Bruno Hans Bürgel
Der »Stern von Afrika«
Bruno Hans Bürgel

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7.

Die Redaktion des »African Herald« hatte heute ihren großen Tag. Das zehnstöckige Gebäude mit dem weithin glänzenden Wappen der Republik und den riesenhaften leuchtenden Buchstaben war aus weißen Kacheln erbaut und glitzerte in der Sonne wie ein See geschmolzenen Stahles, der einer Bessemerbirne entflossen. Unausgesetzt schwirrte ein Schwarm von Menschen ein und aus in diesem großen Bienenstock, in dem die mächtigen Lichtdruckmaschinen summten, die Luft in den Rohrpostleitungen zischte, die Apparate für drahtlose Telegraphie klapperten, im Ferntelephon die Stimmen mit wichtigen Meldungen durcheinander schnarrten.

Benjamin Graachten selbst war in Sansibar und hatte von dort her seit Sonnenaufgang schon ein halbes Dutzend »Eindrücke« herübertelephoniert. Man war keinen Augenblick vor dem Marabu sicher! Sobel, sein Vertreter, raufte sich die Haare und schwirrte mit flatternden Rockschößen hierhin und dorthin. Soeben stand er in den Fernsprechräumen, wo lange Phonographenwalzen die Gespräche selbsttätig aufschrieben, die »Eindrücke« Graachtens und die Reden des Präsidenten, der Minister, der Abgeordneten fern im Parlament zu Sansibar, die das Ferntelephon bis hierher trug, in Wachs eingruben. Die Walzen wanderten dann per Rohrpost in die 163 Setzersäle, wo die Reden auferstanden und in Druckschrift umgewandelt wurden.

»Rede des Präsidenten, zweite Walze,« notierte die junge Dame am Anfang einer Wachstrommel, öffnete den Rohrpostkasten zum Setzersaal vier, und zischend glitt das runde Ding in die Tiefe.

»Wieviel im ganzen?« fragte Sobel.

»Dreiundzwanzig Walzen bis jetzt!«

»Ist der Bericht von Ismail Tschack oder vielmehr von seinem Sekretär Hamaidan schon eingetroffen?«

»Noch nicht!«

»Höchste Zeit,« sagte Sobel, strich mit dem Tuch über die perlende Stirn und flatterte davon. Wenige Sekunden später tauchte er im Saal für Fernphotographie auf. Durch ein Netz von Drähten kamen vier elektrische Stromschwankungen an, die ursprünglich am fernen Aufnahmeort einmal Licht gewesen waren und durch Selenzellen in Ströme von verschiedener Stärke umgewandelt wurden, entsprechend der Form und Helligkeit der Vorgänge und Bilder dort in der Ferne.

Hier führten diese Drähte zu einer riesigen Milchglastafel, hinter der Tausende von winzigen Glühlämpchen brannten, gespeist von dem Strom, der in den Drähten aus der Ferne mit Gedankenschnelle heranschwirrte. Jedes dieser Lämpchen beleuchtete ein winziges Feld der weißen Tafel, es erlosch, glühte schwach, stärker, hellweiß, je nach der Helligkeit der Bilder und Figuren, die am Aufnahmeort in Sansibar oder sonstwo vor dem Selenapparat. vorüberzogen. So entstand auf der Tafel, die im dunklen Raum eine ganze Wand füllte, ein Gewirr von immer wechselnden, hellen, schwachschimmernden, leuchtenden, 164 dunklen Fleckchen, die in ihrer Gesamtheit genau dasselbe Bild gaben, das da in der Ferne das tote Auge des Selenapparates sah.

Unablässig photographierte ein Kinoapparat die weiße Wand. Bild um Bild entstand und wanderte in die Bilder-Redaktion, war wenige Minuten später bereits im Lichtdrucksaal und nach einigen Stunden schon gedruckt in den Händen des Publikums, früher oft als am Orte des Ereignisses selbst, und wenn er am andern Ende des Weltteils lag.

Sobel kniff seine kurzsichtigen Augen zusammen und fixierte die weiße Wand. Das Bild war nur schwach und im allgemeinen dunkel. Es war das Innere des Parlamentes, die Rednertribüne. Man sah eine schöne Frau mit energischen Gesten das gesprochene Wort über die Menge hinwegschleudern. Sie schwenkte ein Zeitungsblatt, wie es schien, doch war Genaues nicht erkennbar. Weiter hinten sah man unbeweglich Cornelius van Zuylen auf seinem hohen Stuhl thronen, sein weißes Haupt war der hellste Fleck im Bilde.

»Sind die Bilder von der Auffahrt des Präsidenten und der Abgeordneten schon in der Bildabteilung?«

»Seit einer halben Stunde!«

»Gut! Ein Bild von der Chadija Effrem dabei und gut geraten?«

»Ausgezeichnet! Sie stand lange am Fuß der Treppe im Gespräch mit einer Dame. Auch das Bild des Präsidenten ist besonders schön. In Sansibar muß helle Sonne sein, alles klar und mit viel Kontrast wegen der scharfen Schatten!«

»Vortrefflich! Sahen Sie auch Herrn Graachten?« 165

»Er kam ziemlich spät mit dem Sekretär Hamaidan und war ausgezeichnet auf der Treppe sichtbar. Er sah den Aufnahmeapparat stehen und drehte sich extra um, zog den Hut nach dem Bilde hin. Da schaltete die Telegraphenverwaltung den Apparat über das Parlamentsinnere, und wir konnten ihn nicht mehr aufnehmen. Er wird schön böse sein, denn ein wenig eitel ist er nun einmal, das werden Sie nicht leugnen, Herr Sobel!«

Der lachte, fuhr durch die Haare und flatterte schon wieder weiter. Er war kaum in seinem Zimmer angekommen und erschöpft in seinen Sessel gesunken, als Graachtens Stimme von Sansibar her durch den Raum tönte!

»Sobel! Soooo–beeeeel!! Ah, guten Tag zum vierten Male! Denken Sie, Sobel, großer Tag! Gewaltige Sensation des Parlamentes! Die Chadija hat unsern Mondartikel, Sie wissen, von diesem Baumgart, den Ministern unter die Nase gehalten! Sobel, Mensch, der ›African Herald‹ besser informiert als die Regierung bei der großen Eröffnung! Muß sofort in die Mittagsnummer. Haben Sie's? Schön! Haben Sie gehört, eine Milliarde Franken für einen guten Gedanken! Das als Stichwort, oben am Kopf! Ich muß fort, Sobel, die Regierung bittet um nähere Informationen über den phänomenalen Deutschen und will die Adresse wissen! Auf Wiedersehen, Sobel!«

Der Geplagte flatterte aufs neue fort, um einem der Redakteure die neuesten Tips zu geben.

Flugzeuge landeten auf dem mächtigen Dach des »Herald«, Boten kamen, gingen, Schnellfahrer fauchten durch die Straßen, Zeichner, Dichter, Reporter, 166 Abgeordnete, die irgendein Umstand zurückgehalten, holten sich die ersten Informationen, und immer aufs neue Bilder, Fernsprüche, drahtlose Nachrichten, Berichte, Eindrücke, Sensationen, Reden, bis endlich die letzte Sekunde da war und der Druck der Zeitung unwiderruflich alle neuen Nachrichten auf die Nachmittagsausgabe verweisen mußte.

Da warf sich Sobel, wie er war, auf sein Ruhebett, schaltete alle Apparate ab und schlief wie ein Lastträger. Seine Unterredakteure folgten ihm nach. In Hemdärmeln fuhren sie hinauf zum Dachgarten, warfen sich in die Liegestühle, rauchten ihre Zigaretten und verwünschten alle Leitungsdrähte, die über ihren Köpfen dahinzitterten im Sonnenlicht. Eine Stunde hatten sie Ruhe, eine Stunde brauste kein Strom durch ihre eigenen Leitungsdrähte, die Nerven, fuhr nicht in ihre Gehirnkammer ein neues Lichtbild aus der Ferne. Sie lagen in der Sonne und träumten vor sich hin.

Aber nun rasselte und stöhnte, summte und klapperte es in den mächtigen Drucksälen! In drei Millionen Exemplaren sollte das Blatt hinausschwirren in die Welt, und schon stand drunten in der Nebenstraße eine kleine Armee von jungen und alten Burschen, weißen und schwarzen, und wartete, bis aus den Elevatoren automatisch die Hundertbündel herausflossen, wie Wasser aus dem Leitungshahn! Und dann brauste die Meute wie der Sturmwind durch die Straßen, auf die Plätze, in die Bahnen, in Häuser, Kontore, Fabriken, Läden, Restaurants. Flugzeuge schleppten Lasten um Lasten in die Ferne, warfen sie auf den bestimmten Plätzen vor den Städten ab, kehrten zurück, schlugen eine neue Route ein. 167 Elektrische Schnellbahnen führten sie in eigenen »Herald«-Packwagen hinaus ins Weite, bis an die stillen Seen, bis in die Einsamkeit der Urwälder, bis zu den Viehweiden in der Ebene, zu den zerklüfteten Schluchten der Bergwerksgebiete. Ein Ozean von Papier ergoß sich über den Erdteil, und Schiffe sorgten dafür, daß auch auf anderen Kontinenten das größte Blatt der afrikanischen Kulturwelt nicht ausblieb. –

* * *

Als die erste Nummer des Blattes in der Villa Hawthorns eintraf, wo die drei Herren wieder im eifrigen Gespräch beieinander saßen, gab es eine Sensation. Der Direktor der Usambaranitwerke überflog das noch feuchte Blatt. In riesigen Buchstaben leuchtete es ihm entgegen:

Die große Sitzung des Zentralrates in Sansibar. – Die Rede Seiner Hohen Ehren des Präsidenten. – Gruß des Präsidenten von Europa – Einwanderung von zwanzig Millionen Europäern – Eine Milliarde Franken für einen guten Gedanken. – Madame Effrem-Latour tritt für den gestern im African Herald veröffentlichten Plan des deutschen Forschers ein. – Expedition zum Monde. – Die Regierung ist bereit, den Gedanken zu erörtern. – Stimmungsbilder aus Sansibar. – Sintflutartige Regengüsse und dauernde Schneefälle in Europa.

»Meine Herren,« sagte Hawthorn freudig erregt, »diese nichtsnutzige Indiskretion hat doch einen Nutzen gehabt! Denken Sie, in der großen Sitzung des Zentralrates hat man sich bereits mit unserer Frage beschäftigt, und die 168 temperamentvolle Staatsrätin Effrem-Latour hat schon eine Lanze für Sie gebrochen, Herr Baumgart! Da kann man gratulieren; die schöne Chadija ist ein kapriziöses und geistvolles Frauenzimmer. Lassen Sie uns hören, was da in Sansibar vorgegangen ist, derweile wir hier gestern die technische Seite des Problems zergliederten!«

Er entfaltete das Blatt und verlas den fast wörtlichen Bericht der denkwürdigen Sitzung.

Gespannt hörte Johannes Baumgart zu. Wie sonderbar, daß ausgerechnet ein weibliches Wesen, ein Kind des Wüstenlandes, der erste Mensch war, der öffentlich in der großen Welt für seinen Gedanken eintrat, eine Frau, die ihn nicht kannte, von der er nichts wußte. Das dröhnende Lachen Standertons über das amüsante Wortgeplänkel der Staatsrätin mit Sir Archibald Plug weckte ihn aus seinem Sinnen.

»Dieser Plug ist ein köstlicher Kerl! Er ist imstande, sein Wort wahr zu machen und sich mit uns einzuschiffen nach dem Monde. Und er wäre der schlechteste nicht. Ein alter erprobter Seebär. Das gäbe einen guten Führer und Ersatzmann für mich. Er war einer der ersten, der mit mir die Granate auf langer Fahrt über die See erprobte, und er zeigte viel Verständnis für ihre Steuerung.«

Hawthorn legte das Blatt nieder. »Hier können Sie Ihre Patronin im Bilde sehen. Eine gefährliche Schönheit, jung und geschmeidig wie eine Wüstenkatze, aber wohl nicht minder schwierig zu behandeln!«

Der Deutsche blickte auf das Bild. Er hatte eine ältere gesetzte Frau in der Staatsrätin vermutet und sah nun das Porträt einer eleganten jungen Schönheit mit rassigen Zügen, klugen, brennenden Augen. Hätte er geahnt, daß 169 er dieser Frau in wenigen Stunden gegenüberstehen sollte, es hätte ihn verwirrt und unruhig gemacht. – Er verfiel in Sinnen. In diesem Augenblick mußte die Regierung in Sansibar bereits im Besitze seines Telegrammes sein, das die Veröffentlichung seiner Pläne im »African Herald« als eine auf noch unerklärliche Weise zustande gekommene Indiskretion erklärte und um die Ehre bat, seine Gedanken dort selbst entwickeln zu dürfen. Jeden Augenblick konnte die Einladung nach Sansibar eintreffen.

In der Tat meldete sich die Regierung in der zweiten Nachmittagsstunde, als Baumgart eben mit Hawthorn von einer Besichtigung der Usambaranit-Werke zurückkam. Sir Albarnell, der Minister für Wissenschaft und Technik, bemühte sich in eigener Person. Er hatte schon durch Benjamin Graachten den Aufenthalt des deutschen Gelehrten erfahren, und das Eintreffen des Telegrammes gab ihm willkommene Gelegenheit, die Sache schnellstens in Fluß zu bringen, um sich nicht wieder Säumigkeit und Unorientiertheit vorwerfen lassen zu müssen. – Das Gespräch zog sich sehr in die Länge. Sir Albarnell bat um eine kurze Skizzierung der Hauptpunkte. »Es ist meine Absicht,« sagte er, »sofort eine besondere Sitzung des Ministeriums und der Staatsräte einzuberufen, in der Sie Gelegenheit haben, Ihren Plan eingehend auseinanderzusetzen. Es muß das in wenigen Tagen geschehen, da ein großer Teil der Herren noch hier am Ort ist und der Entwicklung der Angelegenheit harrt. Zugleich würde ich die notwendigen Fachleute laden, die sich zu Ihren Gedankengängen äußern sollen.«

Baumgart setzte in großen Zügen die wichtigsten Punkt. auseinander und verschwieg nicht, daß er hier schon mit 170 den beiden bedeutenden technischen Fachleuten das ganze Problem erörtert habe, der Unterstützung dieser Herren gewiß sei.

»So bitte ich Sie also« – erwiderte der Minister – »die beiden mir sehr wohl bekannten Herren im Auftrage der Regierung mit zu der Sitzung zu laden. Alles übrige werde ich sofort veranlassen, und ich denke, daß es Ihnen recht ist, wenn ich die Beratung für den 18. Juni vormittags, also nach Ablauf von drei Tagen, ansetze.«

Johannes Baumgart erfüllte diese schnelle Klärung der Angelegenheit mit Freude und Genugtuung. Er hatte das Gefühl, daß seine Sache günstig stand. Der Gedanke war in die Hirne der maßgebenden Leute und der Masse geworfen, er interessierte, zwang zur Stellungnahme. Die Aeußerungen des berühmten Direktors der Kap-Sternwarte klangen ablehnend, aber er hoffte auch diesen Rawlinson überzeugen zu können, der freilich seinem Ansehen entsprechend ein gefährlicher Gegner werden konnte. Die Lauterkeit seiner Gesinnung verbot es ihm, den offenbar sehr despotischen alten Gelehrten auf seinem Observatorium aufzusuchen, zu umschmeicheln, für sich günstig zu stimmen. Siegte nicht die Kraft seiner Beweisführung, so mußte man eben bessere Zeiten abwarten. Er fühlte sich stark. Jahrzehntelang hatte er sich mit eingehenden Studien über alle hierher gehörenden Fragen befaßt, Für und Wider erwogen; auch der geschickteste Astronom war nicht berufen, die Resultate seiner Forschungen mit einem raschen Autoritätswort anzufechten oder abzulehnen. Und er würde Helfer finden.

Er hatte sie schon gefunden! Madame Effrem-Latour fühlte, daß die Frage, die sie hier vor dem hohen 171 Parlament angeschnitten, eine große Bedeutung gewinnen konnte, unter Umständen aber auch ihren Ruf als geistvolles Mitglied des Staatsrates zu gefährden vermochte. Ihr Ehrgeiz und ihre Energie gestatteten ihr nicht, die Dinge in Ruhe gehen zu lassen. Sie hatte den weltbekannten Chefredakteur des »African Herald« vorn in der Journalistenloge sitzen sehen und erwartete ihn nach Schluß der Sitzung im Treppenhause des Regierungspalastes. Der Marabu war gewaltig aufgekratzt. Seine Zeitung hatte das erste Signal zu dem Kampf der Geister um eine bedeutsame Frage gegeben, Grund genug, hellen Sonnenschein auf sein etwas verkniffenes Gesicht zu zaubern.

Der alte Fuchs war sichtlich geschmeichelt, als die schöne Chadija sich ihm näherte. Er sparte nicht mit Komplimenten, die sie aber ziemlich kühl zurückwies.

»Sagen Sie, Herr Graachten, wie sind Sie zu der interessanten Nachricht gekommen? Haben Sie Ihre Informationen von dem Gelehrten selber erhalten?«

»Doch nicht, Madame! Aber das ist ein sehr subtiles Redaktionsgeheimnis, und ich kann es Ihnen leider nicht enthüllen!«

»Aha, also sicher hat sich hier eine Ihrer berühmten Hintertüren geöffnet!«

»Was über die Vordertreppe kommt, Madame, ist meist altes bekanntes Zeug, davon kann eine große Zeitung nicht leben!«

»Sicher ist Ihnen aber die Adresse des Herrn bekannt!«

»Zufällig! Soeben gab ich sie der Regierung, nämlich Herrn Albarnell. Dieser deutsche Gelehrte ist zurzeit Gast 172 im Hause des Direktors der Usambaranit-Werke zu Kapstadt.«

»So werde ich ihn aufsuchen, und das schon morgen!«

»Wollen Sie mir das Vergnügen machen, mit meinem Flugzeug herüberzufahren? In zwei Stunden reise ich ab, und so haben Sie bequeme Gelegenheit und ich eine vortreffliche Reisebegleitung!«

»Mit Vergnügen, Herr Graachten, aber ich sage Ihnen vorher, daß Sie kaum Gelegenheit haben werden, mich journalistisch auszuschlachten!«

Der Marabu lachte vergnügt. »Etwas bleibt immer hängen, Madame! Darf ich Ihnen eine meiner Zigaretten anbieten? Bessere raucht man in Alexandria und Kairo auch nicht!«

Chadija Effrem-Latour griff mit ihren zarten Fingern in das dargebotene Holztäschchen. Galant gab der Marabu Feuer. Sir Archibald Plug ging vorüber. »Rauchen Sie nicht so viel, Madame, das verdirbt den klaren Blick! Machen Sie es wie ich, ich schnupfe nur noch und erhalte mir damit meinen fabelhaft klaren Geist!«

Lachend trat man ins Freie, und in lebhaftem Geplauder schritten die drei die breite Treppe hinab, an deren Ende der große Springbrunnen immer noch seine in tausend Diamanten zerstäubenden Wassergarben in die von heller Sonne erfüllte Luft emporschleuderte.

Von ihrem Hotel aus ließ sich die Staatsrätin mit der Sternwarte zu Kairo verbinden. Abdul Ben-Haffa, der Direktor des Observatoriums, war ihr gut bekannt, und zudem war sie von jeher im Parlament für das Institut eingetreten, wenn irgendwelche Mittel für Forschungszwecke bewilligt werden sollten. Es lag ihr daran, ein 173 Urteil des vortrefflichen Gelehrten über die seltsamen Pläne des Deutschen zu erhalten.

Nach langem Warten ertönte endlich die Stimme Ben-Haffas:

»Madame Effrem? Ah, guten Tag! Ich hoffe, Sie haben dort einen solchen. Hier regnet es ununterbrochen seit Tagen! Helle Sonne? Ich lasse sie grüßen. Wir sind zur Untätigkeit verurteilt, uns entzieht sie ihren Gnadenschein. Es ist mein Unglück, ausgerechnet während der Eiszeit auf Erden Astronom zu sein! Und weshalb höre ich Ihre Stimme?«

Madame trug ihr Anliegen vor, entwickelte die Gedankengänge des Deutschen, die Aufwerfung der Frage im Parlament.

»Nun, was halten Sie von der Sache?«

»Madame Effrem, das ist schwer hier auseinanderzusetzen! Eine Reihe sehr verwickelter wissenschaftlicher Fragen. Ich persönlich bin mir nie im Zweifel gewesen, daß unser Trabant einmal eine lebensvolle Zeit hatte, wie heute noch der Erdball, ja, ich glaube, in letzter Zeit Spuren einstiger menschlicher Tätigkeit auf dem Monde entdeckt zu haben. Erst unser neuer Riesenspiegel wird das klarstellen. Es wäre also sehr wohl möglich, daß man auf dem Erdbegleiter Dinge findet, wie sie jener Mann vermutet. Aber was nutzt das alles, wenn man nicht dorthin gelangen kann, und das kann man nicht! Wenigstens sehe ich keine Möglichkeit, den luftleeren Weltenraum zu überbrücken, so klein auch eigentlich die Entfernung Erde–Mond ist, und sie ist noch nicht fünfzigmal so groß wie die Strecke Algier–Kapstadt! Hier ist also offenbar ein unaufgeklärter Punkt in den Theorien Ihres Deutschen, 174 und wenn er nicht ein großer Phantast ist, wäre ich gespannt, wie er seine phänomenale Reise bewerkstelligen will. Ich halte sie für unmöglich, aber die übrigen Anschauungen für wohl diskutierbar. Nun, man wird ja mehr von der Sache hören, und wenn die Regierung den Plänen nähertritt, werde ich sicher gehört werden!«

Madame Effrem-Latour dankte und empfahl sich. Sie mußte selbst diesen Mann sprechen, um ihr ferneres Verhalten in der Frage danach einrichten zu können. In einer Stunde fuhr das Fahrzeug des Zeitungsmannes ab. Sie würde in Kapstadt morgen sehen, wie die Dinge standen. Der Standpunkt Rawlinsons im »Herald« war ablehnend, Ben-Haffa hielt vor allem die Reise selbst für unmöglich. – – Das sah nicht sehr vertrauenerweckend aus! –

Eine Stunde später saß sie an Graachtens Seite in der kleinen Kabine des Propeller-Flugzeuges, auf dessen breiten Schwingen in roten Riesenlettern die Worte »African Herald, Kapstadt« leuchteten. Sie schwirrten empor, das sonnenbeglänzte Aequatorgebiet versank hinter ihnen, und voraus stieg nach wenigen Stunden grau der afrikanische Süden auf, mit tiefhängenden Wolken und scharfen Regenschauern. –

* * *

Hawthorn lehnte sich behaglich in seinen Sessel zurück. Man hatte eben zu Abend gespeist. Elizabeth stellte Likör und Rauchwerk auf den Tisch.

»Das ist so recht ein Abend zum Verplaudern! Diese unaufhörlichen Regengüsse sind zum Verzweifeln. Ich 175 kann mir vorstellen, wie es den Leuten in Nordeuropa und Nordasien, den Bewohnern des südlichsten Teiles von Amerika zumute ist, wo unablässig seit einer Woche der Schnee so dicht fällt bei strenger Kälte, daß jede Bewegung ausgeschlossen ist.«

Baumgart nickte stumm. Er sah in das merkwürdig stille Gesicht Elizabeths; es schien ihm vergrämt. Er grübelte vor sich hin und mußte des letzten sonnigen Vormittags gedenken, der sie beide am Green Point vereinte.

Standerton-Quil lag halb in seinem bequemen Sessel am Kamin. »Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, Fräulein Hawthorn,« sagte er lächelnd, »so zünde ich mir meine Shagpfeife an. Ich weiß, es ist ein Laster, aber auf die Dauer ist der tugendhafte Nichtraucher ein langweiliger Kerl!«

»Schmauchen Sie nach Herzenslust, Herr Standerton. Mich stört es nicht; Sie rauchen Pfeife, der Vater Zigarren, Herr Baumgart und ich lassen Zigaretten verglimmen, nun, es wird ein seltsames Duftgemisch ergeben!«

»Haben Sie schon darauf geachtet,« sagte Baumgart, aus seinem Sinnen erwachend, »daß die Art des Rauchens, die Wahl des Rauchzeuges recht gute Schlüsse auf den Charakter zuläßt? Nehmen wir zum Beispiel diese kleine Gesellschaft. Die Tabakpfeife hat etwas Kräftiges, Urwüchsiges, nur der Starke verträgt sie auf die Dauer. Sie verlangt auch gute Behandlung, Eingehen in ihre wenn auch einfache Technik. Darum sehen wir, daß sie von einer Natur wie unserm Freunde Standerton bevorzugt wird. – Die Zigarre brennt ruhig, gleichmäßig, ist von Dauer, gestattet beschauliches Grübeln, belästigt 176 wenig durch Asche und Funken, stört nicht. Paßt sie nicht gut zum Charakter unseres Gastgebers? Die Zigarette hat etwas Nervöses, Kurzlebiges, ist schnell entflammt und verglimmt schnell, ist nur ein hastiger kurzer Genuß des Eiligen, Ruhelosen; ich leugne nicht, daß sie zu mir paßt!«

»Ganz treffend beobachtet, Herr Baumgart. Wissen Sie auch, daß es mir am meisten Sorge macht, wie ich auf unsrer siebzigtägigen Fahrt ohne das dort unmögliche Rauchen auskommen soll? Ich werde mir das Tabakkauen angewöhnen müssen, wie die Seeleute!«

»Ein Grund mehr, die ganze schreckliche Reise zu unterlassen,« sagte Elizabeth, und man konnte nicht heraushören, ob es mehr Scherz als Ernst war.

»Sie haben etwas gegen diese Fahrt, Fräulein Hawthorn. Ich merke es seit der ersten Stunde!«

»Ist das so verwunderlich, Herr Standerton? Eine Reise in das schreckhaft Ungewisse, in ein Reich, das dem Menschen von der Natur verriegelt ist mit Unüberwindlichkeiten, und dem nun, wie unser Gast glaubt, ein zufälliges kosmisches Ereignis für eine kurze Zeit das dunkle Tor öffnet. Der Mensch versuche die Götter nicht! Ich wage nicht an die Zukunft zu denken, wer weiß . . .«

Brown, der Hausmeister trat ein. Er überreichte eine Karte. Hawthorn nahm sie und rückte in den Lichtkreis der elektrischen Tischlampe:

»Chadija Effrem-Latour. Mitglied des Staatsrates der Vereinigten Staaten von Afrika. Parlamentsvertreterin der Nilländer.«

»Ein interessanter Besuch. Sie werden eine eigenartige Persönlichkeit kennen lernen. Madame Effrem-Latour, die Ihre Sache im Parlament zur Sprache brachte. Was 177 mag sie wollen? Sicher kommt sie in der Angelegenheit, die uns alle bewegt. – – Führen Sie die Dame hierher, bester Brown!«

Elizabeth entzündete die Deckenlichter. Das behagliche Halbdunkel wich strahlender Helle.

Madame trat ein. Ein enges dunkelblaues Reisekostüm umschloß ihre prächtige Figur, hob ihren Teint. Hohe braune Schnürstiefel taten dem wohlgeformten, zierlichen und doch energisch auftretenden Fuß keinen Abbruch. Ein zarter dunkelblauer Flugzeugschleier hielt das glänzende, tiefschwarze Haar zusammen. – Hawthorn ging der Dame mit ausgestreckter Hand entgegen. Die Herren erhoben sich. Elizabeth blieb im Hintergrunde und starrte in das kluge, feine Gesicht der bekannten, viel besprochenen Frau.

»Seien Sie mir willkommen, Madame! Ich bedaure, daß Sie das Kap in diesem Sintflut-Zustande finden müssen. Offenbar haben Sie eine wenig angenehme Reise hinter sich. Mein Haus steht Ihnen für jede Erquickung, die es bieten kann, zur Verfügung. Meine Tochter Elizabeth wird Ihnen behilflich sein!«

»Herzlichen Dank, Herr Hawthorn! Ich komme direkt von Sansibar hierher. Vom Sambesi an ununterbrochener Regen; wir flogen ganz tief, trotzdem waren die Signalfeuer der Erde nicht mehr einwandfrei festzustellen. Bei Pretoria hatte sich der Führer verirrt, und drahtlose Signale mußten uns erst den Weg weisen. Kurz vor Kapstadt hätte uns in tausend Metern Höhe fast ein anderes Flugzeug gerammt. Kurz, es war lebensgefährlich!«

Madame lachte ein silberhelles Lachen. 178

»Kann ich Ihnen mit irgendeiner Erfrischung dienen?«

»Vielen Dank! Ich bin vor zwei Stunden angekommen und habe mich im Hotel wieder einigermaßen zusammengerafft. Leider habe ich nicht allzu viel Zeit und mußte Sie noch diesen Abend heimsuchen. Mein Besuch gilt vor allem dem interessanten Gast, den Ihr Haus beherbergt!«

»Gestatten Sie mir, den Mann des Tages hier persönlich vorzustellen!«

Baumgart trat einen Schritt näher, machte seine Verbeugung. Er wurde verlegen wie ein Jüngling, als diese rassige Frau auf ihn zutrat, ihm mit Impulsivität die Hand entgegenstreckte.

»Mein Herr, ich freue mich, Ihrer habhaft geworden zu sein, ehe noch die Regierung in das Innerste Ihres Wesens gedrungen ist! Ihre Sache hat mir seit sechsunddreißig Stunden arge Kopfschmerzen gemacht. Sie werden vermutlich gelesen haben, daß ich Ihren Plan im Parlament zur Sprache brachte. Inzwischen habe ich Stimmen von Fachleuten gehört, die Ihr Vorhaben für unmöglich halten. Es ließ mir keine Ruhe, ich mußte Sie hören, sehen, sprechen. Ihrer nordischen Kühle wird mein Temperament ein wenig stürmisch vorkommen. Verzeihen Sie das, es liegt im Blut und ist ein alter Fehler von mir!«

Baumgart wurde immer unsicherer. Die starke Weiblichkeit dieser eigenartigen Frau mit dem fremdländischen, schönen Gesicht verwirrte ihn. Es dauerte eine Weile, ehe er sich sammelte.

»Madame, ich bedaure, daß Sie sich meinetwegen dieser Reise aussetzten. Es wäre meine Pflicht gewesen, Sie, nachdem Sie sich meiner im Parlament angenommen, 179 aufzusuchen, und ich hätte es zweifellos am 18. getan, zu welchem Termin mich die Regierung nach Sansibar eingeladen hat. Selbstverständlich will ich bemüht sein, alle Zweifel in Ihnen zu zerstreuen. Ich hoffe, Sie werden nicht von hier scheiden, ohne überzeugt zu sein, daß Sie dem hohen Parlament des Landes keinen haltlosen Plan eines Phantasten vorlegten!«

»Herr Baumgart, ich werde glücklich sein, wenn Sie das können, denn andernfalls müßte ich mich ja im Parlament selbst desavouieren. Indessen! Ich sagte vorhin, eine meiner Untugenden wäre überflüssiges Temperament, nun, meine zweite ist rücksichtsloseste Wahrheit: So energisch wie ich für Ihre Pläne eintrete, wenn sie mir und den Fachleuten ausführbar scheinen, so leidenschaftlich werde ich sie bekämpfen, wenn sie es nicht sind!«

»Madame, ich könnte von Ihrem Rechtlichkeitssinn nichts anderes erwarten, und Ihr verantwortliches Amt macht Ihnen das zur Pflicht!«

»So darf ich morgen vormittag Ihren Vortrag hören?«

»Es wird mir eine Ehre sein!«

»Dann will ich das gemütliche Beisammensein hier nicht weiter stören!«

»Halt, das geht auf keinen Fall, Madame,« sagt. Hawthorn und breitete die Arme aus, als wolle er die schöne Frau am Entfliehen hindern. »Sie beleidigen meine bescheidene Hütte, wenn Sie nicht noch ein Stündchen bei einem Glase Wein verweilen!«

Madame lachte wieder ihr reizendes Lachen. »Gut! Aber nur unter der Bedingung, daß die Herren wieder zu ihrem Tabak zurückkehren und mir selber ein Papyros erlaubt ist!« 180

Das fand heitere Zustimmung. Man nahm um den Kamin Platz, denn aufs neue prasselte der Regen gegen die Scheiben, surrte der Wind an den Fensterverschlüssen. Hawthorn schenkte ein. Die Staatsrätin plauderte mit Standerton, dessen Name ihr wohlbekannt war, von der Reise in das Eisgebiet des Nordens und knüpfte sehr pessimistische Schlüsse an die zunehmende Unbewohnbarkeit Europas, die Lasten, die dem afrikanischen Staate erwüchsen. Baumgart hörte versonnen zu und schaute von der Seite in das vom Kaminfeuer rötlich überflackerte reizende Gesicht der Tochter des Nillandes. Er sah nicht, daß Elizabeth, deren blonde zarte Schönheit mild und still gegenüber diesem Strahlen versank, wie die ruhevolle Mondnacht dem flammenden Sonnenaufgang weicht, mit leiser Wehmut zu ihm herüberblickte. Seltsame Gedanken zogen durch ihr Hirn. Wie ganz anders mußte dem Manne, der in wenigen Tagen ihr unberührtes Herz gewonnen, ohne es selbst zu ahnen, diese Frau erscheinen, die Geist und Schönheit um sich breitete, die voll Energie sich einem Plane widmete, den ihre Schwäche, ihre zitternde Bedenklichkeit mit Grauen von sich wies, den sie vereitelt hätte, wenn ihre Macht es erlaubte. Freilich, hier lag ein Unterschied! Sie liebte den Mann, der das Unerhörte wagen wollte, jene nicht. Aber war es nicht wieder Schwäche und Kleinheit, die auch hier zutage trat? Eine Chadija Effrem-Latour wäre vor diesen Mann getreten, hätte gesagt: Ich liebe dich, ich will dich, du sollst mich glücklich machen! Laß ab von deinem Plan. Sagst du nicht selbst, daß sich die Dinge dieser Welt nach ewigen großen Gesetzen vollziehen? Warum willst du, gerade du, den ich liebe, von all diesen Millionen 181 Menschen eingreifen in das Getriebe, dessen Räder von selber ihren ewigen Gang gehen? Dein Plan mag gelingen, aber er ist voll größter Gefahren, die mich um mein, dich um dein Glück und Leben bringen können, mit großer Wahrscheinlichkeit bringen werden. Dich treibt nicht eitle Ruhmsucht, dich treibt die Liebe zu den Menschen zu deinem abenteuerlichen Plan; alle diese Menschen aber, diese Masse, die ein Schauspiel erwartet, ein vielleicht grausiges, eine unerhörte Sensation, lieben dich nicht so wie ich dich! Es gibt nur ein Leben, das schnell verrauscht; laß es uns gemeinsam leben!

Hielt sie nicht kleinliche weibliche Bedenklichkeit ab, so zu sprechen, wie jene sprechen würde? Und vielleicht kam der Tag, an dem diese Tochter einer heißeren Sonne so reden würde zu diesem Manne, der so ganz anders war in seinem Empfinden, seiner Versonnenheit, seiner geistigen Bedeutung, als all die Männer dieses Landes! Der eine fast knabenhafte Schüchternheit, eine beinahe mädchenhafte Scheu in Gefühlsdingen verbarg. Vielleicht kam dieser Tag, da diese schöne und geistvolle Frau mit raschem Entschluß das Herz dieses stillen Mannes aus dem fernen Norden eroberte, und sie trat mit leeren Händen zurück in das Dunkel, in die Einsamkeit ihres Mädchenstübchens. Und dennoch, ein richtiges Empfinden sagte ihr, daß kaum zwei Menschen weniger zueinander paßten als diese Frau und dieser Mann. Sie betrachtete beide heimlich und versank aufs neue in ihre Grübelei. –

Am Kamin war das Gespräch auf politische Dinge gekommen. Die junge Staatsrätin entwickelte den Gedanken, daß alle politische Tätigkeit, alle Staatskunst eigentlich immer das tat, was gestern nötig gewesen, und 182 was morgen durch die Verhältnisse schon überholt war. Sie verglich die Regierung mit dem Manne, der auf seinen schwerfälligen Krücken hinter dem Wagen herläuft, den wir Zeit und Zeiterfordernis nennen, und den Verhältnisse, die der Mann nicht frühzeitig genug erkennt, in eine ganz andere Straße hineintrieben, deren Besonderheiten sich der Mann mit den Krücken erst wieder anpassen muß. So kommt er immer zu spät.

»Es ist das Unglück der Regierungen,« sagte Baumgart mit seiner ruhigen, tiefen Stimme, »daß sie nichts aus den großen Gesetzen der Natur lernen. Bis heute haben die Menschen noch nicht erkannt, daß auch Staaten und Völker und Kulturen sich entwickeln wie lebende Organismen, wie Bäume, daß sich menschliche Geschichte auch vorausbestimmen läßt!«

»Ich verstehe Ihren Gedankengang nicht ganz, Herr Baumgart!«

»Lassen Sie mich ein Beispiel gebrauchen, Madame! Die ganze Natur beherrscht ein großes Gesetz, das des Werdens und Vergehens. Unabänderliche Naturgesetze bauen Pflanzen und Tier und Menschen und Sterne auf und ab. Alle diese Schöpfungen der Natur entsprießen Keimen, wachsen, reifen, erreichen einen Höhepunkt, dann sterben sie ab. Wie die Blume verweht, verdorrt, so stirbt der Mensch, das Tier, so muß auch die größte Sonne einmal erkalten. Nun sind wir offenbar in der Lage, den Werdegang eines Eichbaumes, eines Menschen, auch wenn beide noch in ihren zartesten Jugendzuständen sind, vorauszusagen. Wir wissen von dem Knaben, daß er wachsen wird, reifen zum Manne, daß er freien wird, selbst Kinder zeugen, daß er altern wird, siechen und 183 sterben, und wir geben ihm von Jugend auf in Haus und Schule die Mittel mit auf seinen Lebensweg, die ihn befähigen, all diesen Phasen seines Daseins gerecht zu werden.

Aber auch Staaten sind ja nichts anderes als mächtige Organismen, auch für sie gilt das große Gesetz des Werdens und Vergehens, und wenn Sie die Geschichte der Völker verfolgen, werden Sie sehen, daß sich im großen und ganzen alle gleich entwickelten, alle in fast gesetzmäßiger Weise zugrunde gingen. Alle hatten ihre primitive Kindheit, ihr Erwachen zur Macht, ihre Kämpfe mit den Nachbarn, ihre Religionskämpfe, ihre sozialen Revolutionen, ihre Blütezeit, ihre Zeit des Verfalls, wurden innerlich morsch und gingen unter in Unbedeutendheit. Das Spiel hat sich ewig wiederholt und muß sich immer wiederholen, wie bei jeder Eiche Wachsen und Verdorren. So läßt sich also auch die Geschichte eines Staates vorausbestimmen, ließe sich vielem Unglück vorbeugen im Völkerleben, wenn die Staatenlenker dieser Entwicklung Rechnung trügen!«

Andächtig hatte die Staatsrätin zugehört. Fürwahr, dieser Mann sah die Dinge von einem großen Gesichtspunkt. Diese Gedanken waren ihr neu, und sie mußte sich gestehen, daß sie ihr plötzlich Perspektiven eröffneten, die ihr von großem Nutzen sein konnten in ihrem Amt.

»Vortrefflich, mein Herr! Ich empfinde, daß eine große Wahrheit in dem steckt, was Sie sagen. Es wäre zu wünschen, daß Sie einmal diese Art, menschliche Geschichte zu sehen, darauf eine Staatskunst zu gründen, in einem Werk niederlegten!« 184

»Das ist geschehen« – mischte sich Hawthorn in das Gespräch – »der dritte Band des großen Werkes unseres Freundes behandelt diese Dinge bis in ihre Einzelheiten!«

»Und Sie würden mir dieses Werk zugänglich machen, Herr Baumgart?«

»Es steht zu Ihrer Verfügung, Madame!«

»Ohne unserm Freunde von Angesicht zu Angesicht Schmeicheleien sagen zu wollen« – meinte Standerton und klopfte seine Pfeife am Feuerbord des Kamines aus – »er hat eine besondere Art zu denken, den Kern der Dinge zu finden, der uns im allgemeinen fremd ist. So werden Sie auch morgen finden, Madame, daß seine Spekulationen richtig sind hinsichtlich seiner Reise, deren technische Ausführbarkeit wir bei ernster Prüfung erkannt haben. Wir, Herr Hawthorn und ich, können das vor dem großen Rat am 18. Juni vertreten!«

»So sind Sie bereits dazu eingeladen?«

»Durch Herrn Albarnell selber!«

»Nun, dann schlage ich vor, daß wir gemeinsam die Reise nach Sansibar antreten!«

»Wenn Sie sich der Granate anvertrauen wollen als das erste weibliche Wesen, das die Scheu vor der stählernen Biene überwindet?!«

»Da Sie alle mit demselben Ungetüm der silbernen Luna zusteuern wollen und ich mich dafür einsetzen soll, bleibt mir wohl nichts übrig, als meine Seele Ihrer geschickten Führung auszuliefern!«

»Bravo, Madame! Und seien Sie versichert, daß wir Sie heil in Bagamojo ans Land setzen. Was sollte aus den Nilländern werden, wenn ihre Vertreterin zugrunde ginge!« 185

»Sie sind ein Spötter, Herr Hawthorn! Chadija Effrem-Latour ist den alten Abkömmlingen der Holländer und Engländer nicht immer ein angenehmer Partner im Parlament. Auch wir haben noch mancherlei Schranken zu überwinden in den Vereinigten Staaten mit gleichen Rechten und Pflichten!«

»Um des Himmels willen, Madame! Halten Sie sich an Sir Plug und machen Sie es gnädig mit uns!«

»Sie sehen, Herr Baumgart, daß mein Ruf ungefähr der einer politischen Xanthippe ist! Tausend Jahre politischer Betätigung der Frau haben nicht hingereicht, das alte Vorurteil aus den Hirnen der Männer zu tilgen. Sie kommen nicht von dem Gefühl los, daß die Frau ein ihnen untergeordnetes Wesen ist, und empfinden es als eine Kränkung, wenn die eine Hälfte der Menschheit in wichtigen Beschlüssen des Staates ebenso mitreden will, wie die andre, die Bärte trägt. – Darin allein liegt nämlich der ewige Widerspruch meines vortrefflichen Freundes Archibald Plug begründet, der ein prächtiger Mensch ist und der höflichste Kavalier, wenn wir uns außerhalb des Parlamentes begegnen. Wissen Sie, Herr Hawthorn, eines Tages werde ich den alten Seebären heiraten und mir so den parlamentarischen Widersacher zähmen!«

Sie lachte wieder ihr fröhliches, unbekümmertes Lachen und zeigte dabei zwei Reihen reizender Perlzähnchen.

»Tun Sie uns das nicht an, Madame! Die Verhandlungen im Palast zu Sansibar würden erheblich an Reiz verlieren, wenn diese Plänkeleien fortfielen, und der treffliche Plug ginge an Melancholie zugrunde, wenn er seine reizende Gegnerin verlöre, denn ob er als Ihr 186 beneidenswerter Gatte dazu käme, häusliche Wortgefechte auszuführen, das wage ich zu bezweifeln!«

»Man ist im Zweifel,« sagte die schöne Chadija und sah den alten Herrn mit lustigem Augenzwinkern von der Seite an, »ob das ein Kompliment ist oder eine kleine Bosheit!«

»Oh, Madame, wie können Sie glauben . . .«

»Lassen Sie gut sein, ich bin den Kampf gewohnt, und das Salz des Scherzes hält das Herz frisch, sagt ein altes Sprichwort meiner Heimat!«

»Die politische Tätigkeit der Frau,« warf Baumgart ein, »hat auch meiner Meinung nach nicht das gehalten, was sich die Besten unter uns davon versprachen! Auch sie ist, wenn Sie mir erlauben wollen, das ohne irgendwelche persönliche Spitze zu bemerken, in die Schlachtordnung eingetreten, eingetreten in Reih und Glied, fechtend nach alter Weise, wie der Mann. Sie hat nicht einen neuen Geist hineingetragen, eben das spezifisch Frauenhafte, sondern sie hat gerade das durch den wehrhaften Panzer, den sie dem Manne entlieh, verdeckt. – Wieviel hat männliche Härte und Unbeugsamkeit im politischen Leben der Völker verschuldet, besonders in alten Zeiten, als das Schwert locker saß! Wieviel hat sie im sozialen Kampf, hart gegen hart, zerstört! – Von der Frau erwarteten wir, daß sie mehr die Güte, die Liebe, das mütterliche Verstehen dem Leidenden gegenüber zur Geltung kommen ließe, und versprachen uns so, statt des Kampfes hart auf hart, das Versöhnen durch nachgiebigen Ausgleich auf allen Seiten.

Sehen Sie aber in den Blättern der Geschichte nach, und Sie werden finden, daß nichts von dem eingetreten, 187 daß die Frau unduldsamer war, herrischer, rücksichtsloser, grausamer als der Mann. So muß ich, aus ganz anderen Gründen als Sir Archibald Plug und andere Politiker, zu einer Ihnen vielleicht nicht günstigen Kritik weiblicher Tätigkeit im Reiche der Politik kommen. Die Frau war nicht barmherzige Schwester in dem Feldzug, sie legte die weiße Haube und die Medikamententasche ab und griff zum Schwert. Kein Wunder, daß Schwerter ihr begegnen!«

»Es ist viel Wahres in dem, was Sie sagen, und ich bin freimütig genug, Ihnen zu gestehen, daß ich mir klar darüber bin, daß die moderne Frau des öffentlichen Lebens vielleicht ihr Bestes verlor in diesem Kampf! Nicht jeder ist glücklich, der in strahlender Rüstung als Sieger auf dem Felde sich behauptet!«

Ein ernster, seltsamer Zug war plötzlich in das Gesicht der schönen jungen Frau getreten, und man hatte die Empfindung, daß sie vielleicht nicht ganz so glücklich war, wie es dem Fernerstehenden schien. –

Madame erhob sich. Es war spät geworden. Sie drückte den Männern die Hand und reichte sie auch dem merkwürdig stillen Mädchen, das wie ein Schatten abseits saß, still und versonnen. Ein forschender Blick streifte Elizabeths Gesicht. Zwei Augenpaare begegneten sich eine Sekunde, ein dunkles, glänzendes und ein lichtes, das unsicher abirrte, dann wandte sich die Staatsrätin und verließ, von Hawthorn begleitet, den Raum. 188

 


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