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X. De Profundis

Am vierten Abend reitet Otto mit seinem Knappen und mit Jesper zum Hof herein.

Auf dem Schloß ist alles still; denn der König von Dänemark liegt in den letzten Zügen. In diesem Augenblick reicht Meister Fulbert ihm die letzte Ölung: Bo Falk steht daneben und betet mit.

Karen hört die Reiter von der Speisekammer aus; mit Unruhe im Herzen hat sie ihn erwartet.

Sie wird abwechselnd rot und blaß, als sie die hohe Gestalt mit den abfallenden Schultern dort im Burghof erblickt.

Es ist derselbe und doch ein anderer. Der Bart ist ihm nun gewachsen, er hat Helm und Ritterschwert, und das Pferd trägt das königliche Wappen auf der Schabracke.

Nun wendet er den Kopf. Seine Augen schauen ernst und schwermütig, aber sie sind blau und groß wie damals.

Da trifft sein Blick den ihrigen durchs offene Fenster.

Karen richtet sich auf und streicht sich das Haar aus der Stirn.

»Nun sieht er, daß ich erwachsen bin.«

Unverwandt schaut er sie an.

»Cara«, sagt er und streckt die Hand nach ihr aus.

Er springt vom Pferd.

Durchs offene Fenster reicht er ihr die Hand.

»Cara«, sagt er und lächelt.

So ist er also wirklich gekommen!

Sie bezwingt die Unruhe ihres Herzens, schlägt die Augen nieder und ergreift seine Hand; diese ist schlank und warm.

»Der König bekommt eben das Sakrament«, sagt sie leise.

»Kommt heraus!«

Durch die Pforte zwischen den Flügeln gehen die beiden in den Gemüsegarten. Sie gehen den Lindengang entlang, und Otto denkt an jenen Morgen, wo Cara die Hexe von Falster und er ihr Henker gewesen war.

Sie geht so dicht neben ihm, daß ihr Arm seinen Ärmel berührt. Und sie richtet ihre Schritte nach den seinigen.

Da ist die Lindenlaube und die steinerne Bank und der Tisch auf einem Fuß. Otto stemmt seine Hand gegen die Platte, da wackelt sie ein wenig.

Dann setzt er sich auf die Bank.

»Cara – kleine Cara!« sagt Otto leise und streichelt die weiche Hand, die in ihrem Schoß liegt.

Ihre Lippen sind fest geschlossen. Sie wagt es nicht, ihn anzusehen. Und nun steigt ihr das Weinen auf; denn so unglücklich ist sie schon lange nicht mehr gewesen.

»Habt Ihr an mich gedacht, kleine Cara?«

Da sieht sie ihn voll an, und ihre Augen sind dunkel und tief von der Freude, die hinter ihnen zittert. Ihre Hand öffnet sich der seinigen, und sie sagt:

»Ja, wenn ich Zeit hatte.«

»Hattet Ihr so viel zu tun?«

Nun soll er wissen, wie tüchtig ich geworden bin.

»Ich besorge die ganze Wirtschaft«, sagt sie und nickt zuversichtlich.

»Ihr seid jetzt eine Jungfrau!«

Sie schlägt die Augen nieder und errötet. Eine plötzliche Scheu ergreift sie, und sie sagt ausweichend:

»Ich habe auch bisweilen an Euch gedacht.«

Paris taucht vor ihm auf – es geht ihm ein Stich durchs Herz im Gedanken an die Nächte, wo er in Saras Armen geruht hat.

Auch Cara geht ein Stich durchs Herz, denn nun denkt sie an all die schönen Frauen, die er in Paris gesehen hat. Und vielleicht hat er mit ihnen gelebt.

Sie betrachtet von der Seite prüfend seine großen Augen mit dem schwimmenden Blick. Es ist etwas da, das sicherlich früher nicht dagewesen war.

»Gab es viele schöne Jungfrauen in Paris, Junker Otto?«

»Ich bin nicht mehr Junker«, sagt er lächelnd.

Ja – in kurzem ist er König. Es sind teure Zeiten – heutzutage. Sie verlangen einen ganzen Mann.

Für Liebeleien bleibt nur noch wenig Zeit; es wäre auch wirklich schade, wenn er jetzt diese junge Blume bräche, die in dem Garten seiner Kindheit erblüht ist. Gut und rein ist sie, – und er – o Sara – was hat sie nicht alles verwüstet!

Seine Gedanken schweifen zu Karen hinüber, ohne daß sie es weiß, und plötzlich fühlt sie eine große Betrübnis in ihrem Herzen.

»Nun werdet Ihr König,« flüstert sie, »und dann –«

»Und dann?« fragt er und streichelt wieder ihre weiße, schlaffe Hand, die in ihrem Schoße ruht.

Sie antwortet nicht, zieht aber langsam ihre Hand zurück und läßt sie an der Tischkante hingleiten.

»Ja, nun werde ich König. Das hätten wir damals nicht gedacht.«

Nun verliere ich ihn für immer. Die Tränen wollen sich hervordrängen. Sie senkt den Kopf und schlägt hastig die Augen nieder. Er soll nicht sehen, daß sie weint.

Wenn nur das böse Pferd Prinz Erik nicht abgeworfen hätte, dann wäre er nicht König geworden. Dann hätte er jetzt Zeit gehabt, mich in die Arme zu nehmen und mich zu küssen, wie andere junge Burschen ihr Liebchen.

Bo Falk und Meister Fulbert treten durch die Pforte.

Nun gewahren sie Otto und eilen durch den Lindengang, um ihn zu begrüßen.

Fulbert preßt die Lippen zusammen, als er die beiden nebeneinander sieht. Denkt er wohl auch an jenen Morgen?

Otto steht auf und begrüßt Bo Falk wie einen alten Freund. Auch Meister Fulbert reicht er gnädig die Hand und fragt:

»Ihr übt die Heilkunst aus, Meister Fulbert?«

Fulbert verbeugt sich zustimmend.

»Was haltet Ihr von meinem Vater?«

»Er ist vom Tod gezeichnet. Jetzt eben habe ich ihm die letzte Ölung gereicht.«

Otto fährt sich mit seinen schmalen weißen Händen über die Stirn.

»Er ist nun erwacht,« sagt Bo Falk, »aber ich glaube nicht, daß er ganz bei sich ist. Er spricht von jemand, dem er heimliche Botschaft geschickt habe, als er neulich in Saxkjöbing bei Peter Hvitfeldt war – am Tag ehe das Haus über ihm abbrannte. Es sei jemand, der komme, um ihn zu rächen. Wenn es nicht ein Krankheitswahn ist, dann glaube ich, daß es niemand anders sein kann als Euer Schwager, der Markgraf von Brandenburg, bei dem Euer Bruder zu Gast ist, dem er durch irgendeinen Schiffer eine Botschaft zukommen ließ. Vielleicht sind sie schon unterwegs.«

Und nun erzählt Bo Falk, was er nicht zu verschweigen für rätlich hält, in welcher Gesellschaft der König aufs Schloß kam, und er sagt gerade heraus, was er aus Hennike Breides verblümten Worten erraten hat, nämlich daß der milde Graf Johann auf Aalholm den König heimlich in deren Gewalt gegeben habe, mit dem Auftrag, ihn sicher hier auf dem Schloß zu halten und für ihn zu bürgen, mehr als einen Gefangenen, denn als einen Gast. Als sie – die Ritter – vorhin hörten, wer gekommen war, wollten sie schnell auf und davon, aber Bo Falk hatte ihnen gesagt, daß er es nicht wage, sie abreisen zu lassen, ehe sie den jungen König begrüßt hätten.

Otto wird blaß vor Zorn. Ohne ein Wort zu sagen, geht er den beiden Männern voraus durch den Lindengang. Und Karen folgt langsam nach.

Gerade als sie durch die Pforte in den Burghof hineingehen, ertönen die Hufschläge vieler Reiter auf der andern Seite des Grabens.

Otto und seine Begleiter bleiben stehen und lauschen.

Ole wird angerufen, aber sie können nicht verstehen, wer gemeldet wird.

Die Ketten rasseln; die Brücke senkt sich; durch die Toröffnung sehen sie die Beine vieler Pferde über die Brücke kommen. Nun erkennt Otto die brandenburgischen Wappenzeichen an den ersten.

Das Blut schießt ihm in den Kopf, während er ihnen eilig entgegengeht.

Ja, das ist sein Schwager – der junge schwarzbärtige Reiter da vorne, der mit dem unfreundlichen Blick und dem festgeschlossenen Mund. An seiner hochmütigen Miene sieht man gleich, daß er der Sohn eines Kaisers ist.

Und dicht hinter ihm – der mit den runden, klugen, kalten Augen, die alles so ruhig und forschend betrachten – der Jüngling mit dem dunklen seidenen Hemd über dem Harnisch – das ist Waldemar, sein Bruder.

Wie er mit Anstand im Sattel sitzt – wie er das Haupt zum Gruß neigt – das hat er gewiß am Kaiserhof gelernt, wo er so lange zu Gast gewesen ist. Er sieht so fremd aus. Aber es ist doch sein Bruder – er kehrt in seine Kinderheimat zurück, wohl ohne zu wissen, daß der König, sein Vater, vom Schlage getroffen und schon vom Tode gezeichnet ist.

Mit ausgestreckten Händen geht ihnen Otto entgegen.

»Willkommen, lieber Schwager, und du, Waldemar, mein Bruder!«

Die Gäste steigen ab und drücken einander stumm die Hände. Nun sieht Otto, daß sie schon erfahren haben, was mit dem König geschehen ist.

»Er hat mir vor kurzem Botschaft geschickt, daß wir um Jesu Christi und der Mutter Gottes willen kommen sollen, ehe es zu spät sei«, sagt Markgraf Ludwig.

»Er hat also den Hauch des Todes gefühlt«, sagt Otto leise und senkt den Kopf.

Nun kommen Jesper und die anderen aus dem Stall. Die Knechte übernehmen die Pferde und die Diener, während Bo Falk seine Gäste die Königstreppe im Turm hinauf nach dem Saal führt.

Wie sie nun durch die Galerie an den Türen vorbeigehen, denkt Otto an jenen Tag, wo er sich hierher schlich, um zu horchen. Hier ist die Tür, hinter der er stand und hörte, wie der Marschall und der Truchseß und Porse den Gehorsam aufkündigten. Und nun liegt der Vater dadrinnen, vom Tode gezeichnet. Nie wieder wird seine Stimme in höchstem Zorn erschallen. Schon lange ist sie gebrochen, und nun nimmt der Tod, was noch da ist.

Im Königssaal, wo sie damals gestanden hatten, die Verräter, da warten nun die Ritter, die seinen Vater gefangen hierher geführt haben.

Hennike Breide und Johann Ellemose stehen dicht an der Tür. Sie verbeugen sich stumm vor Otto und den fremden Gästen. Aber Otto erwidert ihren Gruß nicht. Er tritt ganz nahe zu ihnen und sagt mit lauter Stimme:

»Hennike Breide und Johann Ellemose, wie habt Ihr den König behandelt?«

»Wir ritten im Auftrag des Grafen!« sagt Hennike und richtet sich hochmütig auf. »Er ist hier im Schloß der Herr, bis das Pfand gelöst ist.«

»Das ist er – aber Ihr habt meinen Oheim falsch verstanden, wenn Ihr meint – und nun seid Ihr Gefangene hier, bis ich eine Erklärung vom Grafen gefordert habe. Bo Falk, nimm ihnen die Schwerter ab und führe sie in den Turm!«

Die beiden zählen und schätzen die fremden Ritter. Dann schielen sie scheu nach der Tür. Es ist unmöglich, zu entfliehen. Stumm reichen sie Bo Falk ihre Schwerter und schleudern ihm scharfe Blicke zu, die Rache geloben. Aber Bo Falk und zwei aus des Markgrafen Gefolge führen sie aus dem Saal.

*

Es ist Nacht.

Die Todeskerzen stehen angezündet auf dem weißgedeckten Tisch hinter dem Kopfende des Bettes. Aber das Licht dringt nicht bis in die Ecken des Saals, nicht bis zu den Fenstern, nicht hinauf bis zu den Schatten unter der Zimmerdecke.

Am Fußende kniet Fulbert und betet.

Die spitzigen Knie unter der Bettdecke hinaufgezogen, liegt der König da. Er schlägt mit dem linken Arm in die Luft, als wolle er sich wehren, der rechte aber liegt verdorrt und schlaff an der Bettkante.

Das eine Auge ist ganz zugedrückt. Nur durch eine schmale Spalte schielt es nach der Nase. Aber das andere ist weit aufgerissen; in ohnmächtigem Entsetzen flackert der Blick umher unter dem aufgeschlagenen Lid und der hoch in die Stirne hinaufgezogenen weißen Braue.

Schweißtropfen rollen von den eingefallenen Schläfen mit dem feinen Geäder auf das Kissen. In dem magern, rauhen Hals mit den großen runzeligen Hautfalten geht der Gurgelknopf auf und ab. Der Mund ist auf der linken Seite schief, und die Lippe hängt gelähmt herab. Die Zunge ist dick und die Sprache unverständlich.

Als die drei in den hohen Saal treten, geht ihnen Fulbert entgegen.

»Er ruft seinen Hund!«

Mit gesenkten Köpfen stellen sie sich um des Königs Lager – Ludwig ans Fußende, Otto auf die rechte, Waldemar auf die linke Seite an der Wand, wo das Bett weggerückt worden ist.

Fulbert geht nach dem Betschemel in der Ecke, kniet nieder und liest die Gebete, die für die Seele eines Sterbenden vorgeschrieben sind.

Er liest sie halblaut; ab und zu erhebt er seine singende Stimme, so daß die Worte die drei erreichen, die schweigend um das Lager stehen.

Otto beugt sich über seinen Vater und will dessen Arm ergreifen, der noch immer in die Luft schlägt.

»Marschall! – Marschall!« stöhnt der König.

Es ist der Hund, den er umbrachte, denkt Otto.

»Marschall!« fleht er. Das Auge flackert wild, seine Knie beben, und das Bett zittert unter ihm.

Was kann er nur wollen?

»Marschall!« wimmert er wie ein Kind und bewegt unruhig den Kopf. Und nun sucht er mit großer Anstrengung nach Worten.

»Schließ, Marschall! Schließ, Marschall!«

Und es ist, als deute der fechtende Arm auf etwas.

Otto folgt seinem Blick. Er flackert nach dem Fenster drüben im Dunkel; es steht offen wegen der Hitze.

Vielleicht zieht es ihm in der kühlen Nacht.

»Meinst du das Fenster?« fragt Otto.

»Ja–a–a!« stöhnt der König in einem langen Seufzer der Erleichterung.

Otto tritt ans Fenster.

»Ecce enim in iniquitatibus conceptus sum et in peccatis concepit me mater mea!« Denn siehe, ich bin in Sünden geboren, meine Mutter hat mich in Sünden gezeugt.

Otto lauscht auf die Worte des Gebets, und er betet mit, während er das offene Fenster schließt.

Als er sich wieder über das Lager beugt, sieht der König ihn an mit der Dankbarkeit eines Stummen in seinem unstäten Blick; und Ottos Augen füllen sich mit Tränen, als sich die Hand seines Vaters auf seinen Arm legt.

Nun schlummert er ein. Die Augen schließen sich; aber es zuckt krampfartig in den geschlossenen Lidern und auf der Stirne, und der Atem dringt stöhnend aus dem schiefen, offenen Mund.

»Libera me, Domine, de morte aeterna, in die illa tremenda, quando coeli movendi sunt et terra: dum veneris judicare säculum per ignem –« Rette mich, Herr, vor dem ewigen Tod, an jenem schrecklichen Tag, wo Himmel und Erde vergehen werden: wenn du kommen wirst, um die Welt mit Feuer zu richten.

Ludwig stützt die Hand auf das Fußende des Bettes und wünscht, daß es bald zu Ende gehe.

Waldemar wendet seine großen klugen Augen nicht von dem Gesicht des Kranken ab.

Aber Otto hat sich zum Gebet auf die Knie niedergelassen und hält die Hand seines Vaters in seinen beiden.

Wieder zittert der König am ganzen Körper und ficht mit dem Arm in der Luft. Nun schlägt er die Augen auf.

»Blutige – Wunden – schlägt –«

Otto ergreift das Kruzifix, das zwischen den Kerzen auf dem Tisch liegt, und hält es dem Kranken vor das halboffene Auge. Lange schaut der König darauf; dann begreift er, was es ist, und faßt danach. Otto gibt es ihm in die lebende Hand und führt sie ihm an den Mund, den die Hand allein nicht erreichen kann.

Nun berührt das Kruzifix seine kalten Lippen.

»Dies illa, dies irae, calamitatis et miseriae, dies magna et amara valde –« Jener Tag, der Tag des Schreckens, der Tag des Jammers und der Not, der große und sehr schreckliche Tag.

Der König stößt das Kruzifix weg.

»Lösen – das Pfand –« flüstert er.

»Das Pfand!« fleht er, Otto anstarrend.

»Das Pfand lösen!« wimmert er schluchzend und schaut auf Ludwig zu seinen Füßen.

Nun denkt er an die Mitgift, um die er mich betrogen hat, denkt Ludwig, als der Blick des Kranken über ihn hinflackert.

Es ist das Land, das er versetzt hat, unser Erbgut, denkt Waldemar. Er beugt sich auf des Vaters Gesicht und fragt:

»Ist es Lolland, Vater – und Falster – und das Schloß hier?«

Der Kranke schüttelt den Kopf und wimmert.

»Lösen das Pfand –«

Hilflos schaut er Otto an, ob er ihn nicht doch verstände, wie früher schon oft.

»Ist es Fünen?« fragt Waldemar.

»Das Pfand.« –

»Dona ei requiem, et lux perpetua luceat ei!« Gib ihm Ruhe und lasse ihm das ewige Licht leuchten!

»Ist es Seeland?«

»Das Pfand – das Pfand!«

»Pie Jesu, Domine, dona ei requiem sempiternam!« Gütiger Heiland, unser Herr, gib ihm die ewige Ruhe!

»Ist es Jütland?«

»Das Pfand« –

»Sempiternam – sempiternam!« Die ewige – die ewige (Ruhe).

»Lösen – das Pfand!«

Er richtet sich auf mit seiner letzten Kraft.

Ganz weiß ist sein Gesicht, und das Auge starrt in unsäglicher Angst, während ihm der Todesschweiß über die Stirne rinnt.

Nun stirbt er, denkt Otto und bebt am ganzen Leib, während er die Hand des Vaters mit seinen beiden ergreift.

»Ist es Dänemark?« fragt Waldemar niederkniend.

»Lösen – das große – Pfand!«

Er ergreift das Kruzifix und reicht es Waldemar.

»Agnus dei, qui tollis peccata mundi –« O du Lamm Gottes, das der Welt Sünden trägt.

Waldemar legt seine Hand auf das Kruzifix. Er ist sehr blaß.

»Ich schwöre, die Pfänder zu lösen,« flüstert er.

»Dona ei requiem –« Gib ihm Ruhe.

Der König wirft in Verzweiflung den Kopf herum. Er ist nun im Todeskampf, und indem er das Kruzifix auf Otto richtet, sieht er ihn in höchster Seelenqual an.

»Großes Pfand – ewige Gewalt – lösen –«

»Et lux perpetua luceat ei!« Laß ihm leuchten das ewige Licht.

Eine tiefe Ahnung macht Otto erbeben. Er weiß selbst nicht, was er ahnt. Eine dunkle Nacht und ein geheimes Wissen leiten seine Lippen.

Er legt die Hand auf das Kruzifix, führt es an seinen Mund und sagt:

»Ich schwöre bei Jesu Christi blutigen Wunden, dein ewiges großes Pfand zu lösen.«

Eine wunderbare Erleichterung klingt aus dem Röcheln des Sterbenden. Er fällt auf das Kissen zurück. Der Mund verzieht sich wie zu einem Lächeln, und der Blick schaut weich und unaussprechlich dankbar in Ottos tränenvolle Augen.

»Aa – a!« röchelt er mit einem langen Atemzug.

»Ja«, bedeutet es, und »Dank!« bedeutet es. Und »Sei gesegnet, du mein lieber Sohn!«

Die Tränen strömen Otto sachte aus den Augen auf die kalte, harte Hand, die so viel gesündigt, so viel falsch gemacht hat, und die doch die Hand seines Vaters ist, die Hand, die seine Wange gestreichelt, seit er das Licht der Welt erblickt hat.

Er denkt an seine Mutter. Es ist ihm, als schwebe sie über dem Lager und breite zärtlich die Arme nach ihm aus.

»De profundis clamavi ad te, Domine, exaudi vocem meam!« Aus der Tiefe rufe ich Herr zu dir; erhöre mein Flehen!

Da legt sich des Königs Hand fest um die seinige, als wolle er ihn mit sich ziehen hinüber über die Schwelle.

Die Tür öffnet sich. Hoch und düster steht der Tod da und verdeckt das Licht, das in der Ferne hervorbricht. Der Sterbende hört Glockenläuten. Und dort lächelt Euphemia mit ausgebreiteten Armen seiner Seele entgegen.

»Miserere mei, Deus, secundum magnum misericordiam tuam!« Herr, erbarme dich über mich nach deiner großen Barmherzigkeit.

Da tönt es, als zerspringe etwas in des Königs Hals. Die Beine strecken sich aus, die Arme werden schlaff. Das Auge bricht –

»Requiescat in pace. Er ruhe in Frieden. Amen!«

Nun starb König Christoffer von Dänemark.

*

Auf der Galerie steht Karen und wartet.

Otto geht an ihr vorüber, ohne Blick, ohne Worte.

Sie sieht ihm lange nach, ihm, der nun König ist. Als er an der Treppe um die Ecke biegt, stürzen ihr die Tränen aus den Augen. Sie weint, als wolle ihr das Herz brechen – sie weiß selbst nicht warum.

*

Am nächsten Tag, nachdem die Messe in der Schloßkapelle gelesen ist, sitzen der Markgraf und Otto und Waldemar um denselben viereckigen Tisch, an dem Hennike Breide und Johann Ellemose vor kurzem König Christoffer den Gnadenstoß versetzt hatten.

Als Zeugen sind anwesend Bo Falk und der Kanzler des Markgrafen, Graf Johann von Henneberg, der in seinem Gefolge gewesen war.

Ludwig erhebt sich und sagt zu Otto:

»Ihr seid nun König von Dänemark.«

Und während er das sagt, sieht Waldemar mit ruhig geschlossenem Mund vor sich nieder und streicht sich die weißen Hände.

»Euch kommt es nun zu, mir die Mitgift zu ersetzen, die mir Euer Vater seit neun vollen Jahren schuldig geblieben ist. Ich habe mich mit meinem Kanzler, der hier sitzt, beraten; – und nun will ich Euch einen Vorschlag machen, mit dem Ihr wohl zufrieden sein könnt. Doch zuerst müßt Ihr hören, was mein guter Freund Euch zu sagen hat.«

Er setzt sich und bedeutet seinem Freunde zu sprechen.

Graf Johann von Henneberg steht auf, neigt seinen schlanken Körper tief vor dem König und sagt:

»Herr König, im vorigen Jahre um Michaelis ritt ich im Auftrag des Herrn Markgrafen nach Dithmarschen. Ich verhandelte da mit den angesehensten Bauern. Man fragte mich über vieles aus, aber doch über nichts mehr, als über Euer Schicksal. Ihr müßt wissen, daß einer der Bauern, der unter den vordersten auf der Loheide gewesen war, wo die Dithmarscher den Dänen in die Flanke fielen, gesehen hatte, wie ein junger, verwegener Reiter dicht unter den Augen des Grafen gefangen genommen wurde. Ihr waret es gewesen, und in Euch hatte er den Mann wieder erkannt, der einmal seine Tochter gerettet und sie auf seinem Pferd durchs Feindesland hindurch nach Hause gebracht hatte. Ich bezweifelte, daß er recht gesehen hatte. Aber er sagte, er habe auch das dithmarscher Pferd, das Euch trug, wieder erkannt – denn er selbst habe es Euch aus Dank zum Eigentum gegeben. Hätten die Bauern gewußt, wer Ihr waret, als Ihr arm und abgerissen auf seinen Hof kamet, dann hätte kein Dithmarscher gegen Euch und Eure Sache das Schwert geführt. ›Wir Dithmarscher wollen nur Frieden in unserem Land‹ – so sprach der Bauer – ›und wir dienten dem Grafen damals nur, weil wir an dem König von Dänemark alten Tort zu rächen hatten. An welchem Tag Prinz Otto die Hilfe der Dithmarscher braucht‹ – er bat mich, Euch das zu sagen, er, der Bauer, und die andern mit ihm – ›steht das Land ihm offen, und wohl fünfzehnhundert gute dithmarscher Männer sind bereit, ihm im Krieg zu dienen, um sich an dem Grafen zu rächen!«

Der Kanzler verbeugt sich vor dem König und setzt sich neben seinem Herrn nieder.

Aber Waldemar streicht sich die weißen Hände und starrt vor sich hin mit seinen kalten klugen Augen und seinem ruhig geschlossenen Mund.

Nun erhebt sich der Markgraf und sagt:

»Wollt Ihr nun meinem Rat folgen, mein lieber königlicher Bruder, dann zieht Ihr nach Dithmarschen und nehmet die Leute beim Wort zu Eurer Hilfe. Und dann biete ich Euch fünftausend Mann von meinen Brandenburgern, denen ich mich für den Sold verbürgen werde. – Und was denkt denn Ihr, Bo Falk, von denen auf Lolland und Falster – werden sie dem König beistehen?«

Bo Falk steht auf und sagt:

»Es gab keinen, den sie mehr liebten, als den König, so lange er Junker war. Sie liebten weder Euren Vater, noch den jungen König Erik, aber Euch liebten sie und Eure hochselige Mutter.«

Otto denkt an das, was der Pferdebauer in Paris gesagt hatte; er denkt an Martje und an ihren Vater – und die Worte tun ihm wohl.

»Was verlangt Ihr denn als Mitgift?« fragt er Ludwig.

»Für die Mitgift, die Euer Vater mir schuldig geblieben ist, und für diese meine Hilfe, die ich Euch verspreche, damit Ihr mehr als nur dem Namen nach König werden könnet – für all dies verlange ich, daß Ihr mir gebet die Hälfte von Esthland, von Eurem alten Erblehn – den Teil mit dem Schloß und der Stadt Reval.«

»Die Hälfte von Esthland ist es wohl wert, daß ich mir dafür Dänemark zurückgewinne. Ich gebe es gerne für die Mitgift und Hilfe.«

Otto hebt das Haupt und schaut zum Fenster hinaus über den blauen Sund hin. Die ganze Nacht hindurch hat er überlegt, was er tun solle; nun ist ihm alles klar.

Während Waldemar, sein Bruder, ihn mit seinem ruhig geschlossenen Mund und seinen klugen, kalten Augen von der Seite betrachtet, spricht er frei und offen von seinen Plänen. Er ist ja unter Freunden.

»Wenn also Ihr, mein lieber Schwager, und du, mein Bruder, einverstanden seid,« sagt er zum Schluß, »dann kommt Ihr gleich nach der Ernte nach Saxkjöbing, damit wir die Mitgift endgültig festsetzen und Zeit und Tag bestimmen, wann Eure Mannschaften eintreffen und wann wir den Zug gegen den Grafen unternehmen sollen.«

Während nun der Markgraf und der König einander zur Besiegelung ihrer Worte feierlich die Hand geben, schaut Waldemar mit seinen kalten, klugen Augen zum Fenster hinaus.

Er denkt an den deutschen Kaiser, der ihn mit dem Königsnamen genannt und ihm die Ehren eines Königs erwiesen hat. Er denkt an die Pfänder, die einzulösen er geschworen hat. Und er preßt seinen ruhigen Mund über einem Lächeln fest zusammen, sowie der Kaiser es zu tun pflegte.


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