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Apotheose

I

Stärker als irgendein anderer Philosoph hatte Voltaire, so konservativ er in manch einer Hinsicht war, die Revolution vorbereitet.

Er war denn auch von den Denkern des 18. Jahrhunderts derjenige, den die Revolution zuerst wertete. Im Jahre 1791 beschloß die Nationalversammlung an seinem Todestage (30. Mai) ihm die größte Ehre zu erweisen, mit der sie einen Toten auszeichnen konnte.

Voltaires Leiche sollte aus der Abtei in der Champagne, wohin sie bei Nacht und Nebel in einem einfachen Mietswagen geführt worden war, in das Pantheon zu Paris überführt werden.

Der Marquis de Villette, der sich während der Revolution in einen Mann aus dem Volke verwandelt hatte, einen einfachen Charles Villette, und der ein eifriger Journalist des Vortrupps der Bewegung geworden war, bewohnte noch immer sein Haus in der Rue de Beaune. Unmittelbar dabei hatten die Theatinermönche ein großes Mietshaus errichtet, und sie nahmen Ärgernis daran, daß einer der Mieter, ein Kupferstichhändler, als Inschrift auf das Schild über seinem Laden »Au grand Voltaire« gesetzt hatte.

Villette schlug nun vor, daß der »Quai des Théatins« den Namen ändern und in »Quai Voltaire« umgetauft werden sollte. 1791 setzte er das durch. Die neue Straßenbenennung sollte auf Steinen aus der Bastille angebracht werden, in der Voltaire selbst gesessen hatte.

Der Beschluß, der in der Nationalversammlung gefaßt worden war, hatte seine natürliche Voraussetzung in der früher getroffenen Bestimmung, daß alle Mönchsgüter eingezogen und verkauft werden sollten, die Abtei Scellières wie die übrigen. Wem sollten aber dann Voltaires Überreste zufallen?

Es wurde der Vorschlag gestellt, daß der Sarg nach Paris geführt und zu Füßen des Denkmals Heinrichs IV. untergebracht werden sollte, in der Nähe des Königs, den Voltaire verherrlicht, ja, dessen Ruhm er geschaffen hatte.

Aber Camille Desmoulins hatte dies damit verglichen, daß man das Bild des Ewigen zu Füßen des St. Crépin (einer lustigen Theaterfigur) aufstellte. Nein, für Voltaire mußte ein Tempel gebaut werden.

Am 17. November 1790 hatte das Théâtre Français eine Wiederaufführung von Voltaires Brutus vorgenommen. Das Stück wurde unter ungeheurer Erregung gespielt. Als Mirabeau eintrat, wurde er mit dem Zurufe: Brutus! begrüßt. Der erste Akt, der ganz kurz war, dauerte eine Stunde, denn überall fand man Anspielungen; jeder Vers wurde der Vorwand zu einer Demonstration. Doch versuchte man noch, den gewaltigen Applaus für die Republikaner auf der Bühne dadurch gutzumachen, daß man ab und zu »Es lebe der König!« rief. Es waren besonders die Verse:

Mais je te verrai vaincre, ou mourrai comme toi,
Vengeur du nom romain, libre encore, et sans roi,

die vereinzelte gedämpfte Hochrufe auf den König hervorriefen. Doch bald empfanden die Zuschauer stärker für ihre eigene Würde als für die Ludwigs des Sechzehnten, und sie ergänzten den Ruf mit: Vive la nation! Vive la liberté! Man wird denn begreifen, daß in der Nationalversammlung Einstimmigkeit bestand, Voltaire nach Paris zu überführen.

II

Die Bewohner der Gemeinde Romilly wünschten jedoch, die Leiche zu behalten. Schließlich baten sie, den Kopf und den rechten Arm behalten zu dürfen. Aber das roch zu sehr nach römischem Katholizismus, erinnerte an Heiligenknochen und Reliquien.

Trotzdem wurde der arme Leichnam geplündert. Der Fersenknochen des einen Fußes wurde von einem Bewunderer gestohlen. Den Mittelfuß gab Dr. Bouquet, der bei der Öffnung des Sarges zugegen war, an das Museum in Troyes. Im übrigen war der Körper unbeschädigt. Das Leichenhemd war schwarz geworden und klebte am Körper, das Fleisch war eingetrocknet. Ein Eichenkranz wurde um seinen Kopf gewunden und der Körper in einen Sarkophag gelegt.

Auf dem Wege von Scellière nach Romilly ging der Zug zwischen zwei Reihen Menschen hindurch, die überall frische grüne Zweige oder Zypressenzweige schwangen. Blumen wurden auf das Tuch geworfen, das den Sarg bedeckte. Frauen hielten ihre Kinder hoch und ließen sie den Sarkophag küssen.

Sonderbarerweise fürchtete man einen Überfall feindlich Gesinnter und machte stolz bekannt, daß sie erst den Widerstand von 2000 Armen brechen mußten, bevor sie der Prozession diesen Schatz entreißen konnten.

Man hatte von Voltaire feindlicher Seite in Paris geltend gemacht, daß die Überführung der Leiche nach der Hauptstadt, wie sie vorgesehen war, den Magistrat 300 000 Livres kosten würde. Villette machte mit Nachdruck geltend, daß die Freunde des Verstorbenen alle Kosten übernahmen, so daß die Stadt Paris höchstens eine Ausgabe von 18 000 Livres hätte, während mindestens 18 000 Fremde herbeiströmen würden, um der Festlichkeit beizuwohnen und vielleicht für 80 000 Livres verzehren würden.

Durch ein merkwürdiges Zusammentreffen wurden Ludwig der Sechzehnte und Marie Antoinette von einer ihnen feindlichen Schar als Gefangene von Varennes nach Paris zurückgeführt, nur mehr dem Namen nach König und Königin, als gleichzeitig Voltaire, »König Voltaire«, in seine Hauptstadt zurückkehrte, tot, jedoch unsterblich, gepriesen, triumphierend, verherrlicht und an der willkürlichen Alleinherrschaft wie an den ihre Macht mißbrauchenden Priestern gerächt.

Die Auffassung der Zeitgenossen war, daß dies die entscheidende Änderung bedeutete: Wo die Macht geherrscht hatte, dort würde jetzt der Gedanke herrschen; an Stelle der Willkür würde nun die Freiheit Siege gewinnen. Der Verachtung des Rechts würde nun die gerechte Leitung der Vernunft folgen, und die Grausamkeit in den Gewohnheiten würde von einer allgemeinen Verträglichkeit abgelöst werden.

Leider änderte die Zwangsherrschaft ja nur die Form.

III

Vorläufig wiegte man sich entzückt in berauschenden Illusionen.

Alle Behörden der Seine hatten sich eingefunden, bewegten sich um den Wagen, der mit Kränzen und losen Blumen bedeckt war. Als ein Brief vom Departement am 9. Juli der Nationalversammlung mitteilte, daß der Zug sich näherte und am Sonntag ankommen würde, gingen ihm le procureur-syndic und die Bürgermeister entgegen, jener bis zur Grenze des Departements, diese bis zur Grenze von Paris.

Am 11. Juli zehn Uhr morgens kam der Zug durch die Mauern der Stadt. Eine Kavallerie-Abteilung ritt an der Spitze; dann folgte die Infanterie; dann der Triumphwagen mit Bronzerädern. Der Wagen war von Girlanden, Cypressen und Trauerflor umgeben. Darauf folgten Amtspersonen. Alle wollten sie einen der größten des Geistes feiern, wie man in früheren Zeiten Fürsten gehuldigt hatte. Man wollte seine Dankbarkeit gegen den erweisen, der dadurch, daß er den Gedanken befreite, die politische Freiheit möglich machte und der durch seinen Widerstand gegen die Kirche, die Justiz und das veraltete Strafrecht die Gerechtigkeit und Menschlichkeit zum Siege geführt hatte.

Man hatte dort, wo einst der Turm der Bastille stand, in dem Voltaire seinerzeit als Gefangener gesessen hatte, einen Aufbau errichtet. Dort wurde der Sarg unter Jubel niedergesetzt. Blumen bedeckten den Boden. Aus Steinen, die von der Bastille stammten, hatte man einen Felsen gebildet, auf dem Allegorien und Inschriften angebracht waren:

Reçois en ce lieu, où t'enchaîna le despotisme,
Voltaire
les honneurs que te rend la patrie.

Der Regen strömte hernieder. Man dachte daran, das Fest aufzuschieben. Aber es klärte sich auf und da zahllose Fremde nach Paris gekommen waren, um die Prozession zu sehen, machte man sich wieder auf den Weg. Ein größerer Zug: Reiterei, Fußvolk, Sappeure, Trommler, Kanoniere, das Bataillon der Kinder, Deputationen von den verschiedenen Unterrichtsanstalten, Vereine mit ihren Fahnen, darunter ein Klub, Société paternelle des halles, der auf seiner Fahne den Fluch gegen denjenigen, der Menschenblut vergießt, geschrieben hatte:

Grands dieux, exterminez de la terre, où nous sommes
Quiconque avec plaisir répand le sang des hommes!

Die Arbeiter, die man beim Niederreißen der Bastille gebraucht hatte, trugen Ketten, Kanonenkugeln, Kürasse, Trophäen als Zeichen des Sieges über die Willkür der alten Staatsform. Eine Bürgerin, die als »Amazone« gekleidet war, eine der Heldinnen von der Belagerung der Bastille, trug ein das gestürzte Staatsgefängnis darstellendes Relief; Bürger aus der Vorstadt Saint Antoine begleiteten sie und trugen die dreifarbige Fahne. Die Gardes Françaises trugen das 93. Modell, das man von der Bastille ausgeführt hatte und das für das Departement Paris bestimmt war. Dann folgten die Wähler von 1789 und 1790, die hundert Schweizer und die Schweizergarde, Deputationen der Theater Frankreichs und darauf kam Voltaires vergoldete Statue, die mit Lorbeer bekränzt war, und von Männern in antiker Kleidung getragen wurde. Dann folgten die Mitglieder der Akademie und hierauf Frankreichs Schriftsteller, die einen prachtvollen Schrein umgaben, der die siebzig Bände gesammelte Werke von Voltaire enthielt, die Beaumarchais aus Anlaß des Tages dem Departement geschenkt hatte.

Ein großes Musikkorps, das Hymnen spielte, ging dem Wagen mit den zwölf weißen Pferden voran, die vier und vier nebeneinander gespannt waren, von denen Marie Antoinette zwei geschenkt hatte und die von Reitknechten in römischen Kostümen geführt wurden. Der Katafalk übte eine große Wirkung aus. Der Sarkophag war aus Porphyr und stand drei Stufen hoch über der Fläche des Wagens. Auf dem Deckel war in Skulptur ein Lager ausgehauen, auf dem Voltaire wie schlummernd lag. An seiner Seite eine zerbrochene Lyra und hinter dem Kopfende der Genius der Unsterblichkeit, der einen Kranz von Sternen über seinem Haupte hielt. Vier Bühnenmasken zierten die Ecken des Wagens und vier Genien, die in trauernder Stellung gesenkte Fackeln hielten, schmückten die Seiten. Die Inschrift auf der Vorderseite des Sarkophags lautete: Er rächte Calas, La Barre, Sirven und Montbailli. Als Dichter, Denker, Historiker gab er dem menschlichen Geiste einen gewaltigen Aufschwung. Er hat uns vorbereitet, frei zu werden. Wahre und gewichtige Worte.

Etwas sophistischer war die Verwendung zweier Verse Voltaires auf den Seiten des Sarkophags. Auf der einen Seite las man:

Si l'homme est créé libre, il doit se gouverner.

Auf der anderen:

Si l'homme a des tyrans, il doit les détrôner.

Die Verse leiten Voltaires Gedicht über den Neid ein, und die Tyrannen, von denen er spricht, sind nicht Frankreichs Könige, sondern die Laster des Menschen. Wie der nächste Vers sagt:

On ne le sait que trop, nos tyrans sont nos vices.

Das ist ein Beispiel von vielen, daß man während der Revolution versuchte, die Ansichten Voltaires in genaue Übereinstimmung mit dem zu bringen, was die Leidenschaft des Augenblicks verlangte.

Hinter dem Wagen ging die Deputation der Nationalversammlung, darauf kamen die Vertreter der Departements, das oberste Gericht, die Richter der Pariser Gerichte, der Magistrat mit dem Bürgermeister an der Spitze. Ein Bataillon Veteranen beschloß den Zug, den eine Eskadron Kavallerie gegen die Menschenmasse schützte.

IV

Der Zug ging längs des Boulevards zur Oper. Voltaires Büste war an der Außenseite des Gebäudes angebracht worden. Drei Medaillen, die von Blumengirlanden umgeben waren, trugen als Inschrift die Namen seiner drei Operntexte Pandore, Le Temple de la Gloire, Samson. Am Eingang warteten die Sänger und Sängerinnen der Oper. Sie sangen eine Hymne ihm zu Ehren. Der Sänger Chéron trat mit einem Lorbeerkranz in der Hand hervor, und die Sängerin Madame Ponteuil küßte die Statue in einem Anfall von Begeisterung, die von den übrigen Künstlern und der Volksmenge geteilt wurde.

Der Zug ging weiter nach der Place de Louis Quinze und den Tuilerien. Alle Fenster im Schloß standen offen und waren vom Hofstaat des Königs und der Dienerschaft besetzt, mit Ausnahme eines einzigen Fensters, dessen Vorhänge niedergelassen waren. Hinter diesem Fenster saßen der König und die Königin, die mit Gewalt von ihrer Flucht zurückgebracht worden waren und die erschraken, diese Ehrung, die sie selbst niemals erfahren hatten, für einen einfachen Bürger zu sehen, den Frankreichs Könige mit aller Macht hatten niederdrücken wollen. Der Gegensatz war tatsächlich groß zwischen dem so spät anerkannten Königtum des Genies, das, von einem Verstorbenen vertreten, sich über alle diese Scharen erstreckte, und den beiden gekrönten Personifikationen des tatsächlich gestürzten Königtums, das äußerlich noch lebenskräftig schien, aber wie der Schatten einer vergangenen Macht hinter heruntergelassenen Jalousien zusammenkroch.

Villette, der nicht müde geworden war, sich als Verwandter Voltaires geltend zu machen und der gern daran erinnerte, daß er der Besitzer seines Herzens war, hatte an seinem Haus, dem letzten Wohnhaus Voltaires, die Inschrift angebracht:

Son esprit est partout, et son cœur est ici.

Eine Frau aus dem Volke, die diese Worte nicht so verstand, wie sie gemeint waren, und nicht an das Herz in anatomischer Hinsicht dachte, erklärte die Inschrift folgendermaßen: Eh, son cœur, c'est Madame de Villette.

Gegenüber dem Hause war ein großes Amphitheater aufgeführt, das von schönen Frauen und jungen weißgekleideten Mädchen mit Rosenkränzen auf dem Kopfe, blauen Schärpen und Bürgerkronen in der Hand besetzt war. Sobald man den Wagen gewahrte, streuten sie Blumen. Als Houdons meisterhafte Statue vor dem Amphitheater angekommen und unter einer Kuppel von Laubwerk angebracht war, machte man Halt.

Madame de Villette kam aus dem Haus und wurde zu der Bildsäule ihres Adoptivvaters getragen. Mit Tränen in den Augen und kindlicher Liebe in den Zügen beugte sie sich fromm hernieder und küßte einen Augenblick die Statue, während die ungeheuren Massen in Beifallsrufe ausbrachen. Dann hob sie ihre kleine Tochter zu Voltaire hinauf, was nach dem Sprachgebrauch jener Zeit sagen wollte, daß sie das Kind der Vernunft und der Freiheit weihte.

Der Trauermarsch verklang und ein Triumphgesang wurde angestimmt, den Gossec zum Text von Marie Joseph Chénier komponiert hatte. Ein Orchester von antiken Instrumenten, die nach denen konstruiert waren, die auf der Trajanssäule abgebildet sind, führte die Begleitung aus.

Reine de Villette mit ihrer Tochter und den beiden Fräulein Calas nahmen vor dem Katafalk Platz. Eine Gruppe junger Frauen bildeten ihr Gefolge.

V

Vor dem alten Théâtre Français, wo Voltaires erste Tragödien gespielt worden waren, wurde wieder Halt gemacht. Die Vorderseite war mit einer großen Malerei bedeckt, Voltaires Büste darstellend, wie sie von zwei Genien, einem auf jeder Seite, mit Eichenblättern bekränzt wurde. Die Inschrift lautete:

Mit 17 Jahren schrieb er Oedipe.

Dann kam man zum Odéon-Theater. An den Säulen hingen Girlanden. Zweiunddreißig Medaillons trugen die Namen der besten Werke Voltaires. Auf dem Giebel stand folgende Inschrift:

Mit 84 Jahren schrieb er Irène.

Die Sänger der Oper, die sich hier versammelt hatten, sangen den Freiheitschor aus Samson, jene schöne Strophe:

Peuple, éveille-toi, romps tes fers,
La liberté t'appelle.
Peuple fier, tu naquis pour elle,
Peuple, éveille-toi, romps tes fers!

Vor fünfundvierzig Jahren, als Voltaire in die Akademie aufgenommen wurde, hatte der Dichter Roi, einer der von ihm überstrahlten Mitbewerber, eine Satire gegen ihn herausgegeben, die Triomphe poétique hieß. Voltaire sitzt darin in einem lächerlichen Karren. Sein groteskes Gefolge kommt von der Bastille her. Man hält vor dem Théâtre Français und stimmt an:

Badauds, battez des mains ici,
Place à Apollon, le voici!

Roy und die anderen Feinde, der Haß und der Neid waren nun begraben. Der Zug ging jetzt im Ernst von der Bastille aus, d. h., von der Stelle, wo die Bastille gestanden hatte.

Noch im Jahre 1771 hatte Le Franc de Pompignan eine Oper Prométhée gegen Voltaire geschrieben. Prometheus sollte Voltaire sein, und seine Mutter Thetis warf ihm seinen verbrecherischen Kampf gegen die Götter und die Gesetze vor:

Tes arts ont pris la place et des lois et des dieux.

Nun bekränzten die Künstler und Bürger von Paris seine Statue, als Sinnbild auf ihn selbst, der sich stärker als veraltete Gesetze und als gestürzte Götter erwiesen hatte.

Die Revolution führte durch, was Voltaire gefordert hatte, führte Reformen gegen die Mißbräuche und die Ungerechtigkeiten bei der Staatsverwaltung durch, Reformen im Regierungssystem, in der Justiz, im Finanzwesen, in der Kirche.

Die französische Geistlichkeit lebt heutzutage seit mehr als einem Jahrhundert unter den Gesetzen, von denen Voltaire träumte, hat sich ruhig in die Abschaffung der geistlichen Rechtsprechung, in die bürgerliche Ehe, in politische und bürgerliche Gleichheit, besonders in die Aufhebung der Ausnahmestellung der Priester bei der Steuererhebung gefunden. Nicht weniger hat Voltaire den trägen Adligen seiner Vorrechte beraubt und den Adel der Arbeit und des Ackerbaus gehoben.

Die Forderung einer Republik stellte er nicht und er hätte sich gern in eine starke und tüchtige Aristokratie, wie die englische, gefunden. Die englische Monarchie war überhaupt im großen und ganzen sein politisches Ideal. Ein Mißverständnis war es, wenn man im März 1792 nach der Aufführung von La mort de César im Théâtre Français die rote Mütze auf den Kopf seiner Büste setzte.

Villette war im Geiste Voltaires gegen die Hinrichtung Ludwigs des Sechzehnten und würde seinen Mut mit dem Kopfe bezahlt haben, wenn er nicht noch im selben Jahre an der Abzehrung gestorben wäre.

Die Marquise von Villette wurde im Alter von 36 Jahren Witwe. In ihrem Hause, für welches während der Revolution tiefer Respekt herrschte, da Voltaire dort verschieden war, verbarg sie mehr als einen zum Tode verurteilten Priester, so daß der große Duldsame nach seinem Tode noch manchem Priester das Leben rettete. In nicht wenigen der melodramatischen Feste der Revolution mußte sie mitwirken. Noch im Jahre 1819 wurde sie Patronin einer Freimaurerloge, die keinen anderen Namen als »Belle et bonne« führen wollte.

Nach ihrem Tode gingen Voltaires Reliquien auf ihren Sohn über, der kinderlos starb und einen Bischof zum Universalerben machte. Bücher, Porträts, Büsten, das Herz in dem silbervergoldeten Schrein, alles kam auf die Auktion. Das Herz fiel 1864 der nationalen Bibliothek zu.

VI

Eines nachts im Monat Mai 1814 wurden Voltaires Knochen aus dem Bleisarg im Pantheon herausgenommen und von einer Schar junger reaktionärer Fanatiker, deren Führer der Direktor der Münze, Herr de Puymorin war, in einen Sack geworfen. Der Sack wurde in eine Droschke gebracht, die hinter der Kirche bereit stand. In der Dunkelheit der Nacht fuhr man auf öden Wegen zur Barrière de la Gare, wo sich ein ausgedehnter Abladeplatz befand. Andere Mitglieder der Bande, die dort warteten, hatten bereits ein tiefes Loch gegraben, in dem diese Überreste spurlos verschwanden.

Vergehen und verschwinden konnte nicht sein Geist, der leicht und kostbar wie Platin war, nicht sein Gefühl, reines Gold, nicht seine Kraft zum Handeln, die Stahl war, lauter unvergängliche Stoffe.

 

Es gibt eine wunderliche kleine Erdkugel, deren hochbegabte Bevölkerung sich unter anderem dadurch auszeichnet, daß sie gleich gedankenlos im Tadeln wie im Loben ist; in ihrem Pereat! und in ihrem Vivat!

Ihren Weisen hat sie Gift gegeben, ihre Erlöser hat sie gehängt, ihre Helden und Denker hat sie verbrannt, ihre Befreier hat sie gefesselt, wieder befreit, ausgenützt, hat ihnen zugejubelt, wenn sie tot waren und sie danach gern in einem Loch versteckt, wie man Unrat oder einen Schatz versteckt.

Der Riese vom Sirius entdeckte diese kleine Erde im Weltall und fand sie von einer Schar, seiner Auffassung nach, lächerlich kleiner Wesen bewohnt, die zum größten Teil damit beschäftigt waren, anderen das Leben sauer zu machen, sich gegenseitig zu vernichten und auszurotten. Er verkannte nicht ihre vielen liebenswürdigen und wertvollen Eigenschaften. Er sah, wie sie einander hin und wieder zu Hilfe kamen.

Aber er wunderte sich über ihren ausgeprägten Hang, ihre führenden Persönlichkeiten falsch zu verstehen, zu mißhandeln und zu preisen. Diejenigen, die diese Kleinwesen aus dem Schlamm der Dummheit zogen, in den sie sich nicht selten verirrt hatten, ertränkten sie am liebsten in dem Schlamm, worauf sie denselben Persönlichkeiten Statuen errichteten, die in der alten Zeit aus Holz oder Kalkstein bestanden, später aus Gold und Elfenbein, schließlich aus Marmor oder Bronze. Wenn das geschehen war, warfen sie gern alle möglichen Arten Unrat auf diese Bildsäulen, um sie darauf wieder zu reinigen, noch einmal zu schänden, und um sie nach Verlauf langer Zeit wieder mit der eigenen Form und Farbe der Gestalten hervortreten zu lassen.

 

Ende des zweiten Bandes

 


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