann, der in seinem höchsten Alter ein Grashüpfer wurde. England wird sehr alt und nähert sich augenscheinlich dem Grashüpferstadium seiner Entwickelung. Vielleicht essen wir nicht so viel Ochsenfleisch wie unsere Voreltern. – Darf ich Sie um noch ein Stück bitten?«

Kenelm's Bemerkungen gingen etwas über den Horizont seiner Zuhörer. Aber der Sohn, der sie als eine 221 Beschimpfung des erleuchteten Zeitgeistes auffaßte, erröthete und sagte mit zusammengezogenen Brauen: »Ich hoffe, Sie sind kein Feind des Fortschritts, mein Herr.«

»Das kommt darauf an. So zum Beispiel ziehe ich es vor, hier zu bleiben, wo ich mich wohl befinde, als weiter zu marschiren und schlechter aufgehoben zu sein.«

»Wohl gesprochen!« rief der Pachter.

Der Sohn, der es nicht der Mühe werth hielt, von dieser Unterbrechung Notiz zu nehmen, nahm Kenelm's Bemerkung höhnisch auf. »Sie verstehen wohl unter schlechter aufgehoben sein mit der Zeit fortschreiten?«

»Ich fürchte, es bleibt uns nichts Anderes übrig, als mit der Zeit fortzuschreiten; aber wenn wir an jenem Punkt anlangen, wo jedes weitere Fortschreiten alt werden heißt, so sollten wir es nicht beklagen, wenn die Zeit so freundlich sein wollte, still zu stehen; und alle guten Aerzte kommen darin überein, uns zu rathen, nichts zur Beschleunigung der Zeit zu thun.«

»In unserem Lande macht sich kein Altwerden bemerklich, mein Herr, und wir stehen Gott sei Dank nicht still.«

»Das thun Grashüpfer nie; sie hüpfen und springen und machen immer, was sie für Fortschritte halten, bis sie, wenn sie nicht ins Wasser springen und 222 vorzeitig von einem Karpfen oder Frosch verschluckt werden, an der Erschöpfung sterben, welche unausgesetztes Hüpfen und Springen bewirkt. – Darf ich Sie um etwas Reispudding bitten, Frau Saunderson?«

Der Pachter sah, wiewohl er Kenelm in seiner metaphorischen Art zu argumentiren nicht ganz zu folgen vermochte, mit Entzücken, daß sein weiser Sohn verdutzter aussah als er selbst, und rief sehr vergnügt: »Robert, mein Junge, unser Gast ist Dir doch ein bischen überlegen.«

»O nein!« entgegnete Kenelm bescheiden, »aber ich glaube aufrichtig, daß Herr Robert ein weiserer und gewichtigerer Mann und weiter entfernt von dem Grashüpferzustande sein würde, wenn er weniger nachdenken und mehr Pudding essen wollte.«

Als das Abendessen vorüber war, offerirte der Pachter Kenelm eine mit dem schlechtesten Kneller gestopfte Thonpfeife, welche dieser Abenteurer mit seiner gewohnten Ergebung in die Leiden des Lebens annahm, und die ganze Gesellschaft mit Ausnahme von Frau Saunderson schlenderte in den Garten.

Kenelm und Herr Saunderson setzten sich in die Geißblattlaube; die Mädchen und der Anwalt des Fortschritts blieben vor derselben und den Blumenbeeten des Gartens stehen. Es war eine ruhige, herrliche 223 Nacht, am Himmel glänzte der Vollmond. Der Pachter rauchte, den Blick auf seine Heufelder gerichtet, still vergnügt seine Pfeife. Kenelm legte seine Pfeife nach dem dritten Zuge beiseite und sah sich verstohlen nach den drei Grazien um. Sie bildeten eine hübsche Gruppe, wie sie dicht neben einander vor den stillgewordenen Bienenkörben, die beiden jüngeren sich mit den Armen umschlingend, auf der Raseneinfassung eines Blumenbeetes saßen, während die ältere, deren nußbraunes Haar der Mond beschien, hinter ihnen stand.

Der junge Saunderson ging ruhelos allein den Kiesweg auf und ab.

»Es ist sonderbar«, dachte Kenelm brütend bei sich, »daß Mädchen nicht übel anzusehen sind, wenn man sie collctiv, zwei oder drei dicht neben einander betrachtet, während, wenn man eine aus dem Bündel aussondert, man zehn gegen eins wetten kann, daß sie häßlich ist wie die Nacht. Ich möchte wohl wissen, ob der bukolische Grashüpfer, der so für das Hüpfen und Springen, das er Fortschritt nennt, schwärmt, das Mormonenthum als einen der Beweise für das Fortschreiten der Civilisation bezeichnet. Es läßt sich sehr viel für das Heirathen einer ganzen Menge von Weibern sagen, wie man sich wohl eine ganze Menge 224 billiger Rasirmesser auf einmal kauft. Denn da hat man immer die Chance, unter einem Dutzend wenigstens ein gutes zu finden. Und ebenso muß ein ganzes Bouquet von bunten Blumen mit hier und da einem verwelkten Blatt für das Auge angenehmer sein als ein einziges eintöniges Frauengesicht. Aber ich fürchte, das sind unartige Betrachtungen. – Pachter«, sagte er laut, »ich vermuthe, Ihre vornehmen Töchter sind zu schön, um Ihnen viel an die Hand zu gehen. Ich habe sie nicht unter den Mähern bemerkt!«

»O, sie waren da, aber für sich im Hintergrunde des Feldes. Ich wollte nicht, daß sie sich unter all die anderen Mädchen mischen sollten, unter denen viele Fremde von anderen Orten sind. Ich weiß nichts gegen sie, aber auch nichts für sie, und so habe ich es für ebenso richtig gehalten, daß meine Mädels für sich bleiben.«

»Ich sollte denken, es wäre richtiger gewesen, Ihren Sohn von denselben getrennt zu halten, den ich im dichtesten Gedränge jener Menge gesehen habe.«

»Nun«, sagte der Pachter nachdrücklich, indem er die Pfeife aus dem Munde nahm, »ich glaube, Mädchen, die, wenn auch ohne ihre Schuld, nicht gut erzogen sind, können jungen Burschen nicht so viel Schaden thun wie wohlerzogenen Mädchen, wenigstens meint 225 meine Frau das. Halte wohlgeartete Mädchen fern von schlechtgearteten, sagt sie und die gutgearteten werden nie auf schlechte Wege gerathen. Und Sie werden finden, daß daran etwas Wahres ist, wenn Sie einmal Töchter haben, die Sie in Acht nehmen müssen.«

»Ohne diesen Zeitpunkt abzuwarten, der, wie ich zuversichtlich hoffe, nie eintreten wird, kann ich schon jetzt die Weisheit der Bemerkung Ihrer vortrefflichen Frau erkennen. Ich selbst bin auch der Meinung, daß ein Weib seinen Mitschwestern leichter zu nahe treten kann als uns Männern; denn ohne irgend einem zu nahe zu treten, kann ja ein Weib gar nicht existiren.«

»Aber auch nicht, ohne etwas Gutes zu thun«, sagte der joviale Pachter, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug. »Wie wären wir wohl daran ohne die Frauen?«

»Nach meiner Ansicht viel besser. Adam war rein wie Gold und hatte nie eine Gewissens- oder Magenbeschwerde, bis Eva ihn verführte, rohe Aepfel zu essen.«

»Junger Mann, Sie haben eine unglückliche Liebe gehabt, das ist mir jetzt klar. Darum sehen Sie auch so bekümmert aus.«

226 »Bekümmert? Haben Sie je einen unglücklich Liebenden gesehen, der weniger bekümmert aussah, wenn er Pudding aß?«

»Hoho! Sie führen eine gute Klinge beim Essen, das will ich Ihnen gern bezeugen.« Bei diesen Worten wandte sich der Pachter um und starrte Kenelm mit einem nachdenklich forschenden Blick an. Nachdem er das eine Weile gethan, fing er in einem etwas respektvolleren Ton wieder an: »Wissen Sie, daß Sie mir etwas räthselhaft vorkommen?«

»Das wundert mich nicht, ich komme mir wahrhaftig selber räthselhaft vor. Fahren Sie fort.«

»Wenn ich an Ihren Anzug denke und – und –«

»Die beiden Schillinge, die Sie mir gegeben haben?«

»Möchte ich Sie für den Sohn eines kleinen Pachters halten, wie ich einer bin. Aber jetzt muß ich aus Ihren Reden schließen, daß Sie so etwas von einem Studenten sind oder doch jedenfalls ein Gentleman. Ist es nicht so?«

»Mein lieber Herr Saunderson, als ich meine Reise unternahm, was noch nicht lange her ist, geschah es mit der entschiedendsten Abneigung dagegen, die Unwahrheit zu sagen. Aber ich zweifle, ob ein Mann lange in dieser Welt leben kann, ohne sich zu 227 überzeugen, daß die Fähigkeit des Lügens ihm als ein unentbehrliches Mittel der Selbsterhaltung von der Natur verliehen worden ist. Wenn Sie mir Fragen in Betreff meiner Person thun, so werde ich Ihnen unfehlbar etwas vorlügen. Es ist daher vielleicht das Beste für uns beide, wenn ich Ihnen für das Bett, das Sie mir angeboten haben, danke und mein Haupt heute Nacht unter eine Hecke lege.«

»Bah! Ich verlange nicht mehr von den Angelegenheiten eines Menschen zu wissen, als er mir zu sagen für gut findet. Bleiben Sie hier und helfen Sie uns, bis das Heu eingebracht ist. Und hören Sie, mein Junge, es freut mich, daß Sie sich aus den Mädchen nichts zu machen scheinen, denn ich habe bemerkt, wie eine sehr hübsche Dirne mit Ihnen zu schäkern versuchte, und die kann Sie, wenn Sie sich nicht in Acht nehmen, in Ungelegenheiten bringen.«

»Wie das? Will Sie ihrem Onkel entlaufen?«

»Onkel! Du lieber Gott, bei dem wohnt sie nicht! Sie wohnt bei ihrem Vater und ich habe nie gehört, daß sie weglaufen will. Jessie Wiles, so heißt sie, ist, glaube ich, ein sehr gutes Mädchen und Jedermann hat sie gern, vielleicht ein bischen zu sehr; aber sie weiß, daß sie schön ist, und läßt sich gern bewundern.«

»Das thut jedes Weib, gleichviel ob es schön ist 228 oder nicht. Aber ich verstehe noch nicht recht, wie Jessie Wiles mich in Ungelegenheiten bringen könnte.«

»Weil es einen dicken plumpen Gesellen gibt, der so verliebt in sie ist, daß er beinahe den Verstand darüber verloren hat, und wenn der sich einbildet, ein Anderer thue zu schön mit ihr, so haut er ihn zu Brei. So, mein junger Freund, nun wehren Sie sich Ihrer Haut.«

»Hm! Und was sagt das Mädchen zu diesen Beweisen der Liebe? Liebt sie den Mann nur umso mehr, weil er andere Bewunderer zu Brei schlägt?«

»O nein, das arme Kind kann ihn nicht vor Augen sehen. Aber er schwört, sie soll keinen Anderen heirathen und wenn er darum gehängt werden sollte. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich habe Jessie im Verdacht, daß, wenn sie mit Anderen ein bischen zu leicht zu schäkern scheint, sie das nur thut, um den Argwohn dieses Bramarbas von dem einzigen Manne abzulenken, aus dem sie sich, glaube ich, etwas macht, einem armen, kränklichen jungen Burschen, der durch einen Unfall zum Krüppel geworden ist und dem Tom Bowles mit seinem kleinen Finger das Gehirn ausschlagen könnte.«

»Das ist wirklich interessant«, rief Kenelm, den die Erzählung etwas aufgeregt zu haben schien. 229 »Ich möchte diesen fürchterlichen Freier wohl kennen lernen.«

»Dazu können Sie leicht genug kommen«, sagte der Pachter trocken. »Sie brauchen nur nach Sonnenuntergang einen Spaziergang mit Jessie zu machen, und Sie werden so viel von Tom Bowles kennen lernen, daß Sie es schwerlich in einem Monat wieder vergessen werden.«

»Ich bin Ihnen für Ihre Mittheilung sehr verbunden«, sagte Kenelm in leisem, nachdenklichem Ton. »Ich denke, sie soll mir zu statten kommen.«

»Das hoffe ich. Es sollte mir leid thun, wenn Sie zu Schaden kämen; denn Tom Bowles in einem seiner Wuthanfälle in die Hände fallen, ist so schlimm, wie einem wüthenden Stier begegnen. Jetzt aber, da wir früh aufstehen müssen, will ich noch einmal nach den Ställen sehen und dann zu Bett gehen, und ich rathe Ihnen, dasselbe zu thun.«

»Ich danke Ihnen für diesen Wink. Ich sehe, die jungen Damen sind schon hineingegangen. Gute Nacht!«

Als Kenelm durch den Garten ging, begegnete er dem jungen Saunderson.

»Ich fürchte«, sagte der Jünger des Fortschritts, »Sie haben den Alten furchtbar langweilig gefunden. Worüber haben Sie mit ihm gesprochen?«

230 »Ueber Mädchen«, erwiderte Kenelm. »Das ist freilich immer ein furchtbarer, aber nicht nothwendig ein langweiliger Gegenstand.«

»Mädchen! Der Alte soll über Mädchen gesprochen haben! Sie spaßen.«

»Ich wollte, ich könnte spaßen; aber darauf habe ich mich, solange ich auf der Welt bin, nie verstanden. Schon in der Wiege fühlte ich, daß das Leben eine sehr ernste Sache sei und keinen Spaß gestatte. Ich erinnere mich noch zu gut meiner ersten Dosis Ricinusöl. Auch Sie, Herr Robert, haben unzweifelhaft dieses Mittel der Vorbereitung für die Süßigkeiten des Lebens geschlürft. Ihre Mundwinkel haben sich noch nicht wieder von jenen strengen Falten erholt, in welche sie jenes Mittel herabzog. Wie ich, sind Sie von ernstem Temperament und nicht leicht zu Scherzen aufgelegt. Ja, ein Enthusiast für den Fortschritt ist nothwendigerweise mit dem gegenwärtigen Stande der Dinge unzufrieden. Und eine chronische Unzufriedenheit wird durch die augenblickliche Erleichterung eines Scherzes nur unangenehm berührt.«

»Bitte, reden Sie nicht so laut«, sagte Robert, indem er seinen lehrhaften Ton herabstimmte, »und sagen Sie mir grade heraus, hat mein Vater nichts Besonderes über mich gesagt?«

231 »Kein Wort! Die einzige Person männlichen Geschlechts, von der er etwas Besonderes gesagt hat, war Tom Bowles.«

»Wie, von Prügel-Tom, dem Schrecken der ganzen Gegend? Ach, ich kann mir denken, der Alte ist bange, daß Tom mir einmal auf den Pelz kommt. Aber Jessie Wiles ist keinen Streit mit dieser Bestie werth. Es ist ein wahrer Skandal von der Regierung –«

»Wie! Hat die Regierung es versäumt, den Heroismus Tom Bowles' zu würdigen oder vielmehr die Ausschreitungen seines Feuereifers zu zügeln?«

»Unsinn! Es ist ein Skandal, daß die Regierung seinen Vater nicht gezwungen hat, ihn in die Schule zu schicken. Wenn der Unterricht allgemein wäre –«

»So glauben Sie, würde es keine Bestien im Besonderen geben. Vielleicht haben Sie Recht, aber in China ist der Unterricht ebenso allgemein wie die Bastonnade. Ich habe aber von Ihnen verstanden, daß das Zeitalter der Aufklärung im vollsten Fortschritt begriffen sei.«

»Ja, in den Städten, aber nicht in diesen zurückgebliebenen ländlichen Districten, und das bringt mich auf den eigentlichen Punkt. Ich fühle mich hier verloren und unnütz. Ich habe etwas in mir, mein Herr, und das kann nur in der Berührung mit 232 gleichstehenden Geistern herauskommen. Thun Sie mir daher einen Gefallen – wollen Sie?«

»Mit dem größten Vergnügen.«

»Geben Sie dem Alten einen Wink, daß er nach der Erziehung, die ich genossen habe, nicht von mir erwarten dürfe, daß ich den Pflug ziehe und Schweine füttere, und daß mein Platz in Manchester sei.«

»Warum in Manchester?«

»Weil ich dort einen Verwandten habe, der Kaufmann ist und mich zum Commis nehmen würde, wenn nur der Alte seine Zustimmung geben wollte. Und Manchester regiert England.«

»Herr Robert Saunderson, ich will mein Bestes thun, Ihnen zur Erfüllung Ihrer Wünsche behülflich zu sein. Wir leben in einem Lande der Freiheit und jeder Mensch sollte seinen eigenen Weg gehen dürfen, sodaß, wenn er dabei schließlich auf den Hund kommt, er das doch ohne die Verstimmung thut, die nothwendig durch das Bewußtsein hervorgerufen wird, von einem Anderen in diesen Zustand versetzt worden zu sein. Er hat dann niemand anzuklagen als sich selbst. Und das, Herr Robert, ist ein großer Trost. Wenn wir in eine Patsche gerathen und Andere anklagen, werden wir unwillkürlich ungerecht, tückisch, lieblos, boshaft, vielleicht rachsüchtig. Wir überlassen uns 233 Gefühlen, die geeignet sind, unsern ganzen Charakter zu verderben. Aber wenn wir nur uns selbst anklagen, werden wir bescheiden und reumüthig. Wir werden nachsichtig gegen Andere. Und Selbstanklage ist in der That eine heilsame Gewissensübung, welche ein wirklich guter Mensch jeden Tag seines Lebens vornimmt. Und jetzt, wollen Sie mir das Zimmer zeigen, in welchem ich schlafen und für einige Stunden vergessen soll, daß ich überhaupt am Leben bin, das Beste, was uns in dieser Welt widerfahren kann, mein lieber Herr Robert! Solange wir noch in dem Augenblick, wo wir den Kopf aufs Kissen legen, Alles vergessen können, steht es noch nicht ganz schlimm mit uns.«

Die beiden jungen Männer gingen freundschaftlich Arm in Arm zusammen ins Haus. Die Mädchen hatten sich schon zurückgezogen, aber Frau Saunderson war noch auf, um ihren Gast in das Fremdenzimmer zu führen. Es war ein hübsches Zimmer, das vor zwanzig Jahren bei der Verheirathung des Pachters auf Kosten von Frau Saunderson's Mutter, die es selbst bewohnen wollte, so oft sie zum Besuch käme, möblirt worden war und das mit seinen Dimity-Gardinen und geblümten Tapeten noch heute so frisch und neu aussah, als wäre es erst gestern decorirt und möblirt worden.

234 Als Kenelm allein war, entkleidete er sich; bevor er sich ins Bett legte, entblößte er seinen rechten Arm, spannte denselben und betrachtete mit ernster Miene seine Muskulatur, indem er mit der linken Hand über den Muskelballen des rechten Oberarms hinfuhr. Augenscheinlich befriedigt von der Größe und Festigkeit dieser für den Faustkampf so wichtigen Protuberanz, seufzte er leise vor sich hin: »Ich fürchte, ich werde Tom Bowles unterkriegen müssen.« Fünf Minuten später war er eingeschlafen. 235


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