Bruno Hans Bürgel
Der »Stern von Afrika«
Bruno Hans Bürgel

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3.

Wenn man das »Kap der guten Hoffnung«, das der kühne Bartolomäus Diaz im Jahre 1486, von schweren Stürmen verschlagen, erreichte, den südlichsten Punkt des afrikanischen Erdteiles nennt, so trifft das streng genommen nicht zu. Kap Agulhas, das »Nadelkap«, liegt noch über vierzig Kilometer südlicher. Diese Felsenklippe ist die äußerste Spitze des großen Kontinentes, den man einst »den dunklen« nannte.

Was das Kap der guten Hoffnung auszeichnet, ist die Nähe der großen uralten Ansiedlung, die nun eine der mächtigsten Städte geworden war, die Nähe Kapstadts. Am Ende einer zerklüfteten Landzunge von kaum fünfzig Kilometern Länge, die sich spitz ins Meer hinaus erstreckt, liegt das Kap, an dem einst die Caravellen des Diaz, vom Sturm gepeitscht, vorbeitrieben, und da, wo diese Landzunge sich vom Festlande abzweigt, am Rande der halbkreisförmigen Tafelbai, dehnt sich das Häusermeer Kapstadts. Vor ihm, nach Norden zu, das weite Meer, hinter ihm die dunklen Berggipfel des Tafelberges, der Teufelsspitzen und des Löwenkopfes, liegt es selbst in einer ziemlich dürren, sandigen Niederung, nur im Süden von ausgedehnteren Waldstücken umgeben, in denen schlanke Silberbäume und breitästige Eichen neben dunklen Pinien aufragen. 59

Die prächtige Ankerbucht der Tafelbai hat diesem Fleck der Erde seine Bedeutung eingetragen. Ein warmer Seewind weht vom Meere her, und der Bergkranz im Süden hält kalte Luftströme ab, die vom Südpolarkreis heraufkommen.

An diesem ausgezeichneten Punkt der Südhalbkugel unseres Planeten hatte die englische Regierung, der früher auch dieses wie so vieles andere Land in Süd und Nord, in Ost und West untertan war, eine Sternwarte errichtet. Es war das erste Observatorium südlich des Aequators und erwies sich als durchaus notwendig, denn Kometen und andere Gestirne mußten vordem unbeobachtet bleiben, wenn sie, am Himmel weiterwandernd, den Fernrohren des Nordens entschwanden. So entstand sechs Kilometer östlich vom Mittelpunkt der Stadt, in der Ebene, unter 33 Grad 5 Minuten südlicher Breite und 18 Grad 29 Minuten östlicher Länge im Jahre 1823 die Sternwarte am Kap der guten Hoffnung unter der Direktion des vortrefflichen Astronomen Henderson.

Wichtige Arbeiten wurden hier gemacht, die Entfernung des unserer Sonne nächsten Sternes bestimmt, eine große photographische Himmelskarte entstand hier, sorgfältige Messungen über die Entfernung von Sonne und Mond wurden unternommen und ähnliches mehr. Mit mächtigen Fernrohren schiffte sich später Sir John Herschel, der berühmte Sohn des noch berühmteren William Herschel, von England nach Kapstadt ein und begann am Fuße des Tafelberges umfangreiche Durchmusterungen des südlichen Himmels, der bis dahin ja der Forschung fast unzugänglich gewesen. Immer gewaltigere Instrumente wurden im Laufe der nächsten 60 Jahrhunderte angeschafft, bis man im Jahre 2000 erkannte, daß die immer mehr wachsende Stadt die Arbeiten der Sternwarte behinderte. Da wurde denn auf dem Tafelberge selbst, in einem stillen Park von Eichen und Silberbäumen, mit einem Kostenaufwande von vielen Millionen ein aus vielen Baulichkeiten bestehendes Observatorium geschaffen, das alle anderen, auch die größten Sternwarten Amerikas, in den Schatten setzte, über die feinsten Meßinstrumente, die riesigsten Fernrohre verfügte, die die Technik der Zeit zu bauen erlaubte.

So wurde die alte Sternwarte am Kap der guten Hoffnung die größte astronomische Werkstatt der Erde, mit einem großen Stab von Astronomen und Hilfsarbeitern.

Und von hier ging denn auch eine Entdeckung aus, die für alle Erdbewohner bedeutungsvoll werden sollte, auch für die, denen sonst das wundervolle Reich der Sterne wenig zu sagen hat. –

Am 8. Juli des Jahres 2211, gegen Mitternacht, beobachtete der Astronom Adam Svendenham mit einem der Riesenfernrohre die Gegend südlich des Sternes Gamma im Sternbilde des Herkules. Eine Fülle winziger Sternlein, die dem freien Auge niemals sichtbar werden, lag im Gesichtsfelde des ungeheuren Instrumentes, durch dessen fünfundzwanzig Meter langes Rohr man bequem ein großes Weinfaß hätte hindurchgleiten lassen können. Da fiel dem Sir Adam Svendenham ein winziges Lichtwölkchen auf, das fern im Sternenraum schwebte und so lichtschwach war, daß es selbst in diesem Instrument nur mühsam gesehen werden konnte. Er durchblätterte die Himmelskataloge, studierte die Sternkarten, fand aber 61 nirgends eine Spur von jenem Lichtwölklein verzeichnet. Freilich gibt es solcher Wölkchen zu vielen Tausenden in den Tiefen des Raumes. Sie schweben in fast unmeßbaren Fernen, ferner noch als die meisten Sterne, die funkelnd den nächtlichen Himmel überziehen. Der Astronom nennt sie Nebel, doch haben sie nichts mit irdischem Nebel, der aus winzigen Wasserteilchen besteht, zu tun. Es sind vielmehr Ansammlungen von Gasen und von Staubmassen im Himmelsraume und von so gewaltiger Ausdehnung, daß das Reich der Sonne mit all ihren Planeten und Kometen dagegen zu einem Spielzeug zusammenschrumpft.

Als Svendenham am Mittag in den Bibliotheksräumen und Rechnungssälen erschien, wo eine Schar von Mathematikern am Werk war, trug er in die Himmelskarten den neugefundenen Nebel ein, meldete die Entdeckung dem Chef der Sternwarte, Sir Frederic Gill, und damit schien die an sich keineswegs erschütternde Entdeckung eines neuen Nebels erledigt. Ein Komet wäre dem ehrenwerten Svendenham ebenso wie seinem Direktor lieber gewesen. Beide ahnten damals noch nicht, eine wie wichtige Entdeckung dem berühmten alten Observatorium am Kap rein zufällig geglückt war.

Im April des Jahres 2212 war die betreffende Himmelsstelle bei Gamma im Herkules dem Fernrohr wieder zugänglich, und als Svendenham das Riesenrohr darauf richtete, erkannte er sofort, daß der Nebel ganz bedeutend seinen Ort verändert, auch erheblich an Größe gewachsen war. Er machte eine neue Photographie des ganzen Abschnittes, und diese beiden unbestechlichen Dokumente, die alte und die neue Platte, zeigten das überraschende Bild 62 eines mit ziemlicher Schnelligkeit im Weltall weiterwandernden, sich offenbar dem Sonnensystem nähernden Nebels. Man hatte vordem niemals Aehnliches gesehen. Die Astronomen der Kap-Sternwarte kamen in Aufregung, die Mitteilungen und Veröffentlichungen der Bilder in den Annalen des berühmten Institutes brachten auch die anderen Sternforscher rings auf der Erde in Bewegung, alle Fernrohre der Welt suchten den Nebel zu erfassen, alle Meßinstrumente ihn bis auf den zwanzigtausendsten Teil einer Vollmondsbreite am Himmel festzulegen, und sämtliche Apparate für Himmelsphotographie auf den Warten nördlich und südlich des Aequators traten in Aktion. Kein Zweifel, hier schwebte fern im Raum eine riesenhafte kosmische Wolke, die sich weiterbewegte, näherte. Alle anderen bekannten Nebel standen seit ihrer Entdeckung unverrückbar an ihrem alten Ort. Wohl war es möglich, daß auch sie sich bewegten, nur konnte man es nicht sehen, weil sie millionen- und abermillionenmal ferner standen als die Sonne von der Erde. Damit war zugleich aber auch bewiesen, daß dieser berühmte »Svendenhamsche Nebel«, wie man ihn getauft hatte, unverhältnismäßig nahe sein mußte, wobei man freilich immer berücksichtigen muß, daß »nahe« bei den Astronomen ein sehr seltsamer Begriff ist, die ja auch die Sonne einen sehr »nahen« Stern nennen, obgleich eine Flintenkugel rund zehn Jahre zu fliegen hätte, um von der Erde bis zu dieser strahlenden Feuerkugel zu gelangen.

Aber da machten sich nun die präzisesten Meßkünstler unter den Sternforschern ans Werk, um den Mathematikern die Unterlage zu sorgfältigen Berechnungen über die Entfernung der mysteriösen Wolke zu geben. Und 63 schließlich konnte auf Grund jahrelanger Messungen, scharfsinniger Rechnungen und Schlüsse folgendes als Endresultat auf dem Internationalen Astronomenkongreß in Buenos Aires mitgeteilt werden:

Die Svendenhamsche Nebelwolke.

Auf Grund aller Beobachtungen und Berechnungen ergeben sich folgende Daten und Werte, bezogen auf den 1. Januar 2215: Ort der Wolke am Himmel: Rektaszension 16h 10m, Deklination 18° 3' nördlich, also zwischen den Sternen Gamma und Kappa im Herkules. Die Entfernung der Wolke von Erde und Sonne muß, da die Parallaxe 20,8 Bogensekunden beträgt, zu 1 408 200 Millionen Kilometern, in runder Zahl also zu 1,4 Billionen Kilometern angesetzt werden. Sie ist demnach 9450mal weiter von uns entfernt als die Erde von der Sonne.

Die Wolke hat eine Bewegungsrichtung, die sie fast genau in gerader Linie auf unser Sonnensystem zuführt. Die spektralanalytischen Messungen nach dem Doplerschen Prinzip ergeben, daß die Annäherung an unser Sonnensystem in jeder Sekunde 105 Kilometer beträgt. Da sich nun unser eigenes Sonnensystem selbst auf den Stern Delta im Herkules zubewegt, so eilt die Sonne mit ihren Planeten auch ihrerseits der Wolke entgegen, und zwar mit der bekannten Geschwindigkeit von 21 Kilometern in der Sekunde. Demnach ist die wahre Geschwindigkeit der Wolke auf uns zu mit 84 Kilometern in der Sekunde anzusetzen.

Aus diesen Daten ergibt sich, daß nach Ablauf von 508 Jahren Wolke und Sonnensystem sich begegnen 64 müssen, vorausgesetzt, daß beide Körper ihre jetzige Richtung und Geschwindigkeit im Raume beibehalten, was für unser Sonnensystem sicher zutrifft, für die Wolke aber erst aus ferneren Beobachtungen zu ermitteln sein wird. Trifft das zu, so muß unser Sonnensystem nach 508 Jahren, also im Jahre 2723, in die Nebelwolke eindringen. –

Die Wolke ist zurzeit sehr lichtschwach und verwaschen, so daß wir nur ihre helleren Mittelpartien sehen. Diese haben einen Durchmesser von 33 Bogensekunden, also etwa einer Vollmondsbreite. Unter Zugrundelegung der oben angegebenen Entfernung würde demnach die Wolke eine Breite von rund 230 Millionen Kilometern haben. Da sich ihre Ränder aber, immer lichtschwächer werdend, im Himmelsraum verlieren, muß mit einer vier- bis fünfmal größeren Breite gerechnet werden. Sie ist auf etwa 1000 Millionen Kilometer zu veranschlagen, also mehr als das Dreifache des Durchmessers der Erdbahn um die Sonne.

Eine Reihe kleiner Lichtknoten innerhalb der Wolke, die im Raum hintereinander liegen, zeigt, daß sich die Wolke tief in den Weltenraum hineinerstreckt, daß sie langgestreckt ist und mit ihrer Schmalseite auf uns zukommt. Es scheint auch, als ob hinter der Wolke andre, vielleicht abgelöste Teile der ersten, herziehen, so daß sich die ganze Ausdehnung des Gebildes nicht ermitteln läßt und somit auch die Zeit nicht angegeben werden kann, die unser Sonnensystem gebrauchen wird, um durch die ganze Wolke hindurchzufliegen. Es kann je nach der Ausdehnung Jahrzehnte oder Jahrhunderte währen. 65

Die spektroskopischen Beobachtungen beweisen, daß die Wolke aus sehr fein verteilter Materie besteht, und zwar aus meteorischem Staub und Wasserstoffgas.

Frederic Gill, Direktor der Kap-Sternwarte.
Samuel Branvill, Direktor der Lick-Sternwarte.
Schünemann, Direktor der Sternwarte zu Hamburg.

Als diese Feststellungen in der wissenschaftlichen Welt bekannt wurden, erregten sie ungeheures Aufsehen, und noch größer war die Bewegung, als die Ergebnisse der Forschungen in tausend Zeitungen und Zeitschriften in das breite Publikum drangen.

In gelehrten und volkstümlichen Aufsätzen wurde das Thema unausgesetzt besprochen. Alle Blätter brachten Photographien des merkwürdigen Nebels, erregte Diskussionen fanden statt, ob den astronomischen Berechnungen auch absolute Genauigkeit zukäme, und vor allem erging man sich in ernsten oder phantastischen Vermutungen, welche Folgen das Eindringen des Sonnensystems, vor allem der Erde, in diese Wolke nach sich ziehen könnte.

Viele Jahre lang kämpften in der wissenschaftlichen Welt tausend Ansichten in den gelehrten Zeitschriften gegeneinander, und war man sich dort schon nicht einig, wie verworren waren erst die Meinungen, die im Publikum umliefen! Das Ende der Welt wurde vorausgesagt. Religiöse Wanderprediger griffen die Sache auf, um die Menschheit ihren Religionen zuzuführen. Das Wasserstoffgas, so sagten die einen, würde sich am Glutmeer der Sonne entzünden, alle Planeten würden in einer ungeheuren Lohe ausglühen wie Kastanien im Feuer. Der 66 Staub würde die Menschheit ersticken, die Erde meilenhoch mit einer dicken Schicht überziehen, so prophezeiten die andern. Ein schwedischer Forscher war der Ansicht, daß sich die Erde beim Durchfliegen der Staubmassen erhitzen würde wie eine Flintenkugel, die durch Sand streicht, und meinte, unser Planet könne sehr wohl dabei in Weißglut geraten. Der italienische Astronom Cangrani stellte die Hypothese auf, daß sich bei längerem Fluge durch eine solche Staubwolke, infolge des Widerstandes, den die Staubmassen der Bewegung der Erde entgegensetzen, die Schnelligkeit der Erde in ihrer Bahn um die Sonne verlangsamen dürfte. Hieraus lasse sich auf Grund der Bewegungsgesetze der Weltkörper ableiten, daß sich die Erde der Sonne in einer Spirale nähern würde und bald die Bahn der Venus erreichen müsse, wodurch eine so starke Erwärmung der Erde durch die Sonne hervorgerufen würde, daß die Menschen höchstens noch an den Polen, die dann wärmer sein müßten als jetzt Zentralafrika, zu leben vermöchten. – Eine Reihe sehr ernster Forscher aber kam zu der Ueberzeugung, daß sehr wahrscheinlich die Staubmassen das genau Umgekehrte bewirken würden. Der Staubschleier sei zu dünn, um die Bewegung der Erde merklich zu behindern, denn die feinsten Sternlein, die im Raum weit hinter der Wolke standen, schienen ungehindert durch sie hindurch. Dagegen werde der Staub einen beträchtlichen Teil der Sonnenstrahlen auffangen, vernichten und nicht zur Erde gelangen lassen. Aus diesem Grunde würde unser Planet kälter werden.

Diese Ansicht befestigte sich mehr und mehr, und die Zukunft sollte zeigen, daß hier das Richtige getroffen war. 67 Es war zuerst ein Schweizer Geologe, Anton Züßli in Bern, der darauf hinwies, daß sehr wahrscheinlich durch ein gleiches Ereignis auch jene Eiszeit hervorgerufen worden sei, die vierzig Jahrtausende früher weite Strecken der Erde vergletschert habe.

So wurde das Problem ein Jahrzehnt lang lebhaft in allen Zeitungen der Welt besprochen. Schließlich griffen es die Witzblätter auf, die die Erde als alte Dame mit erschrecktem Gesicht darstellten, begleitet von einem Mopshündchen, dem Monde. Sie eilte mit aufgespanntem Regenschirm durch eine dichte Staubwolke, die ein von schrecklichen Kleppern gezogener Karren auf unabsehbarer Landstraße erzeugte. Auf dem Wagen aber hockte der Teufel mit diabolischem Grinsen und rief ihr allerlei Sottisen zu, die andeuten sollten, daß bei solchen politischen Verhältnissen in ihrem Bereiche Madame Erde kein anderes Ende erwarten könne.

In Lustspiele, Kuplets und Gassenlieder ging der Stoff über, und endlich verdrängten andere Ereignisse das Interesse an der Wolke! »Fünfhundert Jahre noch!« – sagten die Leute – »mein Gott, das ist noch lange hin. Nach uns die Sintflut!«

In der wissenschaftlichen Welt freilich wurde die Sache anders aufgefaßt. Der Astronom muß mit großen Zahlen und langen Zeiträumen rechnen, ihn berührte es nicht, daß bis zum Eintritt des Sonnensystems in den Svendenhamschen Nebel noch fünf Jahrhunderte vergehen sollten.

Eine besondere Kommission zur Beobachtung der Wolke wurde eingesetzt. Die Sternwarten zu Kapstadt, zu Madras in Indien, zu Mailand und Potsdam, zu 68 Jokohama und Santiago de Chile, sowie das Lick-Observatorium in Kalifornien wurden mit der Ueberwachung der Wolke beauftragt.

Die Bearbeitung des ganzen Materials hatte man (eine Verbeugung der internationalen Astronomen vor der Sternwarte zu Kapstadt, wo der Nebel entdeckt worden war) den Forschern dieses Institutes anvertraut.

So lief die Zeit ihren gleichmäßigen Gang, der sich nicht um menschliche Maßstäbe und menschliche Geschichte kümmert. Fünfhundert Jahre! Wie ein flüchtiger Pulsschlag ist das im Naturgeschehen! Zehn bis zwölf Jahrtausende läßt sich menschliche Geschichte zurückverfolgen, weit hinaus noch über die Zeit, da die Babylonier ihren Turm bauten, Kulturen am Fuße des Himalaja entstanden. 800 000 Jahre wandelt der Mensch nach neueren Forschungen auf diesem Planeten, fünfundzwanzig Millionen Jahre sind vergangen seit der Zeit, da jene Wälder auf Erben grünten, deren versteinerte Reste der Mensch heute als Steinkohlen aus der Rumpelkammer der Erde hervorzieht, und ganz unvorstellbare Epochen sind vergangen seit den Tagen, da unser Planet selbst noch ein feuriger Ball war, auf dem sich langsam die starre, feste dunkle Rinde bildete.

Seit Aeonen fliegt die Erde als kleines Begleitsternlein der Sonne durch die Sternenräume, seit Jahrzehntausenden wanderte auch jene Wolke aus unmeßbaren Fernen durch das Universum, die der Zufall in die Nähe dieser dahinschwirrenden Sonne führte.

Die Zeit rollte weiter ab, Sonnensystem und Wolke eilten im Raum dahin. Auf Erden aber kamen und 69 gingen neue Generationen. Längst war Svendenham gestorben, längst ruhten die Männer, die damals die ersten Forschungen über die seltsame Nebelwolke aufgenommen hatten, unter der Erde, zu Staub zerfallen, aber nach wie vor, mit immer besseren Instrumenten und Methoden, rückte man den Rätseln des gestirnten Himmels, vor allem jener Wolke zu Leibe, und in den Archiven der Kap-Sternwarte sammelten sich die Mikrometermessungen, die Photographien, die spektroskopischen Untersuchungen, die Berechnungen zu Bergen.

Achtzig Jahre nach ihrer Entdeckung, im Winter des Jahres 2290, wurde die Wolke dem freien Auge sichtbar. Wie ein verlöschter Kreidetupfen auf dunkler Schiefertafel stand sie nahe dem Stern Gamma im Sternbilde des Herkules. Da flammte das Interesse wieder auf, und wieder beschäftigte sich die ganze Welt mit dem Svendenhamschen Nebel und mit der Frage, welche Schicksale er der Erde bereiten würde.

Es zeigte sich, daß die Daten, die damals von der Kommission herausgerechnet worden waren, im großen und ganzen stimmten. Das traf namentlich für die Entfernung der Wolke zu. Auch war über allen Zweifel erhaben, daß sie in der Tat ihre Bewegungsrichtung beibehielt, daß Sonnensystem und Wolke aufeinander zustrebten, mit der Geschwindigkeit, die schon damals richtig erkannt worden war.

Dagegen mußte man die früheren Ansichten über die Größe der Wolke stark revidieren. Sie war jetzt wesentlich deutlicher sichtbar, da die Strahlen unserer Sonne schon bis zu ihr hinüberdrangen, und so war man in der Lage, ihren Umfang besser zu erkennen. Auch tauchten immer 70 neue Knoten, Verdickungen des Nebels in der Ferne auf. Die äußersten lagen in einem Abstande, den man zu rund 8,3 Billionen Kilometern bestimmen konnte. Da sich der Kopf der Wolke aber in den 80 Jahren um 22 500 Millionen Kilometer genähert hatte und zu jener Zeit 1,38 Billionen Kilometer vom Sonnensystem entfernt war, war man genötigt, der Wolke die riesenhafte Länge von rund 6,9 Billionen Kilometern zuzusprechen. Durchflog sie das Sonnensystem in ihrer ganzen Längsausdehnung, so mußte es dazu 2500 Jahre brauchen. Die Breite der Wolke ließ sich nun ziemlich genau zu 600 000 Millionen Kilometern berechnen.

In diesen Größen hatten sich also die alten Berechner erheblich getäuscht. Sie hatten die Wolke viel zu klein gemessen, was sich einfach daraus erklärte, daß deren fernere Teile zu jener Zeit noch nicht sichtbar waren, erst bei größerer Annäherung an die Sonne beleuchtet wurden.

Sosehr diese gewaltige Größe der Wolke, diese Riesenzahlen das Staunen des Publikums hervorriefen, den Astronomen erschienen sie nicht sonderlich verblüffend, denn dem mächtigen Nebel im Sternbilde des Orion muß selbst bei vorsichtiger Schätzung die doppelte Größe zugeschrieben werden. Dennoch bemächtigte sich mancher Kreise eine stark nervöse Stimmung, was aus dem Erdenleben werden würde, wenn unser Planet wie ein vom Sturm verschlagener Schmetterling, der in zehntausend Metern Höhe durch Eisnadelwolken hindurchgepeitscht wird, 2500 Jahre lang durch diesen fürchterlichen Staubschwaden hindurchfliegen sollte.

In den ersten Jahrhunderten verging diese Stimmung zumeist schnell, weil näher liegende Sorgen die 71 Menschheit bedrückten, große staatliche Umwälzungen eintraten. Hundert Jahre vor dem Eintritt der Wolke in den daherschwirrenden Staubschleier trat aber plötzlich eine starke Panik auf, die wie eine Krankheit über die Erde zog und viel Unheil anrichtete. Der russische Astronom Michailow, von der Sternwarte zu Jekaterinoslaw, glaubte infolge eines Rechenfehlers das Eintreffen der Wolke schon für die nächsten Jahre ansetzen zu müssen, und seine Veröffentlichungen erfüllten plötzlich die Menschheit mit einer an Raserei grenzenden Angst. Wieder einmal wurde das »Ende der Welt« für die nächsten Jahre vorausgesagt, zog eine mächtige Welle des Pessimismus über die Erde, bildeten sich überall religiöse Sekten, die im letzten Augenblick noch den lieben Gott durch Selbstkasteiungen über den bisher geführten, wenig rühmlichen Lebenswandel hinwegzutäuschen suchten. Die Zahl derjenigen, die durch freiwilliges Vonsichwerfen des Lebens all den kommenden Schrecken entgehen wollten, stieg derart, daß sich die Regierungen aller Länder veranlaßt sahen, hier durch großzügige Aufklärung einzugreifen. Und das geschah denn auch in vortrefflicher Weise.

Alle Staaten ließen von hervorragenden Fachleuten eingehende, dem Verständnis der breiten Massen angepaßte Broschüren über alles, was mit der Wolke zusammenhing, in Riesenmengen herstellen und verteilen. Es wurde auseinandergesetzt, daß man wahrscheinlich in den ersten Jahrzehnten überhaupt kaum etwas von der sehr dünnen Wolke spüren würde, und daß ganz langsam, im Laufe von Jahrhunderten, eine Abkühlung der Erde zu erwarten sei, deren Folgen die fortschreitende Wissenschaft, Technik und Staatskunst zu überwinden wissen werde. 72

Aber noch mehr! In allen Schulen wurde jährlich mehrfach in dem Naturkunde-Unterricht das Thema behandelt, so daß die heranwachsenden Staatsbürger vollkommen mit der Materie vertraut waren. Alle Kinos mußten einmal im Jahre den glänzend ausgearbeiteten Film über die Svendenhamsche Nebelwolke zeigen, der die Wolke selbst, ihr Näherkommen, ihre Berührung mit der Erde, ihre durchaus nicht vernichtenden Folgen usw. äußerst geschickt darstellte.

So trat infolge dieser systematischen, immer fortgesetzten Aufklärung Beruhigung und Zuversicht ein, und überall auf Erden sah man den kommenden Zeiten ohne besondere Aufregung entgegen. –

* * *

Die ersten Spuren der herandringenden Nebelwolke wurden im Jahre 2718 beobachtet, fünf Jahre früher als die Berechnungen von Gill, Branvill und Schünemann ans dem Jahre 2215 ergeben hatten.

Im Frühjahr jenes Jahres wurden die Augen der Naturschwärmer durch prächtige Sonnenuntergänge erfreut, wie man sie sonst kaum gesehen. Das Tagesgestirn versank in einem breiten Purpurmantel. Bis in die ersten Nachtstunden hinein lag hoch hinauf zum Zenit ein zartes Rosenrot, aus dem die Sterne grünlich blinkten, wie Splitter von Smaragd. Auch braunrote und orange Schleierwölkchen schwammen zuweilen noch um Mitternacht hoch droben, und als man die Höhen dieser Wölkchen maß, zeigte es sich, daß sie 180 Kilometer über dem Erdboden schwebten, also in Höhen, die 73 niemals von gewöhnlichen Wolken erreicht werden, deren oberste man in 12 000 Metern zu suchen hat. Es konnte sich hier also nur um Staubmassen handeln, die im Aether dahinzogen und durch Beugung der Sonnenstrahlen jene wundervollen Farbenspiele erzeugten.

Zuweilen schleudern Vulkane derartige Staub- und Aschenmengen in die Luft, daß gleichartige Erscheinungen auftreten. Der ungeheure Ausbruch des Krakatoa in der Sundastraße hatte im Jahre 1883 und in den folgenden Jahren die schönsten Dämmerungsfarben und Aschenwolken erzeugt, die die Menschheit je erblickte. Es ließ sich aber schnell zeigen, daß nirgend auf Erden ein großer Feuerberg seine Pfeife angezündet, und so war kein Zweifel, daß jene Staubmassen von der erwarteten Wolke Svendenhams herrührten.

Diese selbst war am nächtlichen Himmel nicht sichtbar. Wohl war sie, langsam der Sonne näher rückend, anfangs immer heller geworden, dann aber nahm ihr Licht wieder ab, denn immer riesiger wurde ihre Ausdehnung, sie nahm schließlich fast den ganzen Himmel ein, und so verteilte sich ihr Licht über eine sehr große Fläche und trat nicht mehr sonderlich stark hervor. Nur die entfernteren Lichtkonturen und Verdichtungen in ihr waren als unregelmäßige Lichttupfen von der Größe der Mondscheibe erkennbar.

Die Wolke, die viel gefürchtete, vor der man fünf Jahrhunderte lang in wilder Angst oder in stiller Besorgnis geschwebt, sie war da! Aber sie erwies sich einstweilen als ein durchaus harmloser Besuch aus den Sternenräumen, sie säumte den Himmel mit farbigen Bändern, sie breitete einen schimmernden Purpurmantel 74 um die alte Mutter Erde, der ihr gar wohl stand und die Freude und das Entzücken der Menschen bildete, die an lauen Sommerabenden hinausströmten ins Freie, das Schauspiel recht zu genießen.

Natürlich ging man nun daran, möglichst sorgfältige Forschungen über die Zusammensetzung der Wolke anzustellen. Walfischfänger und andere Seeleute, die in das Polargebiet kamen, berichteten nach wenigen Jahren, daß dort weite Strecken des Schnees rostbraun gefärbt seien. Eine Kommission von Chemikern wurde von Skandinavien und Rußland aus in die Schneewüsten der Pole entsandt, sorgfältig wurde der Schnee gesammelt, geschmolzen, das Wasser verdampft. Es zeigte sich, daß diese Färbung vor allem durch Eisenstaub hervorgerufen wurde. Die Analyse ergab 63 Prozent Eisen, 8 Prozent Nickel, 21 Prozent Kieselsäure, 6 Prozent Kalk und Spuren von Tonerde und Magnesia. Das gleiche Ergebnis wurde gefunden, als man luftleere Glasballons in große Höhen emporsteigen ließ, die durch Luftballons bis auf 20 000 Kilometer aufwärtsgetragen wurden, sich dort automatisch öffneten und Luft und Staub einsogen. Hier zeigte die Untersuchung noch einige Prozente Wasserstoffgas. Es war somit erwiesen, daß die Staubwolke aus genau denselben Stoffen bestand wie die Sternschnuppen und Meteore, die ja täglich in großer Zahl, aus dem Weltenraum kommend, in unsere Erdatmosphäre eindringen, auch wohl gelegentlich als größere Stein- und Nickeleisenmassen zur Oberfläche unseres Planeten niederfallen. –

Die Wolke selbst war nun, da sich die Erde in ihr dahinbewegte, nicht mehr sichtbar. Abgesehen von einem 75 zarten Leuchten des nächtlichen Himmels, das aber nur geübten Augen auffiel, und den Dämmerungsfarben, die der Staub erzeugte, war nichts Auffälliges zu entdecken. Aber offenbar war die Wolke nicht überall gleich dicht, denn nach einigen Jahrzehnten trat einmal während zweier Monate eine deutliche Verschleierung der Sonne ein. Ein flimmernder Schein umgab sie, und ihr Licht war merkwürdig trübe. Derartige Vorkommnisse schufen naturgemäß immer eine gewisse Besorgnis, aber sie gingen vorüber, wenn sie sich auch alle paar Jahre mehr oder weniger stark wiederholten.

Ganz ohne Zweifel war aber eine durch sehr viele Messungen festgestellte geringe Abnahme der Sonnenstrahlung, und sehr bald zeigten die sich auf viele Jahre erstreckenden Beobachtungen aller Wetterstationen ein schwaches, aber unverkennbares Sinken der mittleren Jahrestemperatur. Diese hatte für Europa jahrtausendelang 13 Grad Wärme betragen. Zehn Jahre nach dem Eintritt in die Wolke war sie bereits auf 11,5 Grad gesunken, und sie ging sehr langsam, aber doch meßbar weiter abwärts.

Noch stärker trat eine Zunahme der Niederschläge hervor. In den nördlichen und südlichen Breiten waren langanhaltende Nebel, die besonders die Schiffahrt behinderten, zur Gewohnheit geworden. Man wußte seit langem, daß dieser Nebel nur entsteht, wo sehr feine Staubteilchen in großen Massen in der Luft schweben, die mit Wasserdampf reich durchsetzt ist. Der berüchtigte Londoner Nebel verdankt seine Entstehung den großen Mengen winziger Kohleteilchen, die durch die unzähligen Fabrikschlote, die vielen Lokomotiven in die Luft gespien 76 werden, die vom nahen Meere her immer viel Wasserdampf in sich aufnimmt. Aber auch die Regentropfen und Schneesternchen bedürfen zu ihrer Bildung dieser »Kondensationskerne« des Staubes. Kein Wunder also, daß jetzt, wo die ganze Lufthülle der Erde mit Staub durchsetzt war, Regen und Schnee zunehmen mußten.

Da es langsam kälter wurde, überwog im Norden und Süden des Erdballes und in den hoch gelegenen Gebirgsgegenden der Schnee. Er wurde nicht mehr in so reichem Maße wie früher von der Sonne abgeschmolzen, türmte sich zu mächtigen Bergen auf den Höhen, verdichtete sich durch den eigenen Druck zu Eis. Naturgemäß konnte dieses Eis nicht in den Himmel wachsen, es schob sich von den Höhen talwärts in den mächtigen Eisströmen, die wir Gletscher nennen. So wanderten die Gletscher immer weiter südwärts von Norden her und strebten vom Südpolarkreis äquatorwärts. Im Meer wurden die von den Polargebieten kommenden Eisberge immer zahlreicher und größer; schwere Seeunfälle zwangen zu äußerster Vorsicht beim Befahren der Meere, und langsam erwies es sich so im Laufe der Jahrhunderte, daß die Svendenhamsche Wolke, die anfangs so harmlos erschienen, eine schwere Bedrohung für das Leben der Menschen war. Das trat besonders deutlich zutage, als Skandinavien und andere nördliche Teile der Erde infolge der zunehmenden Vergletscherung unbewohnbar wurden oder doch nur in dem Sinne eine Heimstätte boten, daß dort Jäger und Nomadenvölker sich halten konnten. Nördliche Städte von einst großer Kultur und Bedeutung wurden geräumt, die Menschen zogen südwärts. 77

Auch die Ernteerträgnisse gingen in Europa, Nordasien, dem Norden Amerikas zurück, bis schließlich die Lage weiter Ländermassen eine so prekäre wurde, daß nur eine gemeinsame Aktion aller Bewohner, aller Staaten der Erde größtes Unheil abwenden konnte.

Die Wolke war da, man flog mit tausendfacher Schnellzugsgeschwindigkeit seit Jahrhunderten durch ihre Staubmassen und sollte nach den Berechnungen der Astronomen noch jahrtausendelang in diesem Zustande verharren! – – – –

Wie würde das Ende sein? – – – –

* * *

Seit zwanzig Minuten stand Benjamin Graachten unbeweglich in der undurchdringlichen Finsternis des mächtigen eisernen Domes. Selbst den winzigen Feuerschein seiner Zigarette umhüllte er mit der hohlen Hand, denn er wußte, diese Astronomen, insbesondere aber der alte Rawlinson, konnten schrecklich böse werden, wenn ein unberufener Lichtstrahl in ihre die Tiefen des Universums durchspähenden Augen drang, sie blendete, störte, ablenkte.

Der berühmte Journalist und Hauptschriftleiter des »African Herald« trippelte von einem Fuß auf den andern, lehnte sich gegen den eisernen Pfosten und erschauerte, wenn durch den offenen Kuppelspalt ein Windstoß drang.

Man sah nur einen kaum erkennbaren breiten Lichtstreifen, bestickt mit Sternen, ein Stück des Nachthimmels, den der Spalt in der Kuppel, durch den das ungeheure 78 Fernrohr hinausschaute in den Weltenraum, freigab. Dieses selbst hob sich nur als schwache Silhouette von jenem Lichtstreif ab. Drunten aber versank alles in düsterste Nacht.

»Ein paar Minuten noch, Graachten, Sie sind gleich erlöst!«

»Lassen Sie sich nicht stören, sonst sind Sie nachher doppelt unliebenswürdig!«

Vom Fernrohr her klang ein unverständliches Brummen.

Benjamin Graachten zündete sich mit größter Vorsicht, indem er mit dem Kopf fast ganz in die weiten Falten seines Mantels kroch, an dem glimmenden Fünkchen seiner alten eine neue Zigarette an.

Dann lauschte er auf die Geräusche, die aus dem Dunkel zu ihm drangen.

Hinter ihm, in dem Uhrensaal, tickte ohn' Unterlaß mit unermüdlicher Gleichmäßigkeit die mächtige Sekundenpendeluhr, die im Monat kaum um eine Zehntelsekunde von der wahren Zeit abwich. Dazwischen rasselte der Magnethebel des Chronographen, der die Zeitsignale des Mannes am Fernrohr auf einen abrollenden Papierstreifen notierte, und vom Fernrohr her summte wie eine zarte Musik der Motor des elektrischen Uhrwerkes, der das mächtige Instrument dem Laufe der Sterne nachführte.

»So, Herr Graachten, ich bin am Ende mit meiner Messung, und da Sie mich nun einmal mitten in der Nacht hier auf der einsamen Höhe des Tafelberges überfallen haben, so will ich Ihnen auch etwas Interessantes zeigen. Kommen Sie näher, und schauen Sie einmal durch das Glas!« 79

»Verehrter Herr Rawlinson, das sagen Sie so leicht hin! Ich sehe weder Ihre berühmte Person, noch das Fernrohrende in dieser fabelhaften Dunkelheit!«

»Ja, mein Bester, Licht kann ich nicht machen, sonst kann Ihr Auge nachher nichts mehr erkennen. Kommen Sie nur vorsichtig hierher, wo Sie meine Stimme hören. Ich werde Sie dann schon weiterdirigieren!«

Benjamin Graachten tappte sich mit vorgestreckten Händen vorwärts und erwischte endlich die Hand des berühmten Astronomen.

»So! Nun drücken Sie sich hier in den Sessel! Vorsicht! Dicht über Ihrem Gesicht ist das Okularglas. Tasten Sie mal hierher! Richtig! Nun schauen Sie hinein!«

»Ich sehe nichts als ein paar ganz winzige Sternlein!«

»Links von diesen müssen Sie einen matten Lichtschimmer erkennen!«

»Keine Spur!«

»Ja, bester Freund, wenn es so einfach wäre! Schauen Sie einmal angestrengt mit Ihren berühmten Journalistenaugen, die in die verborgensten Dinge einzudringen gewöhnt sind, auf diese Stelle neben den Sternen!«

»Tausend Teufel, ich sehe nicht die Spur einer Spur und bin erstaunt, daß man durch Ihre riesige Himmelskanone so wenig sehen kann!«

»Das kommt ganz darauf an, worauf sie gerichtet ist! Schwebte jetzt der Mond vor Ihnen im Glase, so sähen Sie selbst das Geröll an den Felsenwänden seiner Ringgebirge. Hier aber handelt es sich um ein sehr schwieriges Objekt, nämlich um die letzten Ausläufer der Nebelwolke. Ein zartes Lichtwölkchen muß Ihnen da erkennbar werden!« 80

»Halt! Ich habe es. Ja, ein spindelförmiges zartes Lichtstreifchen!«

»Richtig!«

»Und das ist das alleräußerste Ende dieser vermaledeiten Wolke, die uns alle in den Orkus führt?«

»So ist es. Wenn unser Sonnensystem diese Stelle erreicht hat, ist die Eiszeit zu Ende, vielmehr, ihr Ende beginnt alsdann!«

»Und wann werden wir so weit sein?«

»Nach meinen neuesten Berechnungen im Jahre 5236, also nach 2236 Jahren, da wir jetzt das Jahr 3000 schreiben!«

»Lieber Gott, bester Herr Rawlinson, Sie rechnen ja immer längere Zeiten heraus!«

»Ja, mein verehrter Herr Graachten, wenn es Ihnen zu lange dauert, so halten Sie es mit meinem ewigen Widersacher Abdul Ben-Haffa von der Sternwarte zu Kairo, der nur noch 2012 Jahre dafür herausrechnet. Wie er dazu kommt, ist mir unklar!«

»Auf die paar Jahre weniger lege ich nun auch keinen Wert, und schon aus Lokalpatriotismus schwöre ich zu Ihrer Zahl!«

Der alte Rawlinson lachte. »Vortrefflich, ich danke Ihnen!«

»Bitte! Was tut man nicht für seine Vaterstadt im Interesse der Wissenschaft. Ihren Konkurrenten, den Abdul Ben-Haffa soll der Teufel holen!«

»Sprechen Sie mir nicht von ihm. Es ist das einzige, was mich erregen kann. Er macht den Versuch, mich meines wohl erworbenen Rufes als ersten Astronomen dieses Landes zu berauben, er kann offenbar meinen Tod 81 nicht abwarten, und mein fast siebzigjähriges Herz nimmt allerdings allein schon durch Erwähnung des Namens dieses Mannes Schaden.«

»Er selbst soll weit weniger tüchtig sein als sein Assistent, Herr Voorthuizen, der einer uralten holländischen Gelehrtenfamilie entstammt.«

Rawlinson knurrte irgend etwas in seinen Patriarchenbart. »Wenn Sie gestatten, mache ich jetzt Licht, und wir suchen uns einen wärmeren Ort für unsere Unterredung als diese zugige Kuppel!«

»Bitte sehr, ich bin jetzt schon halb erstarrt. Daß Sie in Ihrem Alter hier stundenlang im Beobachtungssessel liegen können, ist erstaunlich.«

»Ja, mein Bester, Sternwarten kann man nun mal nicht heizen!«

Die elektrischen Lampen glühten auf.

Nun erst konnte Benjamin Graachten um sich sehen. Er lag in dem bequemen Sessel mehr als er saß, und über ihm ragte das ungeheure Rohr fünfundzwanzig Meter lang zum Scheitelpunkt des riesigen eisernen Domes auf. Ein Gewirr von kleineren Fernrohren, Stangen, Kontergewichten, Hebeln und Kreisen blinkerte im Licht der Lampen.

»Heiliger Chinchinchindra von Kalkutta! Da liege ich nun unter diesem Ungetüm, wie die Ameise unter dem Stiefel des Wanderers. Wenn sich jetzt die Verschraubung da oben an der stählernen Achse löste . . .«

»Dann hätte der ›African Herald‹ seinen Kopf verloren!«

»Wird Ihnen nicht bange, wenn Sie so stundenlang unter diesem Ding liegen? Es hat doch ein enormes Gewicht!« 82

»Gut fünfzehnhundert Zentner. Die große Linse wiegt allein deren drei. Aber seien Sie ohne Sorge, diese stählernen Achsen von der Stärke einer vielhundertjährigen Eiche halten den mächtigen Operngucker unerschütterlich fest.«

»Wissen Sie auch, daß Ihr Konkurrent zu Kairo ein neues Instrument von ganz unerhörten Dimensionen herstellen soll, ein Fernrohr von ganz neuer Art, wie es bisher nirgends und zu keiner Zeit existiert hat?«

»Man munkelt davon!«

»Wie groß ist doch die Linse Ihres Riesen hier?«

»Anderthalb Meter!«

»Nun, jenes Instrument wird einen Spiegel von vier Metern Durchmesser haben!«

»Ha, ich muß lachen. Das ist eine Unmöglichkeit!«

»Bester Herr Rawlinson, man ist schon dabei, und alles wird sehr geheimnisvoll betrieben. Das Instrument ist eine ganz neue Erfindung und wird alle Welt überraschen. Die Idee stammt von Voorthuizen, und die Ingenieure sagen, sie wäre überraschend originell und wohl ausführbar.«

»Und ich glaube nicht daran,« knurrte der Alte mürrisch.

Rawlinson, den sein Gegner und Fachkollege Abdul Ben-Haffa eine gekränkte, zu alt gewordene Primadonna nannte, schlurfte, eingehüllt in seinen Pelz, mit seinen warmen Tuchstiefeln zum Mechanismus, der den Beobachtungsspalt schloß, und kreischend schob sich der vor die breite Oeffnung. Der Alte hatte einen interessanten Charakterkopf. Eine weiße Haarmähne umflatterte das mächtige Haupt, und ein langwallender Patriarchenbart 83 floß schneeig nieder auf den dunklen Pelz. Brummend schritt er mit seinem Gast durch den Uhrenraum, hinunter in das wohldurchwärmte Arbeitszimmer.

»Machen Sie es sich bequem, Herr Graachten. Hier sind Zigaretten, dort Tee und Rotwein, bedienen Sie sich nach Geschmack. Und nun lassen Sie uns niedersitzen und erzählen Sie, was Sie mitten in der Nacht auf den Tafelberg getrieben hat!«

»Vielen Dank! Es ist schon spät, und so will ich mich kurz fassen. Kennen Sie einen deutschen Gelehrten mit Namen Johannes Baumgart?«

»Baumgart? Johannes Baumgart! Mir ist, als hätte ich den Namen gehört. Baumgart! Halt, ja! Ein mehrbändiges Werk des Mannes hat vor längerer Zeit viel von sich reden gemacht. Ich kenne allerdings nur Teile davon. Jedenfalls also ein in der wissenschaftlichen Welt nicht unbekannter Mann!«

»Also doch wohl eine ernstzunehmende Persönlichkeit?«

»Ohne Zweifel!«

»Nun sagen Sie mir, hochverehrter Herr Rawlinson, glauben Sie, daß man nach dem Monde fliegen könnte?«

»Aber bester Herr Graachten, Sie sind doch offenbar nicht auf den Tafelberg gestiegen, noch dazu um Mitternacht, um mit mir Märchen auszutüfteln. Der gute Jules Verne ist mehr als tausend Jahre tot, und der Franzose Bourquin, der vor mehr als 250 Jahren tatsächlich nach dem Monde fahren wollte . . .«

»Ist aus großer Höhe heruntergestürzt und spurlos im Meer verschwunden. Es ist mir bekannt. Aber dieser deutsche Gelehrte will mit besseren Mitteln den Versuch des Franzosen wiederholen!« 84

»Dieser Baumgart?«

»So ist es!«

»Nun, es ist eine Phantasterei, ein unmögliches Unternehmen, und es wird dadurch nicht besser, daß es ein gelehrter Mann ist, in dessen Gehirn diese seltsame Gedankenblase aufstieg!«

»Nun, seit dem Versuche Bourquins sind immerhin 250 Jahre vergangen, wir haben Fortschritte gemacht . . .«

»Aber der Weltenraum ist luftleer geblieben!«

»Wie meinen Sie das?«

»Mein lieber Graachten, Sie geben doch zu, daß ein Fisch auf dem Lande oder in der Luft nicht schwimmen kann, ebensowenig wie ein Vogel im luftleeren Raum zu fliegen vermag, weil eben das Medium nicht da ist, auf dem seine Schwingen dahingleiten!«

»Ohne Zweifel!«

»Ja, dann müssen Sie doch auch einsehen, daß keines unserer Flugzeuge im luftleeren Raum vorwärts kommt, denn der Weltenraum ist eben luftleer wie eine Glaskugel, die ich unter der Luftpumpe ihres Inhaltes beraube. Sehen Sie, in 7000 Metern Höhe ist die Luft schon so dünn, daß sie unseren Atmungsorganen nicht mehr genügt, und in achtzig Kilometern Entfernung vom Erdboden sind nur noch geringe Spuren des gasigen Elementes vorhanden, die nicht den zartesten Schmetterling mehr zu tragen vermöchten. Noch weiter hinaus gibt es keinen Hauch von Luft mehr. Ein jedes Flugzeug würde wie ein Stein aus diesem luftleeren Raum zur Erde niederstürzen. Die Propeller entbehren dort des Mediums, in dem sie sich vorwärtsschrauben, die Tragflächen finden nichts, das sie trägt. Ist Ihnen das klar?« 85

»Es scheint mir wohl, daß Sie recht haben, Herr Rawlinson. Aber verlassen wir einmal diese Frage und kommen wir zu der andern! Glauben Sie, daß der Mond bewohnt ist?«

»Lieber Herr Graachten, Sie sind heute köstlich! Es kann gar kein Zweifel sein, daß er nicht bewohnt ist, denn weder Luft noch Wasser sind dort mehr vorhanden!«

»Sie wissen, daß Ihr Gegner auf der Sternwarte zu Kairo anderer Ansicht ist und letzthin deutlich Spuren einer geringen Lufthülle und vor allem Eis oder Reif dort entdeckt haben will, der bei Sonnenaufgang seine Nebel in den großen Ringwällen der Krater des Mondes erzeugt!«

»Dieser Ben-Haffa ist in allem und jedem mein Gegner, und wenn ich heute behaupten würde, der Mond sei bewohnt, würde er morgen sagen, er sei es nicht!«

»Das Riesen-Fernrohr, das dort gebaut wird, soll all diese Streitigkeiten klären helfen.«

»Nur zu!« Der alte Rawlinson schlug unwillig mit der Hand auf den Bücherstapel vor ihm.

»Glauben Sie, daß der Mond früher einmal bewohnt war?«

»Das möchte ich ebenfalls bezweifeln, denn die geringsten Spuren einer menschlichen Tätigkeit könnten unseren großen Teleskopen nicht entgangen sein. Nichts Derartiges ist bis heute entdeckt worden, wenn auch einige Gebilde verdächtig aussehen mögen. – Aber auch aus anderen Gründen zweifle ich daran, daß sich auf dem Monde überhaupt je ein höher entwickeltes Geschlecht ausbilden konnte. Die Zeit reichte dazu nicht aus, der Mond starb gewissermaßen zu früh, verlor zu schnell seine 86 Lufthülle. Auf Erden dauerte es unzählige Jahrmillionen, bis die Natur zur Erzeugung des Menschen reif war; diese langen Zeitspannen standen der kurzlebigen Mondwelt nicht zur Verfügung!«

»Dieser Herr Baumgart ist anderer Ansicht und will dort hinauf, um die Erfahrungen der Mondmenschen für die Erdbewohner nutzbar zu machen!«

»Welch eine Idee!«

»Näheres darüber werden Sie morgen ausführlich in meinem Blatte lesen, und ich will Ihnen nur verraten daß dieser Deutsche die Erfahrungen der Mondbewohner mit einer erkaltenden Weltkugel verwenden will, um uns über die Eiszeit hinwegzuhelfen!«

»Eine schnurrige Idee, in der Tat!«

»Er wird die Unterstützung der Regierung bei diesem Plan erbitten!«

»Nun, ich werde sie warnen, solchen Träumen nachzugeben! Erstens wird die Fahrt mißglücken; aber das ist eine Angelegenheit der Ingenieure und Techniker und geht mich nichts an. Zweitens war der Mond nicht bewohnt und ist es nicht. Es gibt da keine Erfahrungen zu sammeln! Drittens aber kann sich niemand dort oben aufhalten, selbst wenn es ihm gelänge, unsere Nachbarwelt zu erreichen! Ich denke, das genügt, um unsere Regierung davon abzubringen, Menschenleben, von Geld und Kraft ganz zu schweigen, an ein solches Unternehmen zu wagen!«

»Wollen Sie mir erlauben, diese Ihre Ansicht morgen in einem kleinen Nachwort zu den Baumgartschen Plänen zum Ausdruck zu bringen?«

»Ich bitte sogar darum!« 87

»Vielen Dank, Herr Rawlinson! Und nun will ich Sie nicht länger der Nachtruhe berauben, wenn man bei einem Astronomen überhaupt von Nachtruhe sprechen kann!«

»Schon gut! Leben Sie wohl! Und noch eins . . . wenn Sie irgend etwas Neues erfahren über die Pläne der Herren in Kairo, über das große Teleskop und so weiter, bitte unterrichten Sie mich. Man ist doch neugierig, Sie verstehen! –«

Benjamin Graachten verstand! Er empfahl sich und schritt durch die Dunkelheit, durch den weiten Park der Sternwarte, in deren Kuppeln da und dort noch gearbeitet wurde. »Dieser Alte ist tatsächlich ein wenig überlebt und voll Eifersucht auf alles, was nicht seiner eigenen Himmelsfabrik entstammt.« So urteilte der Herausgeber des »African Herald«, als er im elektrischen Aufzug von der Höhe des Tafelberges niederglitt, an dessen Fuß sein Schnellwagen ihn erwartete. »Ich werde mich hüten, meine Zeitung auf die ablehnende Haltung dieses Rawlinson festzunageln. Man kann nicht wissen, wie die Dinge sich entwickeln, und auf alle Fälle ist es ein sensationeller Stoff, der meine Leser in Atem hält. Einstweilen werde ich beide Eisen im Feuer glühen lassen!«

Er zündete sich eine Zigarette an und fuhr verschmitzt lächelnd der Stadt zu. Eine Stunde später hatte er schon das Interview mit Rawlinson diktiert, und noch eine Stunde später brauste der Unermüdliche bereits mit dem Flugzeug vom Dache des »Herald« gen Sansibar. – 88

 


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