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VII. Heim!

Otto liegt neben der Weißdornhecke am Boden, die Arme unter dem Nacken gekreuzt. Und ein klarer Septemberhimmel wölbt sich über ihm. Schläfrig sucht sein Blick die zwitschernden Vögel über seinem Kopf. Dann gibt er das Suchen auf, und sein Auge ruht starr auf dem großen Stoppelfeld zu seinen Füßen, das sich nach der Seine hinab vor ihm ausbreitet; der Fluß zieht blau und klar unter dem Morgennebel hin.

Hinter ihm stimmt Paris seine Saiten für den jungen Tag, der sich ringsum erhebt.

Otto reckt die Glieder im Sonnenschein.

Zwei Monate von lauter Nächten.

Wo bleiben die Tage?

Da drunten am Ufer, da stand er – der große Mann!

Könnte er mich jetzt sehen – in meiner Erbärmlichkeit – in meinem Elend!

Sie fühlt nichts – sie sieht es nicht. Nur Lust und Glück und Lächeln – wie sie lächeln kann mit ihrem ganzen weißen Körper!

Eine solche Macht hat sie – eine solche Kraft ist in ihrem Blick, daß ich sie nicht aufgeben kann, obgleich ich sie verachte, verabscheue und verfluche. –

Hüte dich vor dem Weibe!

Ha, ha – hüte dich vor deinem Schicksal! – Es hängt über dir mit all seinem Sternenlicht. Tiefer und immer tiefer senkt es sich herab und drückt hinunter und schiebt – und wenn es gleitet, wer kann es aufhalten –

Außer Gott?

Ob er wohl wirklich dort sitzt – hoch da droben hinter dem Blau? Was hilft mir das, wenn der Satan tief unten in der Erde sitzt, die mir am nächsten ist, und seine Krallen höher und höher unter mir ausstreckt, um zu versuchen, ob er mich wieder in seine Gewalt bekäme?

Oder ist Gott es, der bewirkte, daß ich von den Studien weglief – daß ich dem Lombarden Carl und den andern ausweiche – daß ich meine Zelle vor Bruder Galfred verschließe – daß ich mein Geld verschwendet, meine Kleider versetzt habe?

Es liegt im Blut – es ist ein Erbteil – das Versetzen – Vater und Großvater haben es auch getan. Land und Volk haben sie verpfändet – ich habe nur Kleider und Bücher zum Versetzen – und meinen Ring.

Nachdenklich dreht er den schweren Ring mit dem funkelnden Stein – er bekam ihn als Taufgeschenk von Oheim Johann – es ist das Einzige, was er noch hat.

Warum kommt keine Nachricht – kein Geld? Seit vier Monaten keine Botschaft.

»Mutter, hast du dein Kind vergessen?«

Das Auge wird ihm feucht, und wie ein bittendes, sehnsüchtiges Kind streckt er die Arme aus nach der fernen Heimat, der er zu früh entrissen wurde.

»Herr Jesus – was soll aus mir werden? Meinen ganzen Körper durch den Schmutz gezogen – keine Gedanken – keinen Frieden! Nichts hab ich gelernt – studieren kann ich nicht mehr – nichts kann ich.

›Ist dies der Priester?‹ höhnt Erik. ›Wo bleibt der Erzbischof?‹ fragt Meister Fulbert und grinst mit seinen gelben spitzigen Zähnen. Vater rast und schreit – und der Oheim schüttelt den Kopf und geht von mir weg, wie von einem Pestkranken. Und Mutter – sie fragt nicht – höhnt nicht – sie sieht mich nur an mit ihren großen betrübten Augen –

Nein – nein, diese Schande kann ich nicht ertragen! Niemals kehre ich zurück – ausgestoßen – einsam! – Unter dem großen hohen Himmel – allein!«

Eine unendliche Müdigkeit erfaßt ihn. Er denkt nichts mehr. Er sinkt in einen Zustand zwischen Schlaf und Betäubung.

Pferdegewieher dicht an seinem Ohr.

Er hebt den Kopf.

Eine junge Stute mit lustig gespreizten Beinen steht in der frischen Morgenluft da und frißt von dem Gras am Weißdornhag.

Drunten auf der Landstraße am Fluß taucht ein Reiter auf, hinter sich zwei Pferde mit langen, flatternden Mähnen. – Er hält sie an den Halftern, die an seinem Sattelgurt festgemacht sind.

Nun reitet er den Abhang herauf – Otto entgegen.

»Hol dich der Teufel – du verdammtes Vieh!«

Mit einem Satz ist Otto auf.

»Das ist dänisch – jütisch – Herr Jesus – es ist jütisch!«

Die rote Farbe des Pferds gegen die blaue Luft, der breite gewölbte Rücken des Mannes dort –

Die Heimat ist's, die ihm entgegenkommt!

Das Stoppelfeld, wo der Pflug geht – die Vögelein, die an der Hecke zwitschern –

Die Heimat – Falster –

Nun wendet sich die Stute und läuft auf ihn zu und hinter ihr der Mann mit den galoppierenden Pferden rechts und links. Er zerrt an den Halftern und flucht –

Wie süße Musik – wie der Glockenton einer Dorfkirche klingt es in Ottos Ohren.

Nun wird der Reiter ihn gewahr.

»Gott zum Gruß und guten Morgen!« ruft Otto und streckt ihm die Arme entgegen.

Der Mann sperrt Mund und Nase auf; langsam und bedächtig setzt er sich im Sattel zurecht, betrachtet Ottos schwarzen Mantel und die langen dunklen Strümpfe.

»Ja, ich bin ein Däne wie Ihr – das habt Ihr nicht erwartet. Ich bin Scholar – Kleriker hier in Paris. Reitet näher heran und steigt ab. Erzählt mir von daheim!«

Der Mann nähert sich. Freude glänzt in seinem Auge hinter dem pfiffigen Blick. Er springt aus dem Sattel und bindet die Pferde an die Weißdornhecke. Nun nähert sich die galoppierende Stute ihren Kameraden und grast friedlich an deren Seite.

»Ihr seid Jütländer – woher kommt Ihr?«

»Aus der Gegend von Ribe,« antwortet der Mann zögernd und mißtrauisch und zurückhaltend.

»Ich habe da gute jütische Pferde, die ich verkaufen möchte.«

»Soweit her kommt Ihr?«

»Ich bin mit ihnen durch Südjütland geritten, denn Ihr wißt doch wohl, daß der Marschall das Recht an die Hansa verkauft hat? Kein Pferd aus Ribe darf eingeschifft werden, außer von den Leuten der Hansa.«

»Der Marschall? – Ludwig Albrechtson? – Was tut der in Ribe?«

»Seid Ihr so lange schon weg?«

»Seit vier Jahren bin ich nicht mehr in Dänemark gewesen.«

»Almind und Jälling und Malt und Gjern und Ribe und Kolding und Viborg und Münzrecht und Zoll – und alles, was gut ist – das bekam er von dem Grafen und dem kleinen Herzog zum Dank dafür, daß er den König verjagt hat.

Nun ist er tot, der Marschall – Gott verdamme seine Seele – er ließ in Ribe falsche Münzen schlagen und verjagte uns von unseren Höfen. Ihr müßt wissen, daß ich eine ganze Halbhufe in Vedsted besaß, aber er kehrte sich gegen mich und jagte mich ohne Grund von Haus und Hof.«

»Aber der König – König Christoffer – er ist doch noch König im Land?«

»König? Ihr seid lange weg gewesen, geistlicher Herr, ha! ha! Wenn auf dem Boden, der ihm gehört, hundert Pferde grasen können, dann will ich Euch alle meine Gäule schenken. Versetzt hat er es – Porse starb – meint Ihr, er hätte es wagen dürfen, Esthland zurückzunehmen, das er ihm damals gab, obgleich es altes Erbgut in des Königs Geschlecht gewesen war? König – ja prosit! In Skanderborg sitzt er und hält Gericht über sein Pferd und seinen Hund und seine mageren Knappen und all sein deutsches Gesindel, das sein Tochtermann – der Brandenburger – ihm aus Gnade und Barmherzigkeit geschickt hat. Wenn er nicht bisweilen ein fettes jütisches Kloster plünderte, oder ein paar Altartruhen erleichterte, dann –«

»Das ist gelogen.«

»Gelogen? – Wißt Ihr es denn besser als ich, der eben jetzt in der Ernte wegritt?«

»Aber die Königin – sie ist doch gut und –«

»Die Königin, ja – aber sie ist ja jetzt tot.«

Otto fährt nach seinem Kopfe. Er wird todesblaß, und seine Beine fangen an zu zittern. Aber der Bauer sieht es nicht. Er ist daheim im alten Land. Kummer und Heimweh lauern trotz allem in seinen Mundwinkeln, und sein niedergeschlagener Blick folgt der Hand, die an der Halfter auf- und abstreicht, als sei es ein Stück des dänischen Bodens.

»Sie starb in der St. Annensnacht.«

»St. Annensnacht«, flüstert Otto; es ist dieselbe schreckliche Nacht, die den harten Knoten in sein Leben schlang.

Otto wirft sich auf den Rain und vergräbt das Gesicht im Gras, damit der Bauer seine Bewegung nicht sehe.

»Kürzlich hab ich mit einem Mann von Falster gesprochen, er hieß Jeppe Dip – er war im Gefolge des Grafen Johann und lag vor Rendsborg, wo ich durchkam – er meinte, es werde schlimmer für Dänemark werden, weil sie nun gestorben sei; denn viel Gutes und Mildes soll sie auf Falster getan haben. Der Sohn Erik, der sich jetzt auch mit dem Königsnamen brüstet – der sei böse und falsch und schlage dem Vater nach, sagte der von Falster.«

»Sind sonst keine Prinzen da?« fragt Otto mit leiser Stimme.

»Doch. Der Junker Otto; der habe der Mutter nachgeschlagen, das sagte der von Falster. Er selbst habe auf dem Markte zu Nyborg gehört, wie er einst für ein armes Weibsbild gebeten habe, die bis aufs Blut gepeitscht worden sei. Aber dann habe ihn der Bruder aus dem Land geschafft, weil das Volk ihn so gut leiden konnte. Und niemand wisse, wo er geblieben sei.

Ja, ja, das sind böse Zeiten, um in Dänemark zu leben – und eher soll der Teufel meinen Leib und Seele zu eigen haben, als –«

Otto hat ihm den Rücken zugekehrt; Tränen rollen aus seinen Augen zu Boden. Dann fährt er sich rasch über die Augen und wendet sich jäh an den Bauern.

»Was wollt Ihr für die Stute, wie sie dasteht – ungesattelt und ungestriegelt?«

»Sie ist wild und störrisch, die bekommt Ihr billig, wenn Ihr mir gute und gangbare Münze dafür gebt.«

Otto zieht den Ring des Oheims vom Finger.

»Diesen hier«, sagt er.

»Jawohl«, antwortet der Bauer und greift hastig danach, damit es den andern nicht wieder gereue.

Otto vergräbt beide Hände in die Mähne des Pferdes. In einem Nu sitzt er auf dessen Rücken.

Und als er droben sitzt, fühlt er sich daheim in Dänemark. Der Mund lächelt zu dem Kummer in seinem geblendeten Blick.

Nun kommt Junker Otto, ihr Leute, er, den Ihr so gut leiden konntet!

Dann nimmt er die Halfter in die Hand und setzt die Fersen ein. Die Stute macht einen Satz, aber er sitzt fest und lacht mit all seinen weißen Zähnen.

»Lebt wohl – und grüßt den alten Petrus!«

Der Bauer und seine Pferde schauen ihm verwundert nach.

Endlich findet er die Sprache wieder, und er ruft:

»Wer seid Ihr? – Von wem soll ich grüßen?«

»Von Junker Otto aus Dänemark!«

*

Otto sprengt über die Bremer Heide dahin.

Seine Hände sind blau vor Kälte, und sie umklammern die harte Halfter, ohne sie mehr zu fühlen.

Was ist das für ein weißer Gürtel, der dort drüben leuchtet?

Die Elbe? – Der Fluß ist gestiegen. Da und dort gleitet ein dunkler Punkt über den weißen Strom.

Otto hält das Pferd an und mißt den Abstand von dem kleinen Dorf, durch das er eben gejagt ist.

Still! – Stimmen in seiner Nähe – aus dem Gebüsch dort drüben.

Ein Weib schrie – laut und gellend durch die frostige Luft.

Jetzt schreit sie in Todesangst. Otto eilt dem Laut nach.

Dort am Saum des Gebüschs kämpft eine dunkle Gestalt mit etwas Weißem, das sich wehrt. An einem jungen Baum lehnt eine Lanze und sieht schweigend zu.

Noch ein gellender Notschrei – und Otto ist da. Der Kriegsmann hört nichts.

Otto bückt sich nach der Lanze, die schweigend zusieht. Mit beiden Armen schleudert er sie dem Kriegsmann in die Seite, so daß dieser umfällt. Der Verwundete brüllt vor Zorn und Schmerz. Während er sich windet, um wieder auf die Beine zu kommen, stößt ihm Otto seine eigene Lanze, die Zeuge seines Tuns, durch den Koller in die Brust.

Zwei Frauenaugen, vor Schrecken verwirrt, starren ihn weit offen an. Er nickt ihnen mit seinen eigenen großen blauen Augen beschützend zu. Das Blut schießt ihr in Gesicht und Hals, und die Hände tasten eilig nach der Brust, von der das Tuch weggerissen ist. Er faßt sie um den Leib und setzt sie vor sich aufs Pferd; er schlägt seinen Mantel um sie, und ihr Kopf berührt sein Kinn.

»Wohin?« fragt er plattdeutsch.

»Über den Fluß«, bittet sie in derselben Sprache.

Das Eis schwankt tief und laut unter den Hufen.

Das Pferd galoppiert, die Hinterhufe schlagen auf die harte Eisfläche. Noch ein Lauf im Zickzack die scharfe Böschung hinauf – und das wellenförmige, bewachsene, fruchtbare Marschland erstreckt sich weithin.

Otto läßt das Pferd im Schritt gehen, und nun spricht er mit der Frau, deren Körper an seinem atmet und ihm seine Wärme mitteilt.

Sie heißt Martje. Ihr Vater ist ein dithmarscher Bauer.

Zwei junge Männer warben um sie, der eine um ihr Herz, der andere um die Güter ihres Vaters, denn sie war das einzige Kind.

Sie wollte den einen, ihr Vater den andern. Das Jawort wurde dem Alten gegeben, und die Zeit kam, wo sie dem angetraut werden sollte, den sie nicht haben wollte. Er hieß Jürn.

Da wurde der andere schwermütig. Er ging fort über die Deiche hinaus auf die großen, weiten Wiesen und war dort allein mit seinem Leid. Er hieß Hans.

Eines Morgens fand man Jürn vor seinem Scheunentor mit zerschmetterter Hirnschale; Hans aber war nirgends zu finden.

Da zogen die Bauern mit Dreschflegeln und Äxten über die Deiche nach den tiefliegenden Wiesen; aber er war nicht dort bei dem Vieh. Und sie zogen weiter – hinaus zu den Furten. Da – auf der äußersten Hallig – da stand er hoch aufgerichtet und schwang die Springstange über seinem Kopf. Keiner von den Verfolgern wagte ihm nahe zu kommen.

Aber die Flut stieg über die grünen Niederungen – sie stieg und stieg; und die Männer standen im Boot und warteten mit ihren Sensen und Dreschflegeln.

Und drüben stand Hans bis zur Mitte im Wasser – bis an die Brust. Da hob er die Arme auf und rief:

»Martje – Martje – bete für mich!«

Er warf sich ins Wasser und schwamm mit langen Stößen dem Meere zu – dem Tod entgegen.

Aber Martje hatte er längst geheime Botschaft geschickt, daß er übers Jahr eines Nachts kommen werde und sie holen. Komme er jedoch nicht zu der bestimmten Zeit, dann solle sie für seine Seele Messen lesen lassen, denn dann sei er nicht mehr hienieden.

Als Martje die Nachricht seines Todes erhielt, da ward sie über die Maßen betrübt, denn sie hatte ihn lieber gehabt als Vater und Mutter, lieber als ihr eigenes Leben. Viele Messen ließ sie für seine Seele lesen, und wenn der Pfarrer ihm die Pforten des Himmels nicht öffnen wolle, dann wolle sie auch nicht hinein, sagte sie. Dann wolle sie lieber die Qual mit ihm teilen in alle Ewigkeit.

Gerade zu der Zeit geschah es, daß Graf Gert, der dem jungen Herzog Waldemar kürzlich die Krone entrissen hatte, die er schließlich dann sich selbst aufsetzte und Christoffer dem Namen nach wieder als König anerkannte – daß dieser böse Graf, der im Land regierte, die Hand an den hohen Diener des Herrn legte, an den Bischof Tyge von Börglum, ihm seine Güter raubte und ihn in Ketten und Banden davonführte. Im Namen des Königs tat er es, obgleich der König nicht gefragt worden war.

Aber der Papst in Rom, der über uns allen ist – legte Acht und Bann auf das ganze Reich um solcher Schlechtigkeit willen; und die Kirchentüren rosteten in ihren Angeln, die Glockenstränge hingen unbewegt und von Spinnweben umsponnen da, und alle Priester und Mönche saßen fett daheim. Alle Seelenmessen wurden eingestellt, und manche arme Seele, die die Gebete schon ein wenig aus dem Fegefeuer herausgehoben hatten, sanken wieder zurück in die schrecklichen Flammen. Kein Sünder konnte sich im Beichtstuhl das Herz erleichtern, kein Teufel aus unreinen menschlichen Gefäßen ausgetrieben und kein Vieh gegen Seuche und Krankheit besprochen werden. Und wo drei Menschen im Namen des Herrn beisammen waren, da war der Heiland nicht mehr mitten unter ihnen, wie er gelobt hatte, sondern Beelzebub war da, und der richtete es so ein, daß sie lästerten, anstatt zu beten.

Aber Martje ging zum Pfarrer in Büsum und fragte ihn, wie weit das Reich und der Bann reiche. »Bis zur Elbe«, lautete die Antwort. In der Klosterkirche zu Stade, da dürften Messen für Hans gelesen werden.

Am nächsten Morgen zog Martje gen Süden. Alles, was sie an Schmuck und Geld besaß, trug sie bei sich.

In Stade bezahlte sie Messen für Hans' Seele; und der Abt versprach ihr, daß Hans frei und erlöst aus dem Fegfeuer springen solle, wenn sie all ihr Hab und Gut, das sie als ihrer Eltern einziges Kind später besitzen werde, dem Kloster schenke.

Nachdem sie so Rettung gefunden hatte, machte sie sich auf den Heimweg. Aber einen Kriegsknecht von den Leuten des Lüneburger Grafen gelüstete es nach ihren traurigen blauen Augen und ihrer zarten Haut. Er ging ihr nach auf dem Weg; und als es dämmerte, bot er ihr seine Begleitung an. Zuerst redete er freundlich und bat um ihre Liebe, aber als sie das Gebüsch erreicht hatten, und sie sich noch immer weigerte, warf er sie um und wollte sie vergewaltigen.

Und nun bedankt sich Martje bei dem fremden Reiter.

Ottos Herz ist voll Mitleid. Dann erzählt er von seinem wilden Ritt durch Wald und Heide. Nur seinen Stand und seinen richtigen Namen verbirgt er vor ihr.

Sie reiten durch das alte Friesland – und betteln in den Höfen und Wirtshäusern, wo Martje auf der Herreise vorbeigekommen war.

Sie gelangen auf die flachen Wiesen von Dithmarschen zwischen den langen, geraden Deichen. Hier ist Martje daheim, hier kennt sie jeden Hof; und sie sind die Gäste der großen schweigsamen Bauern. Otto wird der Ehrenplatz neben dem Hausherrn oben am Tisch angewiesen, und wenn sie weiterziehen, werden ihnen Botschaft und Grüße mitgegeben.

Dann erreichen sie endlich Martjes Heimat. Und wie sie so auf den Hof geritten kommt – zu Pferd bei einem fremden Mann, da springen ihr die Hunde schwanzwedelnd und bellend entgegen, und der Bauer steht vor seiner Scheune und heißt sie willkommen.

Zwei Nächte und zwei Tage muß Otto dableiben. Der Bauer will ihn nicht ziehen lassen. Und er sinnt darüber nach, was er dem dänischen Kleriker, der von Paris kommt, geben soll. Da schenkt er ihm das beste Pferd aus seinem Stall. Und ferner schenkt er ihm neue Kleider, denn sein Mantel hat lange Schlitze. Und schließlich schenkt er ihm gutes Lübecker Geld zur Heimreise.

Dann zieht Otto von dannen.

Der Bauer und seine Frau sagen ihm Lebewohl. Martje steht daneben, große klare Perlen glänzen in ihren Augen, und es bebt leise um ihren Mund.

Aber in ganz Dithmarschen geht die Sage von dem dänischen Kleriker, der von Paris geritten kam und Martje aus feindlicher Gewalt errettete und sie zurückbrachte in ihre Heimat.

*

Was erhebt sich dort in einer langen Linie vor seinem Blick?

Ein Wall – höher als der Deich – steil wie eine Mauer.

Er reitet darauf zu, und nun hält er vor einem breiten Graben mit gefrorenem Wasser auf seinem Grund.

Dahinter ragt die »Dannevirke« auf, so weit das Auge reicht.

Aus Erde und Steinen ist sie errichtet, die Dannevirke, mit Rasen ist sie dachförmig gedeckt. Tausende von guten dänischen Armen haben ihre Kraft an diesen Bau gesetzt. Und Tausende von warmen dänischen Herzen haben sie mit ihrem Blut getränkt.

Wo sind die Steine jetzt? – Tief unter der Erde, die darauf geworfen ist, verstecken sie sich.

Dort – dort drüben, wo der Regen die Erde weggewaschen hat, wölbt ein Feldstein seine Brust am Wall heraus.

Dieser Stein hat große Tage gesehen. Er erzählt Otto von der Geschichte des alten Landes, und das Herz schwillt diesem in der Brust. Sein Auge starrt leer hinaus, und das Ohr lauscht auf die tausend stummen Stimmen, die in dem alten Wall gefroren liegen.

Nun wird der Wall höher. Keine Löcher zacken seinen Kamm mehr aus.

»Das ist der Margaretenwall«, denkt Otto, und er erinnert sich an das, was er von seiner Urahne gehört hat, von der Königin Margarete – das Spring-Pferd genannt – daß sie den Wall ausbesserte, so lange sie es vermochte. Dort drüben führt eine Brücke über den Graben. Sie ist herabgelassen, und die offene Straße führt hindurch, wie wenn Frieden im Lande wäre.

Die alte Winde ragt mit leeren, morschen Stangen in die Luft. Eine Krähe sitzt zusammengeduckt auf der Spitze der einen Stange und schlägt vor Kälte mit den Flügeln, um sich warm zu erhalten.

Ein Hirte treibt seine Schafherde über die Brücke. Otto redet ihn an und fragt nach dem Weg. Miteinander ersteigen sie den Kamm des Walls, und während das Pferd und die Schafe nach gefrorenem Gras suchen, zeigt der Hirte dem Fremden die Kirche im Norden, an der der Weg vorüberführt – dann wendet er sich nach der weißen Fläche der Loheide, die so viel Blut getrunken hat, und zeigt ihm die Rendsborger Türme im Süden, wo Graf Gert mit seinen Leuten im Winterlager liegt.

Möchte doch Gott gnädig sein und ihn und seine Stadt vertilgen mit Feuer und Schwert!«

Der Hirte sieht sich nach seinen Schafen um und pfeift seine Hunde herbei. Er muß heim, ehe es dunkel wird.

Dann treibt er die Schafe den Wall hinunter und über den gefrorenen Graben.

Hoch oben über der Herde schwebt ein Königsadler. Der Hunger treibt ihn so tief herunter wie noch nie. In der kalten reinen Luft kann Otto das schwarze Herrscherauge unterscheiden. Vielleicht wogt die Wärme aus den lebendigen Körpern zu ihm hinauf und wärmt ihm die kalte Brust.

Nun bedeckt ein Wolkenvorhang die letzte rote Linie am Hügelkamm gegen Westen.

Otto hebt lauschend den Kopf; ihm ist, als höre er die Abendglocken läuten, aber um des Grafen abscheulicher Bosheit willen dringt durch die stille schweigende Luft kein Laut an sein Ohr.

Er senkt den Kopf, nimmt die Mütze ab, wie er es von Kind auf getan hat, und betet sein Ave, obgleich ihn keine Glocke daran mahnt.

Aber während er so betet, den Blick über den Hals des Pferdes auf den Wall gerichtet, da hebt plötzlich das Pferd den Kopf von dem gefrorenen Gras, als habe jemand seinen Zaum berührt. Lauschend wendet es sich auf die Seite, als schaue es aufmerksam nach etwas aus und überlege in tiefen Gedanken.

Otto bricht sein Gebet jäh ab.

Der reifbedeckte Erdhaufen gerade vor ihm bewegte sich – und dort – und dort –

Sie bewegen sich alle – Erdschollen und Steine –

Am ganzen Wall hin bebt und wogt es. Das Pferd unter ihm zittert am ganzen Körper, und es hebt die Hufe, als trete es auf etwas Lebendiges.

Weiße Stirnen, mit den Spuren des Todes darauf, tauchen vor Ottos Augen auf, Gestalten mit Panzerringen über der Brust und Stahlschienen um die Arme.

Nun sieht er, daß sie es sind, die den Wall tragen.

Wenn sie Macht bekommen, sich frei zu machen und sich zu entfernen, dann sinkt der Wall in die Erde unter seinen Füßen, und das Land steht ohne Wehr.

»Bleibt, wo ihr seid!« ruft er angstvoll. »Seht ihr nicht, daß der Wall fällt?«

»Es ist kein anderer Wall da als wir«, tönt es ihm mit tausend tonlosen Stimmen aus den qualvoll schwankenden Köpfen entgegen.

»Der Wall ist aus unsern Körpern gebaut, aus unsern Knochen zusammengefügt, mit unserem Blut verdichtet. Aber ihr habt die Messen zur Rettung unserer Seelen aufgehoben. Und nun brennen wir – wir brennen –«

»Erlöse uns! – Erlöse uns!« stöhnt und seufzt es ihm entgegen mit ausgestreckten Armen.

»Ich kann nicht«, sagt er und läßt den Kopf sinken über dem schweren Kummer in seinem Herzen.

»Bist du kein Geistlicher! – Bist du nicht ausgezogen, um Priester zu werden?«

»Ich bin nicht Priester geworden«, flüstert er und sinkt im Sattel zusammen auf dem zitternden Pferd.

Sie wenden ihre weißen Gesichter mit den blauen Schrammen von ihm weg, Zorn und Verachtung drücken sich in ihrem verzerrten Mund und in den gebrochenen Augen aus.

Dort drüben schwankt der Wall wie große Wogen. Wer zu oberst liegt, wird auf die Seite geworfen, und über ihn weg drängen Köpfe hervor, und Arme, die größer und stärker sind und Felle anstatt der Panzer tragen. Ihre schwarzen und blauen Gesichter tragen die Spuren der Erde; vertrocknetes Blut hängt in ihren langen, wilden Bärten, hineingesickert aus Wunden, die von Heiden geschlagen sind.

»Räche uns! – Räche uns!« rufen sie mit düsteren, verrosteten Stimmen, die seit Jahrhunderten in der Erde gelegen haben.

»Ich habe keine Macht«, sagt Otto leise.

»Wenn du kein Priester geworden bist, dann hast du doch wohl ein Schwert, so gut wie einer von uns?«

»Ich habe kein Ritterschwert.«

»Er hat kein Ritterschwert!« tönt es mit schmerzlichem Seufzer durch die Reihen.

Dann wenden sie ihre weißen Gesichter mit Verachtung ab und der weiten dänischen Ebene zu.

Aber unter der Dunkelheit, die dort brütet, wogt die weiße Ebene wie ein lebendiger Teppich. Gestalten wimmeln hervor, in Gruppen und Scharen. Kopf an Kopf tauchen sie auf aus der Dunkelheit; sie schwingen blinkende Schwerter in der Luft, aber sie unterscheiden nicht zwischen Freund und Feind.

Von Falster Gebürtige sind es, deren Gesichter dunkel sind, weil wendisches Blut unter das ihrige gemischt ist, – Seeländer mit hellem Haarschopf – Einwohner von Fünen mit runden Wangen und herabhängendem Mund –, und Jütländer mit Gesichtern wie aus Holz geschnitten, den Mund zusammengekniffen wie eine Messerklinge. Sie rufen ihm zu:

»Wir wollen den Wall decken. Siehst du nicht, daß sie fliehen, die Tausenden von Seelen, die ihn tragen? Führe uns – leite uns – du, dort auf dem hohen Pferd!«

»Ich kann nicht!« sagt Otto leise und streckt ihnen flehend seine leeren Hände entgegen.

»Bist du nicht ein Königssohn?«

»Ich habe das Recht nicht.«

»Nimm es dir!«

»Dann muß ich den töten, der es hat.«

»Töte! – Töte!«

»Es ist mein Bruder!«

»Töte ihn! – töte ihn!«

Otto richtet sich hoch im Sattel auf und ruft den verirrten Schafen ohne Hirten zu:

»Ich kann den nicht töten, der das Recht hat!«

»Er kann nicht töten!« seufzt es aus einem aufgesperrten Mund nach dem andern; von einer Reihe zur andern dringt es, so weit die Ebene reicht.

Dann drängen sie sich zusammen, um die Böschung zu erklimmen – ihm entgegen. Aber sie können nicht hinüberkommen, weil alle zugleich vordrängen, und sie haben keinen Anführer, keinen König, der ordnen und führen könnte.

Der aus Tausenden von Körpern errichtete Wall wankt. Das Pferd zittert und schlägt mit dem Kopf. Otto kann es nicht länger halten; es ist verwirrt von Entsetzen vor dem Lebendigen unter seinen Füßen. Dann zieht er die Zügel an, setzt ihm die Fersen in die Seite, und im Sprung geht es den steilen Wall hinab.

Aber der Wind, der im Westen aus den dunklen Häfen fährt, hört all die klagenden Stimmen an dem alten Schutzwall. Hastig streicht er über die Loheide, duckt sich zusammen, läßt das Feuer in den Rendsborger Kaminen aufflackern und entzündet den Ruß in den alten Schornsteinen. Die Funken fliegen wirbelnd über die Dächer.

In derselben Nacht brennt das Schloß über Graf Gert und seinen Mannen nieder und mit dem Schloß noch viele der alten, stolzen Häuser.


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