Bruno Hans Bürgel
Der »Stern von Afrika«
Bruno Hans Bürgel

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9.

Und nun begann in den Usambaranit-Werken am Kap eine rastlose Tätigkeit. Vierzehn Tage lang war Standerton-Quil überhaupt nicht sichtbar gewesen. Er verließ sein Konstruktionsbüro nur noch, wenn er seine Mahlzeiten einnahm oder draußen unter den Silberbäumen des Abends, die Pfeife im Munde, seinen Spaziergang machte, und selbst dann wünschte er allein gelassen zu werden. Unablässig hatte er in Spezialfragen Konferenzen mit tüchtigen Kollegen seines weiten Bekanntenkreises, fünfmal wurden allein die Pläne für die in das Raumschiff einzusetzenden Fenster geändert, da hier allein eine Fülle von Fragen, Möglichkeiten, Gefahren vorlag.

Die kleinste Unachtsamkeit konnte das ganze Unternehmen einer schrecklichen Katastrophe entgegenführen. Bei einer elektrischen Lokomotive, einem Schiff, einem Flugzeug hatte man die Möglichkeit, irgendeinen Fehler in der Konstruktion wenige Kilometer vom Abgangsort richtigzustellen, konnte umkehren, konnte die Hilfe einer ganzen Welt in Anspruch nehmen, diese Maschine aber, einmal hinausgeschleudert in den endlosen Raum, kam ans Ziel oder zerschmetterte irgendwo im Unbekannten.

Der Ingenieur hörte in jeder Spezialfrage auch Johannes Baumgart, der diesen oder jenen Teil des 216 seltsamen Vogels, der sie zum Monde tragen sollte, vom astronomischen Standpunkt aus begutachtete, seine Einwürfe und Vorschläge machte, die sich auf die Verhältnisse im Weltenraum, auf seine Kälte, auf die Materie der Nebelwolke, die veränderliche Anziehung durch Erde und Mond, auf die Sonnenstrahlung, auf die beim Landen auf dem Monde zu erwartenden Schwierigkeiten bezogen. Aber in der Umgehung all dieser Hindernisse war Standerton-Quil auf sich selbst angewiesen, denn der gelehrte Mann war so unpraktisch, daß er – wie der Ingenieur launig bemerkte – zwar den Aufbau der Millionen Sonnen der Milchstraße erkannte, aber nicht in der Lage war, einen Nagel in die Wand zu schlagen.

Der Körper des »Sterns von Afrika« – so sollte das Raumschiff benannt werden – mußte eine Länge von vierzehn Metern erhalten und war in seinem mittleren Teil zweieinhalb Meter hoch. Standerton war von der reinen Granatenform abgegangen und hatte die Zigarrenform gewählt. Auch der hintere Teil des eigenartigen Flugschiffes verjüngte sich also, wenn er auch nicht in eine Spitze auslief wie der Kopf. Dieser ganze Körper sollte aus Stahl in einem Stück gegossen werden, wozu in den Hawthornschen Werken sehr komplizierte Vorbereitungen und Umbauten in der Stahlgießerei nötig waren.

Aber der Alte war selber ständig auf dem Plan, trieb an, stellte seine besten Leute an den zweckmäßigsten Platz, wußte sie für das neue Werk, das die Augen einer ganzen Welt auf sich lenkte, zu begeistern. Und sie waren mit vollstem Verständnis und ganzer Kraft bei dieser eigenartigen Aufgabe. Unablässig belagerte ein Heer von Zeitungsleuten und Photographen die Usambaranit-Werke. 217 Der »African Herald« hatte einen Ingenieur engagiert, der nichts weiter zu tun hatte, als fachmännische Berichte über den Fortschritt des Unternehmens zu geben. Die Zeitungen aller Erdteile beschäftigten sich mit dem sonderbaren Projekt, setzten die Federn der bekanntesten Fachleute in Bewegung, und in allen Skalen, von begeisterter Zustimmung bis zu brüsker Ablehnung, rauschten die Urteile im Blätterwalde von fünf Kontinenten. Jeder Schulknabe zwischen den beiden Erdpolen kannte das Porträt des merkwürdigen Deutschen, in allen Blättern sah man Standertons mächtigen Kopf, aus dessen Munde die unvermeidliche Shagpfeife wie ein Rüssel herausragte. Lange, bevor noch die Gußform stand, sah man schon phantastische Bilder von dem Raumschiff, und ein südamerikanisches Blatt wußte schon von dem Absturz des »Sterns von Afrika« zu berichten, ehe noch die Gußpfannen geöffnet wurden, die den flüssigen Stahl in die Formen strömen ließen.

Der Mond wurde der populärste Weltkörper, selbst die verschleierte Sonne und die Svendenhamsche Wolke traten dagegen zurück. Ueberall sah man in den illustrierten Blättern seine zernagten Kraterlandschaften, seine melancholischen, dunklen Ebenen. Seine Vergangenheit, die Frage seiner früheren Bewohntheit wurde mit mehr oder minder Sachkenntnis behandelt, und ein großes Operntheater in Johannesburg machte glänzende Geschäfte mit einer phantastischen Spieloper: »Die Mondreise«.

Beträchtlich war die Zahl der Anträge, an der Reise teilnehmen zu dürfen. Ein reicher australischer Schafzüchter erbot sich, die ganzen Kosten des Unternehmens 218 zu decken, wenn man ihn mitnehmen wollte. Eine okkultistische Gesellschaft in Birma verbreitete eine Broschüre, in der dargelegt wurde, daß die Mondwelt der Aufenthaltsort ruheloser Seelen solcher Erdbewohner sei, die zu ihren Lebzeiten hienieden schwere Schuld getragen, und warnte vor der aberwitzigen Reise in das Reich unerlöster Geister.

Aber es fehlte auch nicht an ernsthaften Ratschlägen von Astronomen und Technikern, die sehr sorgfältig erwogen wurden, in manchen Fällen auch Standerton-Quil zu Abänderungen dieser und jener Teile seines Flugschiffes veranlaßten. Namentlich waren die längeren Auseinandersetzungen eines japanischen Meteorforschers von Wert. Dieser Mann wies darauf hin, daß dem Flugschiff vor allem durch Sternschnuppenkörperchen und Meteorsteine, die durch das Weltall fliegen, Gefahren drohten. Gegen zehn Millionen Sternschnuppenkörper treten im Laufe eines Tages in die Erdatmosphäre ein, Millionen von Meteorsteinen schwirren durch den Raum. Die meisten dieser winzigen Weltkörpersplitter sind kaum erbsengroß, aber auch Steine von der Größe einer Faust, ja eines Weinfasses kommen vor. Ihre Geschwindigkeit ist tausendmal größer als die eines Schnellzuges, und es war klar, daß ein solcher Stein die Stahlwände der Granate durchschlagen mußte wie die Flintenkugel eine Pappschachtel. – Johannes Baumgart hatte diese Gefahr durchaus nicht unbeachtet gelassen, ja, sie als die einzige hingestellt, die während des Fluges durch den Raum zu fürchten sei. Hiergegen aber war man machtlos, und immerhin mußte berücksichtigt werden, daß diese das All durchsausenden Splitter 219 ganz selten eine Größe erreichen, die dem Stahlpanzer des Raumschiffes gefährlich werden konnte. Man mußte dieser Gefahr gegenüber mit dem Glück rechnen, das den Mutigen hold ist.

Die sehr sorgsamen statistischen Aufzeichnungen des Japaners bewogen Standerton-Quil dennoch, über die Polsterung der Innenwände seines Fahrzeuges noch eine dünne Stahlwand zu legen, um leichter die Einschlagstellen solcher himmlischen Geschosse finden zu können. Er beschloß, bleierne Keile von verschiedener Größe bereitzulegen, die man sofort in solche Einschußlöcher schlagen konnte, um sie zu verstopfen.

So waren tausend Einzelheiten zu bedenken. Die Hauptschwierigkeit aber lag in der tadellosen Herstellung der Explosionskammern. Sie wurden aus reinem Platin verfertigt und kosteten allein weit über eine Million Franken. Durch eine sehr sinnreiche Anordnung von Wärmeabteilungskörpern entzog man diesen Explosionskammern die Hitze und führte sie den anderen Räumen der Fluggranate zu, die vermutlich unter der Kälte des Weltenraumes schwer leiden würden. Andrerseits waren Kühlrohre rings um die Explosionskammern verteilt, durch die bei dem schnellen Fluge des Geschosses die enorme Kälte des Raumes strömen konnte.

Der vierzehn Meter lange Körper des »Sterns von Afrika« war in fünf sehr ungleich große Räume geteilt worden, die durch kleine Einsteigluken miteinander in Verbindung standen. Jedes Plätzchen war bis aufs äußerste ausgenutzt. Da war zunächst vorn in der Spitze die Führerkabine mit ihrem Steuerrad, ihrem 220 Geschwindigkeitsmesser, dem Quecksilberhorizont, der die Gleichgewichtslage angab, dem Kontrollapparat für die Höhe der Temperatur in der Explosionskammer und ähnlichen Instrumenten. Man gelangte von da aus in eine kleine Kammer, die den Proviant der Reisenden enthielt, Pelze, Gebrauchsgegenstände aller Art und die Stahlflaschen für die komprimierte Atmungsluft aufnehmen sollte. Hieran schloß sich der Hauptraum in der Mitte des Fahrzeuges, als Wohn- und Schlafgemach ausgestattet, für die gerade dienstfreien Mitglieder der Expedition. Seine Einrichtung hatte viel Kopfzerbrechen gemacht, denn sie mußte so beschaffen sein, daß sie den verschiedensten Gleichgewichtslagen, die die fliegende Granate einnehmen konnte, gerecht wurde. Ein großer Tisch, tiefe Ledersessel, an den Wänden angebrachte Ruhebetten, Schränke für Karten und Bücher, kleine Bequemlichkeiten für die lange Reise, Tafelgeräte und ähnliche Dinge waren in sinnreicher Weise angeordnet.

Jenseits dieses »Salons«, wie Standerton sagte, kam man wieder in eine kleine Kammer, die dem Maschinistenraum benachbart war. Hier ruhten in Zinkkisten die tausend blanken Dosen mit den Usambaranit-Pillen, gleich fertig zur Einführung in den Explosionsautomaten, der sie auf einfachste Weise durch ein Uhrwerk in die Zündkammern schob und zur Explosion brachte. Da sah man Ersatzteile aller Art, Handwerkszeug und einige Flaschen mit flüssigem Helium für alle Fälle. – Im Schwanzende schließlich hauste der Maschinist. Hier blinkte hinter dem Automaten die breite Platin-Stirnwand des Explosionsraumes, zog sich das Netz der Wärmeleitungsröhren hin, leuchteten von den Wänden die 221 Signalapparate, die der Mann im Führerstand vorn an der Spitze bediente.

Von außen sah man die fünf Auspuffrohre ins Freie münden, die die Explosionsgase in den Raum entließen. Gleich silbernen Trompetenrohren glänzten sie in der Sonne.

Kreisrunde Fenster, aus vierzölligem Kristallglas, in dem Stahldrahtnetze eingeschmolzen waren, sorgten überall für Ausguck nach allen Seiten. Im »Salon« waren sie so groß, daß auch Sir Archibald Plug bequem hindurchsteigen konnte. Hier saßen sie – an mächtige Gummiringe anpressend – in starken Verschraubungen. Sie bildeten zugleich die Ein- und Aussteigtüren aus dem stählernen Gefängnis.

Zwischen dem äußeren Stahlmantel und der inneren dünnen Stahlwand hatte Standerton eine drei Zoll dicke Wand von reiner Wolle legen lassen. Alle Räume konnten bei Bedarf ein zwar nicht sehr helles, aber genügendes Licht erhalten, denn man hatte tief unten im Bodenraum Akkumulatoren von hinreichender Stärke eingebaut. Fügen wir noch hinzu, daß ein »chemischer Ofen«, in dem durch sehr einfach einzuleitende chemische Vorgänge Wärme zu erzeugen war, mitgeführt wurde, der vollkommen ausreichte, die Speisen und Getränke zu erhitzen, so sind die wichtigsten Einrichtungen des Fahrzeuges, das eine so abenteuerliche Reise antreten sollte, aufgezählt.

Aber das alles stand einstweilen noch auf dem Papier oder wurde eben in den verschiedensten Spezialwerkstätten hergestellt oder erprobt und bedurfte noch mancher Abänderung. 222

Standerton-Quil jagte, von den Ingenieuren Hawthorns unterstützt, hin und her. Er war in seinem Element und verlor nicht einen Augenblick seine Ruhe. »Ich werde diese Fahrt nicht eher antreten, ehe ich nicht überzeugt bin, daß die letzte Tischschraube oder die einfachste Schranktür zweckmäßig den besonderen Anforderungen entspricht. Der Mond hat tausend Millionen Jahre auf unsern Besuch warten müssen, es kann ihm auf einige Wochen nicht ankommen, und ich bin fest entschlossen, die ganze Granate wieder zusammenzureißen, wenn ich den Eindruck habe, daß sie nicht mit Sicherheit das leistet, was sie leisten muß. Vor Jahren sah ich im Museum zu Timbuktu die eingetrocknete Mumie eines Technikers, der vor 800 Jahren mit unzureichenden Mitteln den Versuch gemacht hatte, in einer Stahlkugel Meerestiefen von 3000 Metern zu erreichen und zu erforschen. Er blieb unten liegen, und durch irgendeinen Zufall kam dann das vermaledeite Ding nach Jahrhunderten wieder an die Oberfläche. – An diese Mumie muß ich immer denken bei unsern Vorbereitungen. Ich verspüre keine Lust, nach 800 Jahren zusammengeschnurrt, wie eine Backpflaume, im Museum unsrer lieben Nachkommen angestaunt zu werden!«

»Ganz meine Meinung,« sagte Kowenkott. »Weiß der Teufel, wo der ›Stern von Afrika‹ mit uns untergeht, wenn wir ihn nicht fest beim Wickel haben!«

Hawthorn hatte inzwischen lange Verhandlungen mit der Gesellschaft für Tiefseearbeiten in Bombay, deren vorzügliche Apparate für künstliche Atmung in der ganzen Welt berühmt waren. Man legte dort Wert darauf, für das interessante Unternehmen etwas ganz besonders 223 Praktisches und Zuverlässiges zu schaffen, da die vorhandenen Atmungsapparate für eine siebzigtägige, ununterbrochene Benutzung doch noch zu unbequem waren. Nach langen Versuchen kam man auch hier zum Ziel, und der Konstrukteur erprobte sein Werk selber fünf Tage lang in einer luftleer gemachten, stählernen Versuchskammer, die er nach dieser Zeit genau so wohl und munter verließ, wie er sie betreten. Vor allen Dingen war Wert darauf gelegt worden, daß man mit dieser Maske auch bequem essen und trinken konnte, daß der Tornister mit der komprimierten Luft nicht hinderte und auch während des Schlafes nicht störte. Die Atmung war leicht, die Luftzufuhr sehr regelmäßig, und nicht der geringste Geruch oder Geschmack haftete dem Atmungsgemisch an. Baumgart, der einen Tag lang die Luftmaske erprobte, mußte zugeben, daß die hier eingeatmete Luft reiner und frischer war als in den Straßen Kapstadts mit ihrem Staub und ihrer durch mancherlei Industrieabgase verschlechterten Atmosphäre.

So nahm langsam alles, was auf dem Papier gestanden, was Wunsch und Absicht gewesen, Gestalt und Wirklichkeit an. Der Tag war nicht mehr fern, an dem die Probefahrt beginnen konnte. Standerton hatte Sir Archibald Plug aufgefordert, die gemütliche, alte Kneipe der Kapitäne im Hafen von Bagamojo zu verlassen und dafür nach Kapstadt zu kommen, um in den Luftkerker zu kriechen und auf seine alten Tage noch einmal die Steuermannskunst in der Granate zu lernen, und richtig, der Biedere war bald darauf eingetroffen, nicht ohne ein ansehnliches Fäßchen seines geliebten Tripolitaner Weines mitzuschleifen. 224

Kowenkott hatte inzwischen Baumgart und den sehr zuverlässigen und geschickten jungen Maschinisten Samha in der Bedienung des Explosionsapparates unterwiesen. Sir Plug kam gerade noch zur rechten Zeit, um auch diese Seite der Angelegenheit kennenzulernen, denn es mußte unbedingt gefordert werden, daß jeder durch jeden zu vertreten war, und Standerton war willens, eine ganze Anzahl Flüge mit der gewöhnlichen Granate auszuführen, bei der bald dieser, bald jener Führer und Maschinist sein sollte, ehe an die große Versuchsfahrt zu denken war.

Der »Stern von Afrika« war im Rohbau fertig. Eben wurden die Tragflächen und Steuer hergerichtet. Teile der Innenausrüstung waren abgeliefert, der Proviant von der renommiertesten Konservenfabrik in großen Kisten eingetroffen. Die Gesellschaft in Bombay hatte für nächste Woche Uebersendung der Apparate für künstliche Atmung zugesagt; man setzte eben die Telephonapparate an, denn ohne diese wäre ja eine Verständigung im luftleeren Raum, in dem der Schall nicht vom Mund zum Ohr dringen kann, unmöglich gewesen. Alles näherte sich der Vollendung. –

Johannes Baumgart war nur selten in der mächtigen Montagehalle der Usambaranit-Werke zu sehen. Er war noch immer Gast im Hause Hawthorns und saß in seinem Zimmer tief vergraben in Spezialwerke über die Welt des Mondes. Riesige photographische Atlanten der Mondoberfläche lagen vor ihm, die jede winzige Bergspitze, jedes Kraterloch von kaum hundert Metern Durchmesser aufwiesen. Ben-Haffa hatte aus Kairo genaue Pläne der Mondlandschaften eingesandt, die nach seiner Ansicht verdächtige Spuren einer ehemaligen Bewohntheit zeigten, 225 und wo man daher am ehesten hoffen konnte, Dinge zu finden, wie sie dem Deutschen vorschwebten. Der saß in allerlei Berechnungen und Aufzeichnungen vertieft in seiner einsamen Klause.

Das Wetter war anhaltend ungünstig, die Sonne in den seltenen Stunden deutlicher Sichtbarkeit von einem braunroten Schleier umzogen.

Aus Europa kamen beunruhigende Nachrichten. Noch schlimmer sah es im Norden Amerikas aus, wo große Hungerrevolten stattfanden und unvernünftige Menschenmassen durch Gewalttaten noch mehr Unheil anrichteten. Auch in Australien drängte alles einer Krisis zu. In Afrika waren bereits die ersten Einwandererscharen, mehr als fünfhunderttausend Menschen, angekommen. Südamerika sandte eine große Flotte hinauf in die Unruhengebiete der kanadischen Republik, um Menschenmassen von dort abzutransportieren. Man hatte überall den Eindruck, daß die Lage ernst wurde und schnelle Hilfe nottat. China und Indien hatten im Norden Asiens in mustergültig organisierter Weise bereits die bedrohtesten Teile räumen lassen. Die Zeitungen berichteten unablässig über schwere Gefahren, die durch Scharen schwimmender Eisberge in den nördlichen und südlichen Meeren veranlaßt wurden. Langsam dämmerte auch dem Sorglosesten die Bedeutung einer Eiszeit in diesen Zeiten hochentwickelter Kultur und starker Uebervölkerung großer Erdstriche.

All diese Nachrichten beschäftigten den Mann, der da in seinem stillen Zimmer die Karten und Photographien einer ausgestorbenen Welt studierte, stark. Nun klappte er den großen Mondatlas der Melbourner Sternwarte zu, ein Werk, an dem drei Astronomen-Generationen 226 gearbeitet, und erhob sich. In Gedanken verloren, wanderte er im Zimmer auf und ab. Was war aus dem großen Kulturlande Europa geworden, das alle Kontinente mit seinem Geist durchströmt, seine Pioniere bis in die fernsten Fernen gesandt, durch seine wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften erst die Erschließung all dieser Erdteile ermöglicht hatte! Dieses alte Mutterland, das Land, das die Buchdruckerkunst, die Eisenbahn, die Dampfmaschine, das Dampfschiff, die Photographie, die Telephonie, das Flugzeug, die Stahlbereitung, den Webstuhl und tausend andere Dinge geboren, es verkam langsam. Seine Völker wanderten aus. Aber die Zerstörung griff weiter um sich! Bekam man nicht einen Vorgeschmack vom Aussterben einer ganzen Weltkugel, wenn man das Unheil betrachtete, das diese kosmische Wolke heraufbeschwor? Freilich, das ging einmal vorüber, aber mit Naturnotwendigkeit mußte sich auch der Erdball langsam dem Stadium nähern, das ihn im Laufe langer Zeiträume dem vollkommenen Erstarren zuführte, ihn der Mondwelt gleichsetzte. Auch dort oben wechselten einst Sommer und Winter, gab es ein Blühen und Reifen, sangen wohl Vögel im Hain, blickten Augen hinauf zu den Sternen, hinüber zur riesigen Scheibe der Erde. Vielleicht gab es einmal dort hohe Kulturen, kämpfte auch dort ein Geschlecht dem Wahren, Schönen, Guten nach. Das alles war aber spurlos verweht und versunken.

Zwischen dem Wassertropfen, in dem man unter dem Mikroskop ein Gewimmel von winzigen Geschöpfen sich tummeln sieht, und der langsam unter dem Einfluß der Zimmerwärme eintrocknet, bis nur noch ein kleines Staubfleckchen im Glase sichtbar ist – zwischen diesem 227 Wassertropfen und einer langsam verdorrenden Weltkugel besteht eigentlich kein anderer Unterschied als der der Größe und der längeren Lebensdauer.

Baumgart trat an das Fenster und schaute hinaus in den grauen Abend. Schwere Wolken zogen am Himmel hin. Welchen Endzweck, so grübelte er weiter, hat das alles? Was soll schließlich all dieses Streben und Ringen, wenn am Ende aller Kulturen das Versanden und Versinken, das Verkümmern und endliche Aussterben steht, der Tod eines ganzen Weltballes? Muß dem Auge eines Allmächtigen dieser Planet nicht ebenso belanglos winzig und vergänglich erscheinen wie mir das Gewimmel im Wassertropfen? Dieser eine Tropfen ist eingetrocknet, seine Bewohner sind vernichtet, aber jener See dort enthält Milliarden solcher Tröpfchen. Das Auge eines allmächtigen Wesens wendet sich ab von dem Sternlein Erde oder Mond oder wie man es sonst benannte, und das nur noch ein totes Wrack ist, und wendet sich irgendeinem der Millionen anderen Sternlein zu, die das All erfüllen, wo ein neues Werden beginnt!

Der junge Gelehrte drückte seine Stirn gegen die Scheibe und sah in das wogende Fliehen der Wolkenmassen. Leise murmelte er Goethes Worte vor sich hin:

»Das Ewige regt sich fort in allem,
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will!«

Eine Hand berührte leicht seine Schulter. Aufschreckend wendete er sich um. »Fräulein Hawthorn!«

»Wie sind Sie doch in Ihren Gedanken eingesponnen! Die Welt könnte untergehen, und Sie merkten es nicht. Ich habe zweimal geklopft, Sie haben es überhört. Es 228 war so still im Zimmer, daß ich glaubte, Sie wären ausgegangen. Ich komme, Ihnen zu sagen, daß wir wieder allein zum Abend speisen müssen. Mein Vater und Standerton-Quil sind nach Pretoria gefahren, um endlich die dicken Gitterfenster Ihres Gefängnisses abzutransportieren. Man sieht den guten Vater kaum noch, solche Eile hat er, dieses Drama aufgeführt zu sehen!«

»Sie sind mir böse! Ich brachte diese Unruhe in Ihr friedliches Haus. Ein kleines Weilchen noch, und all das hat ein Ende!«

»Hat es ein Ende?«

»Schneller als Sie denken! In zehn Tagen schon! Und alle Sorgen werden dann mit uns selbst davonfliegen!«

Elizabeth stand neben ihm und schaute gleich ihm hinaus in die sich verdunkelnde Landschaft, über die nun wieder ein stiller Regen melancholisch niederrieselte. Sie seufzte tief und sagte mit fast tonloser, resignierender Stimme:

»In diesem Augenblick werden sie erst beginnen, die Sorgen, und ich fürchte, um dieses Haus wird sich ein nicht minder düsterer Schleier legen wie jetzt da draußen um dieses in Grau versinkende Land. Ein Schleier, der sich nicht mehr heben wird! Nie mehr!«

Baumgart wendete sich um. Lange schon drückte ihn dieser Pessimismus seiner jungen Gastgeberin. Es schien ihm, als leide sie unter all dem mehr als sie alle ahnten. Es mußte einmal ausgesprochen werden, was sich dazu sagen ließ, und ihm schien, der Augenblick war gekommen.

»Fräulein Elizabeth, lassen Sie uns einmal einen Augenblick außer acht lassen, daß ich verpflichtet bin, Ihre tiefstinnerste Persönlichkeit meiner Kritik zu entziehen. 229 Wer könnte wohl mehr von mir fordern, daß ich sein Empfinden nicht mit verstandesmäßiger Kühle durchsäge als Sie! Dennoch! Sie leiden unter dem Werk, das sich hier vorbereitet. Sie allein von den Millionen Menschen, die seiner Ausführung mit fiebernder Spannung entgegensehen, stehen ihm fast feindselig gegenüber, Sie allein von all den Unzähligen in allen Ländern würden diesen Plan vernichten, wenn es in Ihrer Macht läge. Wohl begreife ich, daß Sie an uns, die wir so lange in Ihrer Nähe weilen durften, ein persönliches Interesse nehmen, daß Sie besorgt sind, ob die Männer, die Ihrem Hause nahestanden, von dieser aufregenden Reise wohlbehalten in dieses Haus zurückkehren, aber fühlen unsere Freunde, fühlt Ihr Vater nicht diese mit einem so kühnen Plan verbundenen Bedenken auch? Und trotzdem helfen unsere Freunde mit allen Kräften das schwierige Werk durchzusetzen. Sie wissen wohl, daß sie die Männer einem ungewissen Geschick entgegenfahren sehen, aber sie stellen all diese kleinen persönlichen Empfindungen zurück angesichts der Größe des Werkes, der Bedeutung, die es für alle erlangen kann. Sie allein verlieren sich in tiefem Pessimismus, in starrer Ablehnung. Sagte doch Standerton-Quil kürzlich, daß Sie den stählernen Vogel haßten, den er mit Mühe geformt, und daß er sich nicht wundern würde, wenn Sie ihn in finsterer Mitternacht mit dem Explosionsstoff zerschmettern, wie jene Tochter des Geisterkönigs in der Oper, die wir neulich hörten, das Schiff des Mannes aus fernem Land. Ihr Vater hörte es. Er sah mich mit einem seltsamen Blick an und ging achselzuckend davon. – Sie allein sind einem Plan, der bis zu einem gewissen Grade meine Lebensarbeit ist, entgegen, fühlen die Freude 230 nicht, die in mir lebt, endlich, endlich nach vielen Widerständen dem Ziel nahe zu sein! – Warum das alles?«

Elizabeth Hawthorn sah noch immer hinaus in die verschleierte Ferne. Im Zimmer war es inzwischen so dunkel geworden, daß man nur den weißen Marmorkopf Goethes, den seine begeisterte Verehrerin hierher gesetzt, als undeutlichen bleichen Schemen hervorleuchten sah. Lange schwieg sie, um dann kaum hörbar zu antworten:

»Vielleicht weil ich ein Weib bin! Vielleicht weil ich nicht mit einem technischen Gehirn denke, mich nicht die Großtat einer Ingenieurkunst des Jahres Dreitausend enthusiasmiert. Vielleicht weil ich von diesen Millionen, die sich da alle eine Sensation erwarten, etwas, wovon man noch nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden sprechen wird, der einzige Mensch bin, der zwar nicht mit dem Verstande erkennt, aber mit dem Herzen fühlt, daß wertvolle Menschen hier dem Untergange entgegengehen, unter den neugierigen Augen einer Welt, die sich ein Schauspiel erwartet! Und daß Sie, gerade Sie, der Mensch mit tiefster Innerlichkeit, der Mensch, dem rein Geistiges, ein Gedicht, ein philosophisches Problem, eine ethische Frage so viel mehr ist als alles technische Können, dieser ganze äußerliche Plunder, der nicht ein einziges Herz glücklich machen kann . . . daß gerade Sie in ein solches, die ganze Welt aufrührendes, nie gesehenes Schauspiel verwickelt werden, sich selbst verwickeln, sich selbst in einem gewaltigen technischen Apparat verlieren und mit ihm zugrunde gehen werden, das tut mir weh! – Aber, freilich . . . ich bin nur ein Weib!«

Immer erregter, immer leidenschaftlicher hatte die stille Elizabeth gesprochen, seit Wochen Gefühltes in die Form 231 flüchtiger Worte kleidend, die doch mehr verbargen, als sie sagten. Nun trat sie in das mit tiefem Dunkel erfüllte Zimmer zurück, sich zum Gehen wendend. Baumgart war von diesem Ausbruch überrascht, und doch war viel darin, das ihm gefiel, das Art von seiner Art war.

»Verweilen Sie noch eine Sekunde, Elizabeth! Ich verstehe Ihre Empfindungen. Ich achte sie unendlich viel höher als den Beifall einer nur das Aeußere sehenden Masse. Aber Sie müssen doch einsehen, daß eine große ethische Idee hinter dem liegt, was Sie äußerlich-technisches Schaffen und Wollen nennen. Diese Maschine, diese Reise sind ja nur Instrument und Handhabung, um zu den Quellen zu kommen, die rein und klar fließen und – so hoffe ich – der Menschheit Segen bringen werden. Sie haben die neuesten Zeitungen gelesen, die Hungerrevolten, die Kämpfe, die Verelendung, die tausend sich türmenden Schwierigkeiten erfahren, die die Kultur zurückzuschrauben drohen auf Faustrechts-Zeiten. Es kann Ihnen nicht unbegreiflich sein, daß allein diese Seite der ganzen Angelegenheit die Triebfeder für das begonnene Werk abgibt, zum mindesten für mich! – Sie sagen, sagen es in einer Art gewollter Selbsterniedrigung, daß hier nur ein Weib spricht, dem männlicher Tatendurst fernliegt, das die Dinge gefühlsmäßig nimmt. Aber haben nicht auch Frauen begeistert zugestimmt, haben wir nicht selbst Angebote von geistig bedeutenden Frauen bekommen, mitzuwirken, selbst an der Reise ins Ungewisse teilzunehmen? Hat nicht eine so bedeutende Frau wie Madame Effrem-Latour ihren ganzen Einfluß aufgeboten, meinen Plan zu fördern!?« 232

Da näherte sich Elizabeth Hawthorn plötzlich aus dem Dunkel dem Mann am Fenster, der nur noch als schwache Silhouette sichtbar war. Sie stand vor ihm, sah ihn schweigend an und ergriff plötzlich seine Hände. Hastig, alles vergessend, stieß sie hervor:

»Sie törichter Mann, Sie großer Wisser und Denker, wie wenig verstehen Sie doch von einem Frauenherzen! Es gibt keinen Mann in diesem Lande, dem ich sagen könnte, was ich Ihnen sage, der Sie ein Riese sind im Wissen und ein hilfloses Kind in den Dingen der Welt! Versuchen Sie zu begreifen, daß eine Frau noch andere Gründe haben kann als sachliche, daß ein starkes Gefühl für den Menschen, für den Mann, der in der Sache wirkt, sie zwingen kann zu heftigem Für und Wider! – Es steht mir nicht zu, klarzulegen, welche Empfindungen Madame Chadija, die Frau mit dem großen Temperament, in ihrem Herzen trägt, nur das Eine weiß ich seit ihrem Besuch und aus dem, was ich hörte über das Zusammentreffen in Sansibar, daß diese Frau ein sehr starkes persönliches Interesse nimmt an dem Mann! Wie wenig begreifen Sie von dem, was eine Frau mit einem Blick, aus einem Wort erfährt?! Und wissen Sie, ob die schöne Chadija nicht heute schon bedauert, das Zustandekommen des gefährlichen Planes gefördert zu haben, ob sie nicht heute schon einen schweren Kampf kämpft, in dem Zuneigung zu dem Manne und Ehrgeiz, ihn zu dem gefeierten Kolumbus der Sternenräume erhoben zu sehen, miteinander ringen? Ihrem viel mehr als meinem Temperament liegt es, der Tochter des Geisterkönigs gleich, das Schiff zu zerstören, das den fremden Seemann, an dem ihr Herz hängt, wieder in die Ferne tragen soll, das ihn entführen 233 kann für immer, scheiternd an Klippen, die keine Liebe beseitigen kann!

Es ist mir nicht gelungen, Sie abzuhalten von dem Werk, das mit Ihnen, mit dem Sie untergehen werden . . . wehren Sie nicht ab! Es gibt ein Vorausfühlen im Herzen einer Frau, von dem Ihr scharfer Verstand nichts weiß! Wenn diese schrecklichen Gitterfenster sich hinter Ihnen geschlossen haben werden, wenn das stählerne Gefängnis Sie umfangen hat, wenn Ihr Gesicht hinter der häßlichen Luftmaske verschwunden ist, werde ich Sie zum letzten Male gesehen haben, und dieser Umstand allein kann es rechtfertigen, wenn ich das ungeschriebene Gesetz außer acht lasse und Ihnen sage, daß ich einen Mann kannte, dem ich mein Herz für ein ganzes Leben hätte in seine behutsamen Hände legen mögen, und daß dieser eine Mann hinauszog in grauenvolle Fernen voll geheimnisreicher Wunder und in ihnen unterging!«

Sie ließ seine Hände frei, und plötzlich warf sie sich in den Stuhl und legte weinend den blonden Kopf auf die mächtigen Atlanten der ausgestorbenen Welt, die nun ein neues Opfer forderte, forderte von ihr.

Johannes Baumgart starrte verwirrt und erregt vor sich hin. Tausend widersprechende Gefühle schwirrten durch sein Hirn. Von Frauengunst und Frauenherzen wußte er wenig. Sein Studium hatte ihm wenig Zeit dazu gelassen, und ein Hang zur Einsamkeit, zu stiller Abgeschiedenheit hatte eine gewisse Weltfremdheit in ihm erzeugt. Eines aber fühlte er stark: daß dieses Menschenkind, diese blonde Tochter des alten Hawthorn, die so viel von deutschem Wesen in ihren Adern hatte, ihm eine große und reine Liebe entgegenbrachte. 234

Er überwand seine Scheu, trat leise zu ihr, strich zart mit der Hand über den blonden Kopf.

»Ich danke Ihnen, Elizabeth, für Ihre Liebe und Ihr Vertrauen. Gehörte ich jetzt nur mir, gehörte ich nicht diesem großen Unternehmen und so eigentlich der ganzen Menschheit, ich könnte anders sprechen, als es nun meine Pflicht ist. Und nun noch eine Bitte! Schenken Sie mir außer Ihrer Neigung auch Ihr Vertrauen, fassen Sie Mut, hoffen Sie auf unsere Wiederkehr. Wenn dieser ›Stern von Afrika‹, der Ihnen so viel Angst einflößt, aus dem Wolkenmeer wieder niedergleitet auf das heimatliche Erdenrund, dann ist auch der Tag gekommen, an dem ich das Recht haben werde, Ihnen mehr zu sein als ein Freund. Und ich glaube an diese Wiederkehr! Erinnern Sie sich, daß Sie mir am ersten Abend, den ich in Ihrem Hause verlebte, jenen alten Goethe-Band auf das Zimmer legten, der aus dem Vermächtnis Ihrer Mutter stammt? Es war der ›Faust‹. Ich schlug ihn auf, ganz achtlos, und ohne zu wählen fiel mein Blick auf jene Stelle, die mir nun wie ein Symbol erscheint:

›Neige, neige,
Du Ohnegleiche,
Du Strahlenreiche,
Dein Antlitz gnädig meinem Glück!
Der früh Geliebte,
Nicht mehr Getrübte,
Er kommt zurück.« – – –«

Johannes Baumgart faßte die kleine Hand Elizabeths und drückte sie. Sanft zog er sie vom Sessel empor, und eng aneinandergeschmiegt verließen sie das in Nacht gehüllte Zimmer. 235

 


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