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IV. Der große Mann

Lange hat Otto den Schlaf umsonst herbeigerufen. Und als er endlich kam, preßte er ihm den Schweiß aus mit seinen schmerzlichen, herzbeklemmenden Träumen. Nun reißt er sich mit einem jähen Ruck aus dieser Umarmung. Er wirft sich auf die Seite und starrt geradeaus in seine Zelle hinein. Der Mondschein liegt auf dem Lehmboden wie ein weißes, viereckiges, durch den Schatten der Fensterrahmen in kleine Felder geteiltes Tuch, und in diese weißen Felder zeichnet das Laub der Akazien draußen im Garten seine feinen Schattenbilder.

Er streckt die Arme aus nach dem weißen Hals und den schwarzen Augen und dem goldenen Haar, die ihn nicht loslassen wollen, weder bei Tag noch bei Nacht. Seine Augen brennen, trockene Wärme versengt seine Handflächen; in jedem einzelnen Glied fühlt er dieselbe prickelnde Unruhe.

Warum? – Was hat er getan? – Warum mußte er sie sehen?

Die Mutter, Erik, der milde Oheim Johann – alle tauchen vor ihm auf, nach einander, durcheinander; er versucht sie festzuhalten, aber er kann den weißen Hals und die schwarzen Augen und das goldene Haar nicht loslassen.

Ruft sie ihn? – Zieht sie ihn in diesem Moment herbei? – Hat sie ihn mit ihrem dunklen Blick verhext?

Er wirft sich nach der Seite, wo sie wohnt, und streckt stöhnend die Arme nach ihr aus.

Dann zuckt er zusammen, dreht den Kopf nach der Wand und versucht an etwas anderes zu denken.

Er ist nicht länger trivialis Trivialis: Scholar im Trivium. Das Studium der »sieben freien Künste« zerfiel in zwei Abteilungen. Die erste – das Anfangsstadium – umfaßte Grammatik und Dialektik und Rhetorik und wurde trivium genannt; der Name bedeutete, daß diese Wissenschaften seien wie »drei Wege, die zu demselben Ziele führen, nämlich zu der Beredsamkeit«. Die zweite Abteilung hieß Quadrium und umfaßte Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie. Die, so noch im Trivium waren, wurden »triviales« genannt, wovon unser heutiges »trivial« noch eine lebendige Spracherinnerung ist.. Er ist auf dem breiten Kreuzweg des Quadriviums.

»Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie sind die vier Wege, die alle zu demselben Ziele führen, zur Weisheit« – so sagte der alte Petrus, als Otto sich kürzlich bei ihm anmeldete.

Ach – der weiße Hals, die schwarzen Augen – wie die Augen eines leidenden Rehs in der Brunst!

Nein – nein – es gibt keine Hilfe – keine Rettung!

Er kreuzt die nackten Arme unter seinem Kopf und denkt an jenen strahlenden Tag vor drei und einem halben Jahre, als er die weiße Mauer des Clodwigturms von dem Gipfel des Genevièvebergs zum erstenmal sah.

Er denkt an seinen ersten Besuch bei dem Abt, dem er den Brief des Erzbischofs überreichte – an seinen ersten Gang zu Petrus de Dacia mit dem Brief von Oheim Johann.

Der Alte hatte ihn auf die Stirn geküßt und geweint; es war ja der Abkömmling großer Könige, der zu ihm kam.

Er denkt an die Spiele draußen im Freien – die Fechtübungen und die Ballspiele auf der Pfaffenwiese – an seine erste siegreiche Disputation, ob »die heilige Jungfrau nach der Überschattung durch den Heiligen Geist noch Jungfrau gewesen ist«.

An seinen lieben Freund denkt er, Franciskus den Römer, der heimreisen mußte wegen des Blutflusses, den er in den Nächten bei der schwarzhaarigen Anne von dem »roten Apfel« in der Garlandestraße davongetragen hatte.

An dem Abend, wo er ihn nach dem Schiff auf der Seine begleitete, an jenem Abend war er an ihrem Fenster vorbeigekommen.

Sie lag, die Arme unter der Brust gekreuzt, auf ihrem Kissen, starrte die Vorübergehenden an und lächelte ihnen mit ihren schwarzen, wehmütigen Augen ernsthaft zu.

Nie hat er ein Wort mit ihr gewechselt. Aber ihr Blick hat ihn verfolgt, wo er ging und stand. Bei der heiligen Messe steht sie vor ihm und zieht seine Gedanken von Gott ab.

Es gibt keine Hilfe, keine Rettung. Wenn ein Weib in ihrem Zimmer mit ihrer ganzen Seele und all ihrem Verlangen einen Mann lockt und verzaubert, dann kann ihn ihr niemand – kein Engel, kein Heiliger entreißen.

Es gab aber doch eine Zeit – einige Wochen lang – wo ihn die unendliche Kunst der Astronomie, die der alte Petrus lehrte, anzog.

Aber dann, in jener Morgenstunde nach dem Gelage in den »zwei Schwanen« – als die neuen Magister ihr Magisterium begossen – der Kopf war ihm wüst und schwer vom Rebensaft des Rheins und von normannischem Most – mit schwerem Herzen schlich er sich fort von den Lustigen, nahm den kürzeren Weg durch die Gärten, da kam er an der hinteren Seite ihres Hauses vorüber. Etwas zwang ihn, den Kopf zu drehen. Er wandte sich um. Da stand sie im ersten Morgengrauen an den Türpfosten gelehnt. Die Hitze ihres Bluts hatte sie aus dem Bette gejagt, und sie kühlte ihre Stirn in der Morgenluft, und das goldene Haar floß über ihren weißen Hals herab, von dem das Hemd abgeglitten war.

Ach – der weiße Hals – und ihre schwarzen Augen, die ihn lockten!

Sollte es wahr sein, was er erzählt – Carl der Lombarde?

Sie sei von einem bösen Geiste besessen, der Asmodäus heiße.

Der buhle mit ihr jede Nacht und bewache ihre Jungfrauschaft. Zwei junge Gesellen habe er getötet, als sie mit ihr ins Brautbett gehen wollten.

»Den einen von ihnen,« sagte der Lombarde, »habe ich selbst gesehen – es war ein Flammländer mit veilchenblauen Augen und mit schönen, starken Gliedmaßen – als er sich seinen Dolch hier unter der Brust ins Herz stieß. Beide Hände drückte er auf die Wunde und knirschte mit den Zähnen vor Schmerz. Und das Blut quoll in einem dicken Strahl heraus. Ich habe selbst gesehen, wie sie, die Hexe, sich über ihn beugte, ihn mit den Armen umschlang und ihren Kopf mit offenem Mund über die Wunde neigte, so daß das Blut auf ihren Hals spritzte. Und während sie trank, lächelte sie mit ihren schwarzen Augen in unsäglicher Wollust und schlang ihr goldenes Haar um ihn und lachte über den Tod in seinen Augen.«

Er ist ein Lügner, ein Verleumder, wie alle Lombarden!

Sie hat einen so milden Blick, wie ein leidendes, verwundetes Reh – wie ein Reh in der Brunst.

Von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, richtet sich Otto auf. Nun, nun sieht er, was ihr Bild in seinem Innern aus der Tiefe seines Herzens hervorgerufen hat.

Es ist ja die Hexe von Falster – sie, die auf dem Markt in Vordingborg ausgepeitscht worden war!

Seine Sinne verwirren sich. Das Blut kocht hinter seinen Augen – vom Herzen auf und ab – durch alle Glieder, so daß diese sich dabei krümmen!

Er springt aus dem Bett; schwer der Kopf, schwer die Glieder; es ist ihm, als seien sie geschwollen, so stark, daß er sich nicht mehr schleppen kann.

Der Mond ist schuld daran; er ist mondsüchtig.

Endlich richtet er sich auf – matt und still, geht ans Fenster und starrt in die Nacht hinaus.

Die gefiederten Blätter der Akazien rühren sich leise. Tausend unbestimmte Bewegungen erwachen in den Schatten des Gartens, und durch das Laub der hohen Bäume im Karmelitergarten geht ein sanfter Hauch wie aus weiter Ferne. Das erste Morgengrauen dämmert im Nordosten hinter den Häusern auf.

Gleichzeitig dringen klappernde, rasselnde Laute vom Kloster her durch die Luft.

Der Chor der Matutine Matutine: die Klostermesse beim Morgengrauen. tönt flüsternd und mahnend aus der Klosterkirche.

Ja – den Bruder Galfred – Doktor theologiae Galfridus Cornubiensis, der neulich in seiner Vorlesung über Augustinus und seine Anfechtungen so freundlich zu ihm herübersah, als ahne er, was der arme Scholar zu leiden hatte – ihn will er aufsuchen.

Gleich nach der Messe kommt er zurück und geht in seine Zelle. Dann will er – Otto – zu ihm gehen und ihm seine Herzenswunde offen zeigen, ihn bitten, die Krankheit, die ihn getroffen, zu mildern und zu beschwören. Er kann sie nicht länger allein tragen.

Er öffnet die Tür neben dem Fenster, springt in den Garten hinaus, klettert auf die alte Regenwassertonne an der Mönchstüre, klammert sich fest, setzt den Fuß in das Loch eines herausgefallenen Mauersteins – nun ist er droben. Dann gleitet er hinab ins hohe, weiche Gras. Und nun steht er in der Zelle des Mönchs.

»Was wollt Ihr von mir, domicelle?« fragt Galfred und nimmt Ottos feine weiße Hand in seine beiden, die sich hart anfühlen wie Gerberrinde. Hinter den struppigen grauen Haaren, die unter der plumpen Nase hervorstehen, sieht Otto zwei weiche Lippen, und das ganze Gesicht betrachtet merkwürdig nachdenklich Ottos schmalen, bebenden Mund.

Otto sucht verwirrt einen Augenblick nach Worten.

»Da ist ein Name, den ich in meinem Buch fand – er heißt Asmodäus – wer ist das?« – Ein gefallener Erzengel oder –?«

»Asmodäus ist einer der obersten Dämone. Er ist in Blutschande gezeugt, in Seelenbrunst zwischen Tubalkain und seiner Schwester Noema. Er tritt an das Lager schlafender Jungfrauen, umgarnt ihren Schlummer und buhlt mit ihnen in ihrem Blut und in ihren Sinnen. Im Buch Tobias könnt Ihr darüber lesen – Asmodäus kam zu Sara, der Tochter Raguels.«

»Sara?«

»Ja, Sara. An ihr Lager kam er – in ihren Schlaf und in ihre Träume hinein drängte er sich und betörte sie. Er empfand Liebessehnsucht nach ihr. Aber sieben junge Männer kamen zu Raguel, einer nach dem andern. Und jedem von ihnen versprach Raguel seine Tochter. Aber nach der Brautnacht fand man sie vor der Schlafkammertür liegen – den einen nach dem andern – von Asmodäus bösen Krallen erwürgt. Da kam der achte – und dieser war Tobias. Aber der Engel Raphael offenbarte sich ihm und befahl ihm, das Herz und die Leber eines Fisches, der tot ans Ufer geschwemmt worden war, zu nehmen und sie auf glühende Holzkohlen zu legen, bis sie hart gebraten seien. Und in der Brautnacht, wenn er ihr Lager suche, dann solle er das Gebratene in ihre Herzgrube legen. Der Dämon werde alsdann für immer ausfahren. Und Tobias tat, wie der Engel geboten hatte – und siehe, der Dämon fuhr aus unter Heulen und Wehklagen, und von dieser Stunde an war Sara erlöst.«

Mit seiner ganzen Seele hängt Otto an den Augen des Mönchs. Seine hohe Gestalt mit den abfallenden Schultern beugt sich vor und schwankt sonderbar hin und her. Dann tastet er nach den Händen des Mönchs, die sich ihm entgegenstrecken; und er wirft sich nieder und beichtet, mit überstürzenden Worten stammelnd, seines Herzens sündiges Begehren.

Bruder Galfred fährt liebkosend über Ottos langes braunes Haar, das über sein Gewand hinabwallt. Er spricht vom Beten und Fasten, was die Seele vom Körper loslöse und dem Gemüt eine wunderbare Macht über alle sündigen Gedanken verleihe. Das große Mysterium des Glaubens sei es, das dies bewirke. Denn die Weisheit der Welt sei eine Torheit vor Gott und die Weisheit des Fleisches, das sei der Tod. Aber während er tröstende, milde Worte an Ottos Ohren dringen läßt, stehen der weiße Hals, die schwarzen Augen und das goldene Haar unablässig vor dem Knienden.

Bruder Galfred spricht immer weiter. Er spricht, um das junge Blut zu dämpfen und den wilden Sinn in neue Bahnen zu leiten. Von dem großen Wunder spricht er, das vor ganz kurzem in Mailand geschehen sei, wo Bruder Lullius, sein alter Studiengenosse vom Berge Geneviève – Dr. theol. wie er selbst – dieser heilige Mann Gottes – den lapis philosophorum lapis philosophorum: der Stein der Weisen. gefunden habe. Gold – das reinste, gediegenste, roteste Gold könne er aus Blei und Kupfer herstellen, und nun wolle er die christlichen Leute aller Herren Länder zu einem neuen Kreuzzug gegen die Türken und« Juden führen. Er habe eine Botschaft an den König von England geschickt, um ihm Schwert und Heer für den Herrn um Gold abzukaufen. Und der König habe einen vertrauten Mann geschickt, um ihn zu holen, und auf der Reise nehme er Aufenthalt hier in Paris.

»Wißt Ihr das nicht, Junker Otto?« – An diesem Morgen soll er mit einer Prozession an der Seinebrücke abgeholt werden, wo er mit seinem Schiff von Sens liegt. Er ist ein großer Astrolog, gerade wie der alte Petrus, der Lehrer seiner Jugend. Ihn will er besuchen und bei dem Abt zu Gast sein. Vielleicht wird er dann seinen alten Freunden die kostbare Tinktur zeigen und vor ihren Augen eine Probe seiner Kunst ablegen, im Laboratorium des alten Petrus, wo er diesem einst als Schüler zur Hand ging.

»Möchte der domicellus das nicht auch sehen?«

Otto ist aufgestanden. Der weiße Hals, die schwarzen Augen, das goldene Haar haben ihn losgelassen. Nun sehnt er sich nach dem wunderbaren Neuen.

»Ja, ja.«

»Ich werde Petrus bitten, Euch hineinschlüpfen zu lassen. Vielleicht könnt Ihr den großen Mann dazu bewegen, Euch das Horoskop zu stellen. Denn er liest in den Sternen, wie Ihr und ich in den Büchern lesen.«

Otto ist nun ganz wach. Hingerissen schwankt er dem Neuen entgegen. Mit der schwindenden Nacht glitt der weiße Hals ins Dunkel zurück.

Er nickt Bruder Galfred zum Abschied zu, klettert wieder über die Mauer – geht durch den Garten – hinaus auf die leere morgenhelle St. Genevièvestraße mit ihren grauen, windschiefen, verfallenen Häusermauern; wie gebückte Gespenster, die von dem aufsteigenden Licht festgebannt sind, stehen sie im Morgengrauen da.

Der goldene Streifen hinter der Notre-Dame-Kirche dort über der Insel in der Seine öffnet sich wie ein Vorhang, der seine Farbenpracht über Himmel und Erde ausbreitet. Hinter der Stadtmauer dort drüben wird das erste schwache Geräusch des täglichen Lebens laut.

Er geht den Berg hinunter – nach der Seine. Dort angekommen, wirft er die Kleider ab, springt in den Fluß und badet alle Dünste der Nacht in dem reißenden Strom weg.

Während er sich wieder ankleidet, fällt sein Blick auf den weißen Bauch eines Fisches, der, durch die Strömung von den Haufen am Ufer losgerissen, matt glänzend daliegt.

Da tauchen Bruder Galfreds Worte in ihm auf. Er denkt an Sara und ihre sieben Männer und bückt sich halb gegen seinen Willen nach dem Fisch, betrachtet ihn einen Augenblick wie in Gedanken und steckt ihn dann in die innere Tasche seines seidenen Mantels.

Vorsichtig schaut er sich um wie ein Dieb. Er hätte es am liebsten vor sich selbst ungesehen getan, denn er will es nicht tun; aber er tut es doch, weil er muß.

*

Der Zug setzt sich langsam in Bewegung.

An der Spitze schreiten die Pedelle mit ihren silbernen Zeptern – dahinter die Würdenträger, und die Scholaren schließen sich an, je nachdem der Zug in der stark abfallenden Straße an ihnen vorüberkommt.

Als der Lombarde Carl vor dem Collegium Dacicum Collegium Dacicum: das dänische Collegium. ist, sieht er Ottos hohe, vorgebeugte Gestalt über die andern herausragen.

»Komm mit, dänischer Otto!« ruft er, indem er über den Kopf seines Nebenmannes Otto zuwinkt. Dieser bahnt sich einen Weg zu ihm hin.

»Wißt Ihr etwas von diesem Raimund Lullius, den wir empfangen sollen?« fragt Otto.

»Ob ich etwas weiß? – Er ist der größte Astrolog der Welt – und kürzlich hat er den Stein der Weisen gefunden. Wißt Ihr das nicht? – Als jung war er ein Taugenichts, ein liederlicher Bursche wie nur einer von uns. Er diente am spanischen Königshof. Schön war er, und alle Frauen fielen ihm zu, nur eine einzige nicht. Aber sie allein wollte er. All der andern, die sich so leicht gaben, war er überdrüssig. Sie allein wollte er auf seinem Lager haben.«

(Die schwarzen Augen und der weiße Hals – und das Goldhaar!)

»Ambrosia di Castello, hieß sie. Und sie war herrlich anzuschauen – wie nur eine – aber sie wies ihn kurz ab. Als er jedoch Nächte hindurch vor ihrer Kammertür lag, da erbarmte sie sich eines Nachts über ihn und öffnete ihre Tür; aber als er sie umarmen wollte, schlug sie ihr Brusttuch zurück und zeigte ihm ihre weiße Brust unverhüllt. Und da war diese wie eine einzige eitertriefende Wunde. Der Krebs hatte an der einen Brust alles Fleisch weggefressen, so daß sie wie eine ausgehauene, mit Eiter gefüllte Augenhöhle nach der andern, die weiß und voll war, hinüberstarrte.«

Otto greift nach des Lombarden Arm; ein Schauder überläuft ihn. Wenn ihr weißer Hals unter dem Brusttuch von Eiter triefte!

»Da wandte er sich ab – der Ritter – von Abscheu und Entsetzen ergriffen. Er entsagte der Welt, hüllte sich in die Franziskanerkutte und studierte Gottes Wort und die Wissenschaften. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, ich hätte die Augen zugemacht, meinen Mantel über ihre Brust gebreitet und all die weiße Herrlichkeit, die noch da war, genommen.

Mönch kann man ja immer werden – nachher.«

(»Dann könnte ich nachher Mönch werden! – Und was hat er nicht erreicht? – Aber er entsagte – auch seinem sündigen Begehren.«)

Die Prozession hat die kleine Brücke erreicht, wo die Straße über den Fluß zur Insel führt.

Nun hält der Zug – ungefähr hundert Schritt vom Übergang entfernt, wo große Teppiche über die hohen Flußufer gebreitet sind.

Jedermann nimmt den Hut ab. Ein Murmeln geht durch die lebendige Masse. Der Sonnenschein fällt auf einen kahlen Schädel, der über die andern emporragt. Ob –

Nein – es ist nur ein Mönch. Wann kommt er nur, der große Mann?

Nachdem sie drüben angekommen sind, treten alle auf die Seite. Nur der Mönch bleibt auf dem hohen Ufer stehen.

Seine lange dunkelbraune Franziskanerkutte hängt in großen Falten um seine hohe, magere Gestalt; er schaut, während ihm die Sonne gerade in die Augen scheint, über die Felder, über die Dornenhecken – hinauf zu Genovevas heiligem Berg, wo der Clodwigsturm ehrwürdig Wache hält über all die alten Häuser, Kirchen und Klöster. Von des Turmes oberstem Stockwerk, wo der alte Petrus sein Laboratorium und seine Sternwarte hat, starren die dunklen Gucklöcher den Mönch auch an, als erkenneten sie die alten Augen, die gealterte, knorrige Gestalt.

Was will der arme Mönch in seiner braunen Kutte hier zwischen all den hohen Herren? – Wann kommt er denn selbst, der große Mann?

Aber der Mönch bleibt dort in der Sonne stehen, als sei er der, dem all dies gelte.

Und siehe – nun wirft er sich auf die Knie, bückt sich tief auf den Teppich hinunter und drückt seine Lippen auf den Pariser Boden.

In einem Nu werden alle Hüte und Mützen geschwenkt, ein tausendstimmiges Hurra braust über das gebeugte Haupt hin.

Der Mönch erhebt sich und wendet sich der Menge zu. In seinem bartlosen Gesicht ist das eine Auge von etwas Schwarzem verdeckt wie ein verhängtes Fenster.

»Er hat eine Klappe vor dem Auge!« sagt der Lombarde Carl und ergreift Otto am Arm.

»Er hat nur ein Auge!« ertönt es aus der Reihe.

»Vielleicht riß er es aus, weil es ihn ärgerte«, denkt Otto.

»War es Ambrosias Brust, die er nicht vergessen konnte? Hat sie ihn wohl die Nächte hindurch verfolgt, wie mich der weiße Hals, die schwarzen Augen und das goldene Haar? – Sein Auge hatte ihn geärgert, deshalb riß er es aus.«

Otto fühlt einen schmerzhaften Stich in seinem linken Auge.

»Seht – seht!« ruft ein Scholar etwas weiter vorne, »seht den Strick um seinen Leib – den Strick des Mönchs. Er leuchtet in der Sonne wie reines Gold!«

Alles reckt den Hals. Ist es ein Wunder – das Gott ihm für seinen Gruß getan hat? – daß der grobe hänfene Strick des Franziskaners in Gold verwandelt ist – oder –

»Er hat es selbst getan,« sagt der Lombarde Carl und denkt an den Stein der Weisen, »er hat sich eine goldene Geißel gemacht – weil –«

»Bußfertigkeit und Reue machen den wahren Reichtum aus«, sagt der Schotte Robert mit seiner Grabesstimme.

(»Die Weisheit der Welt ist eine Torheit vor Gott, und die Weisheit des Fleisches ist der Tod!« hatte Bruder Galfred in der Nacht gesagt.)

Nun treten alle näher.

Da ist der alte Petrus de Dacia. Verzückt hängen seine großen blauen Augen an der Gestalt des Mönchs. Sein Mund steht offen, als lausche er der Sphärenmusik. Sein langer, weißer Bart mit den flachsgelben Strähnen an den Mundwinkeln, wallt ihm wie ein Wasserfall über Wangen und Kinn, und er legt seinen Arm um Bruder Galfreds Schulter, um den Körper bei dem himmelfrohen Schweben des Geistes zu stützen.

Als sie sich nähern, beugt sich Otto vor, um den großen Mann genau zu sehen, der wie eine knorrige Eiche zwischen des Rektors blätterreichen und des Abts tannenschlanker, düsterer Gestalt steht.

Indem der Mönch an der Stelle vorbeikommt, wo Otto sich vorgedrängt hat, zieht dessen merkwürdiger, schwimmender Blick das Auge des großen Mannes auf sich – das unverhüllte rechte Auge.

Es ist groß und braun. Der Augapfel ist nicht weiß oder bläulich, sondern gelb mit feinen roten Äderchen.

»Er sieht mich – er sieht mich!« denkt Otto und hält das braune Auge fest – kommt es von der heiligen Kasteiung – von der ewigen Glut der Weisheit, daß es brennt – oder ist es der Widerschein von dem roten, flimmernden Gold auf dem dunklen Grund des Schmelztiegels, der in seinem Auge flammt?

Nun erblickt Bruder Galfred Ottos blasses Gesicht, das sich über die andern erhebt. Er nickt ihm lächelnd zu und flüstert dem alten Petrus etwas ins Ohr.

Der Greis wendet suchend den Kopf nach der Reihe der Scholaren, und sein Blick fällt auf Otto. Dann neigt er das Haupt ganz leicht und senkt die schweren Lider über seine milden, blauen Augen. Und Otto versteht, daß ihm um Bruder Galfreds Willen seine Bitte gewährt ist.


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