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Vagabundierendes Leben

I

Im Mai 1739 brachen Voltaire und die Marquise von Châtelet von Cirey auf und begannen eine Reise, die nur selten eine kurze Rückkehr zu ihrer Zufluchtsstätte erlaubte und sich schließlich über ein paar Jahre erstreckte. Der Familie Châtelet war eine bedeutende Schenkung zugefallen, und da diese nicht ohne einen weitläufigen und verwickelten Prozeß eingebracht werden konnte, zu dessen Führung Voltaires Tüchtigkeit gehörte, brachte er seiner Freundin das Opfer, sie zu begleiten und, je nachdem es nötig war, von Ort zu Ort zu reisen, bis sie den Prozeß gewann und reich wurde.

Ein Vetter des Hausherrn auf Cirey, der ganz gebrechliche Marc-Antoine du Châtelet, Marquis de Trichâteau (der im April 1740 starb) hatte außer anderem Besitz seinen Wirtsleuten ein kleines Fürstentum überlassen, das zwischen Trier und Jülich lag. Auf diese Art wurde die kluge und schöne Emilie Fürstin. Aber sie legte wenig Wert darauf, das zu sein, und wollte ihr Fürstentum verkaufen; Voltaire versuchte zuerst, es dem König von Preußen abzutreten, aber vergeblich.

Das Paar reiste zusammen nach Brüssel und teilte dort seine Zeit zwischen den vielen Verhandlungen, die der Prozeß mit sich brachte, und den verschiedenen Studien, die jeder für sich trieb, Arbeiten, die jeder auf seinem Gebiet vorhatte. Der Herzog von Aremberg entführte sie auf vierzehn Tage auf seine Besitzung Enghien, wo es entzückende Gärten und Feuerwerk gab und wo eifrig gespielt wurde. Dann zog das Paar nach Paris; als man gerade ankam, stand die Stadt in einem Wirbel von Festlichkeiten anläßlich einer fürstlichen Hochzeit. Die älteste Tochter des Königs, Elisabeth, wurde mit dem Infanten von Spanien vermählt.

Voltaire hatte der Comédie Française zwei Tragödien eingereicht, eine etwas ältere, Zulime, und die neueste, Mahomet. Mit der Ungeduld seines Wesens hoffte er darauf, die erste Vorstellung des Mahomet sehen zu können, trotzdem er nur drei Wochen in Paris blieb. Natürlich hatten die Schauspieler das Stück nicht einmal gelesen, als er abreiste, und als es später in Erwägung gezogen und nach Jahr und Tag aufgeführt wurde, setzten die Behörden, wie wir sogleich sehen werden, es sofort wieder ab.

Diese waren Voltaire überhaupt nicht wohlgesinnt. Bei dem Buchhändler Prault fils gab er eine Sammlung Prosa und Verse heraus, Recueil de pièces fugitives en Prose et en Vers, die die beiden ersten Kapitel des Werkes Le Siècle de Louis Quatorze und eine Anzahl Gedichte enthielt; sie wurde beschlagnahmt. Es war Voltaire gar nicht in den Sinn gekommen, daß man etwas Strafwürdiges in der Ausgabe einer Schrift zur Verherrlichung des siebzehnten Jahrhunderts und Ludwigs des Vierzehnten sehen könnte; aber das Ministerium war eben anderer Ansicht. Prault wurde zu einer Geldstrafe von 500 Francs verurteilt und mußte außerdem seinen Laden drei Monate lang geschlossen halten.

An den Marquis von Argenson schreibt Voltaire, daß er mit seinem historischen Buch nur eines guten Bürgers und sehr gemäßigten Mannes Werk vollbringen wollte: in einem anderen Zeitalter wäre ein solches Werk von der Regierung begünstigt worden: »Ludwig der Vierzehnte gab an Valincour, Pélisson, Racine, Despréaux 6000 Livres als Pension, damit sie seine Geschichte schrieben, was sie aber nicht taten, und mich verfolgt man, weil ich ausgeführt habe, was sie hätten tun sollen. Ich errichte ein Denkmal zur Ehre meines Landes, und man zerdrückt mich unter dem Stein, den ich dazu gebrauche.«

In dieser Klage lag Logik.

Friedrich der Große hatte als Kronprinz Voltaire gebeten, seinen Anti-Machiavel herauszugeben. Das hatte er eifrig vorbereitet, und das Werk war gesetzt. Als jedoch Friedrich gerade dann den Thron bestieg, bekam er Bedenken wegen einer Veröffentlichung, vielleicht weil er die Schwierigkeiten ahnte, als Herrscher die Grundsätze des Kronprinzen zu befolgen, vielleicht auch (wie er gegenüber Voltaire geltend machte) weil Stellen darin waren, die gewisse Mächte verletzen konnten. Er ersuchte also Voltaire, die Herausgabe nun einzustellen. Das war leichter gesagt als getan. Der Buchhändler, der sich einen beträchtlichen Gewinn aus dem Werke versprach, wollte auf diesen Gewinn nicht verzichten. Vergebens bot ihm Voltaire das Vierfache dessen, was er ausgelegt hatte; vergebens versuchte er, bei der Korrektur zu streichen und solche Änderungen vorzunehmen, daß Verschiedenes ganz sinnlos wurde und sich also nicht gut herausgeben ließ. Vergebens versuchte er darauf, alle Stellen zu mildern und zu ändern, die möglicherweise Anstoß erregen konnten. Es gelang ihm nicht, den Verleger zu bewegen, seine Beute fahren zu lassen, und er konnte ebenso wenig vom König die Anerkennung seiner Änderungen erreichen.

Friedrich zeigte sich überhaupt als ein schwieriger und launischer Herr. Voltaire und Madame du Châtelet gingen nach der Stadt Lille, um seine Nichte Madame Denis zu besuchen, die dort einen kleinen Hof hielt, da ihr Gatte zum Commissaire-ordonnateur für das Kriegswesen befördert worden war. Sie fanden den Theaterdirektor La Noue in größter Verlegenheit. Friedrich hatte diesem Mann den Auftrag erteilt, ihm eine französische Truppe nach Berlin zu engagieren, was dieser redlich getan hatte, in der natürlichen Hoffnung, ein kleines Vermögen dabei zu verdienen; da sandte der König von Preußen plötzlich eine Absage; er wollte mit allem Derartigen bis nach dem Friedensschluß warten. La Noue hatte dadurch natürlich große Verluste und geriet in Schwierigkeiten.

Aber dieser Mann bot Voltaire an, Mahomet herauszubringen, während der Dichter des Stückes in der Stadt war, und diese Aufführung wurde in der kleinen flamländischen Stadt ein ungeheurer Erfolg, so groß, daß sogar Geistliche, die nach Brauch und Sitte nicht ins Theater gehen durften, das Stück für sich in einem Privatsaal spielen ließen. Zu der Begeisterung trug noch bei, daß in einer Pause eine Depesche von Friedrich bei Voltaire einlief, er hätte die Schlacht bei Mollwitz gewonnen. Das war Friedrichs erster Sieg, dem so viele andere folgen sollten. Als Voltaire die Mitteilung dem Theaterpublikum vorlas, applaudierte dieses stürmisch.

In jenen Tagen verlor Voltaire mit einem Schlage eine Summe von 32 000 Livres durch den nicht vorauszusehenden Bankerott des Steuereinnehmers Michel. Er, den man geizig genannt hatte, klagte nicht, sondern begnügte sich damit, das folgende scherzhafte Epigramm zu schreiben:

Michel au nom de l'Eternel
Mit jadis le diable en déroute;
Mais après cette banqueroute
Que le diable emporte Michel!

In Paris kaufte sich Madame du Châtelet für 200 000 Francs den fürstlichen Palast Hotel Lambert, den die Maler Le Brun und Le Sueur ausgeschmückt hatten; Voltaire ließ sich im zweiten Stock eine kleine Wohnung einrichten, und er träumte davon, sie auf das schönste mit Möbeln und Gemälden auszustatten; aber er wohnte nur wenige Wochen dort, denn Madame du Châtelet verkaufte den Palast im Jahre 1747 für 500 000 Francs.

Nachdem sie sich einen Monat in Cirey aufgehalten, und nachdem das Paar gemeinschaftlich einen Höflichkeitsbesuch in der Stadt Gray abgestattet hatte, reisten beide nach Brüssel zurück, wo sie den Prozeß gut im Gang fanden, und wo ihre Gegenwart auf einige Zeit nicht zu entbehren war.

Von da gingen sie wieder nach Paris, wo Brutus gerade stürmischen Erfolg hatte, wo eine Mahomet-Aufführung bevorstand und wo Versailles Voltaire in Versuchung führte.

II

Er hatte gerade begonnen, sich in Paris einzurichten, als der Haß gegen ihn plötzlich unerwartete Nahrung erhielt durch einen kompromittierenden, von ihm an den König von Preußen gerichteten vertraulichen Brief, der überall in Abschrift verteilt und bei einflußreichen Personen durch die Türen gesteckt wurde, so daß dies das Ereignis des Tages war. (Es war der Brief vom 15. Mai 1742.) Voltaire, der mit Entsetzen die allgemeine Erregung über seinen Mangel an Patriotismus beobachtete, erklärte die Ausdrücke in dem Briefe für gefälscht und quälte sich und andere damit, herauszufinden, wer den Brief entwendet und wer ihn gefälscht und verbreitet hätte. Leider kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der Urheber des ganzen Skandals kein anderer war als der große König selbst, der skrupellos jedes Mittel anwandte, um Voltaire zum täglichen Gesellschafter zu bekommen und ihn deshalb in den höchsten Kreisen von Paris unmöglich machte.

Der Dichter mochte, so lange er wollte, behaupten, die Abschriften seien gefälscht; jedoch: gefälscht oder nicht, dieser Brief war ein schlechter Prolog für die Aufführung eines Stückes wie Le Fanatisme ou Mahomet, le prophète, das demjenigen, der darin eine Satire gegen jede Religion sehen wollte, ebenso viele Angriffspunkte bot wie Le Tartuffe ou l'Imposteur im siebzehnten Jahrhundert geboten hatte.

In allen Cafés wurde gegen das Stück gepredigt. Piron, der allmählich vor Neid fast platzte und Voltaire jedesmal als den Schuldigen betrachtete, wenn eins seiner eigenen Stücke durchfiel; Desfontaines, der selig war, seinen Gegner auf einem Felde zu treffen, wo die Offensive so einfach war und die Verteidigung so leicht übertäubt werden konnte, schließlich Voltaires geistliche Gegner verkündeten, daß das Stück scheinbar ein Angriff gegen den Islam, in Wirklichkeit aber ein Angriff auf die christliche Religion sei. Ein Doktor an der Sorbonne machte noch auf den Hinweis aufmerksam, der darin lag, daß der Name Mahomet drei Silben hatte, genau wie der Name Jésus-Christ.

Mahomet wurde zum erstenmal in Paris am 19. August 1742 aufgeführt und von dem ausgesuchten Publikum, vor dem er gespielt wurde, glänzend aufgenommen, aber nach der dritten Aufführung zwangen die zahlreichen und leidenschaftlichen Proteste den Verfasser, sein Stück zurückzuziehen. Und gleichzeitig traf ihn das schwere Mißgeschick, daß man eine Raubausgabe seiner Schriften in fünf Bänden vertrieb, in deren letztem Band man unter dem Titel Apothéoses nicht nur angesehene Männer geschmäht hatte, mit denen Voltaire sich gut stehen wollte, sondern auf das ehrloseste und ehrenrührigste auch ihn selbst und Madame du Châtelet.

Die Buchhändler teilten die Auflage unter sich, um sie schneller abzusetzen, als sie hörten, Voltaire habe sich an Maurepas gewandt, um ein Verbot dieser Ausgabe zu erzielen. Voltaire erfuhr, daß Didot und Barrois die letzten waren, die sie besaßen, schrieb freundschaftlich an Didot und bot ihm an, die ganze Auflage zu kaufen. Inzwischen wurden die beiden Buchhändler verhaftet und nach For-L'Evêque geführt. Die öffentliche Meinung, die Voltaire ungünstig war, nahm für die Buchhändler Partei. Das war noch das geringste; ein Schlaglicht auf den Rechtsbegriff des ganzen achtzehnten Jahrhunderts wirft aber folgendes: Der Herzog von Bethune schrieb an den Polizeipräsidenten von Paris einen Brief, in dem er ersuchte, Barrois, der mit vollem Recht in For-L'Evêque saß, auf der Stelle freizugeben, da er ihn zur Katalogisierung und Ordnung seiner Bücher für eine Auktion gebrauchte:

Mein Herr, ich höre, daß ein Pariser Buchhändler mit Namen Barrois auf Ihren Befehl im Gefängnis sitzt. Wenn Sie seine Haft am Sonntag abend aufheben könnten, würden Sie mir einen großen Gefallen tun. Er hat die Bücher meines seligen Onkels geordnet und den Katalog geschrieben. Wie bekanntgegeben ist, soll der Verkauf am Montag den 7. in Grands-Augustins stattfinden; es ist unmöglich etwas zu unternehmen, wenn er abwesend ist; ich hoffe, Sie werden die Güte haben, die Vergünstigung zu gewähren, um die ich Sie bitte.

Kaum waren die Buchhändler freigekommen, als sie wieder begannen, jenen fünften Band zu verkaufen, der unter dem Namen Voltaires ihn selbst und seine Freundin verhöhnte. Als in flagranti gefaßt, wurden sie zum zweitenmal ins Gefängnis gesteckt und zur Schließung ihrer Läden verurteilt. Da sie mächtige Gönner hatten, wurden sie jedoch wiederum ohne irgendeine Strafe freigelassen.

Am 20. Februar 1743 wurde zum erstenmal eine Tragödie von Voltaire aufgeführt, die vor allen anderen dem Dichter am Herzen lag, Mérope, ein Schauspiel, dessen Art der Spannung der moderne Leser sich vorstellen kann, falls er sich an Henrik Ibsens Frau Inger auf Östrot erinnert. Das Stück war von den Schauspielern zuerst abgelehnt worden, weil darin keine Liebe vorkam. Der Abbé Voisenon, dem Voltaire es vorgelesen hatte, und der am Theater großen Einfluß besaß, war Feuer und Flamme vor Begeisterung, eilte zur Comédie Française und stimmte das Personal um.

Das Publikum des Theaters war bei der ersten Aufführung so hingerissen, daß es vor Begeisterung trunken schien. Die Beifallsrufe wollten kein Ende nehmen, und zum erstenmal in der Geschichte des Theaters verlangten die Zuschauer, den Dichter des Stückes auf der Bühne zu sehen. Die Herzoginnen von Boufflers und von Luxembourg taten, was in ihrer Macht stand, den Dichter zu bewegen, dem Wunsch des Publikums entgegenzukommen. Er zeigte sich, und zog sich danach aus ihrer Loge zurück, nachdem er der Herzogin von Luxembourg die Hand geküßt hatte. Dies der Bericht im Journal de Police, der zuverlässig ist. (Was Voltaire selbst dreißig Jahre später über diesen Abend in seinem Commentaire historique geschrieben hat, beruht auf einer Verwechslung mit der ersten Aufführung des Oedipe.)

Für die Gegenwart ist das Ereignis, daß der Dichter einen Augenblick vor das Publikum tritt, das ihm applaudiert hat, etwas so Natürliches und so häufig Gesehenes, daß keiner ein Wort darüber verliert. Wie diese uns so selbstverständliche Sache, als sie zum erstenmal geschah, noch 24 Jahre später außerhalb Frankreichs aufgefaßt wurde, davon gibt Lessings höhnische Darstellung des Falles in seiner Hamburgischen Dramaturgie einen guten Begriff. Lessing schreibt:

Merope fand den außerordentlichsten Beifall, und das Parterre erzeigte dem Dichter eine Ehre, von der man noch zur Zeit kein Exempel gehabt hatte … Das Parterre ward begierig, den Mann von Angesicht zu Angesicht zu kennen, den es so sehr bewundert hatte; wie die Vorstellung also zu Ende war, verlangte es ihn zu sehen, und rief und schrie und lärmte, bis der Herr von Voltaire heraustreten und sich begaffen und beklatschen lassen mußte. Ich weiß nicht, welches von beiden mich hier mehr befremdet hätte, ob die kindische Neugierde des Publikums, oder die eitle Gefälligkeit des Dichters. Wie denkt man denn, daß ein Dichter aussieht? … Und wie schwach muß der Eindruck sein, den das Werk gemacht hat, wenn man in eben dem Augenblick auf nichts begieriger ist, als die Figur des Meisters dagegen zu halten? Das wahre Meisterstück, dünkt mich, erfüllt uns so ganz mit sich selbst, daß wir des Urhebers darüber vergessen; daß wir es nicht als Produkt eines einzelnen Wesens, sondern der allgemeinen Natur betrachten … Denn da das Pariser Parterre sah, wie leicht ein Voltaire in diese Falle zu locken sei, wie zahm und geschmeidig so ein Mann durch zweideutige Caressen werden könne: so machte es sich dieses Vergnügen öfter, und selten ward daher ein neues Stück aufgeführt, dessen Verfasser nicht gleichfalls hervormußte, und auch ganz gern hervor kam. Von Voltaire bis Marmontel … haben fast alle an diesem Pranger gestanden.

Der sechsundachtzigjährige Fontenelle, der es gern so darstellen wollte, als ob Voltaire den Erfolg der Darstellung verdankte, sagte fein: »Die Aufführung von Mérope macht Herrn de Voltaire große Ehre; beim Lesen macht das Stück Mademoiselle Dumesnil noch größere Ehre.« Dies Urteil war höchst ungerecht.

III

In den ersten Tagen des April 1744 kehrten Voltaire und Emilie du Châtelet nach Cirey zurück, und beide fühlten sich glücklich, wieder dort zu sein. »Cirey ist entzückend, ist ein Juwel«, schrieb Voltaire an d'Argenson, und einige Tage darauf datierte er einen Brief an d'Argental: »In Cirey, in Glückseligkeit.« Präsident Hénault, der das Paar in seinem ländlichen Heim besuchte, war ganz erfüllt von dem Eindruck, den ihm dessen Glück machte, und schreibt in seinen Erinnerungen: »Ich traf sie allein. Als Dritter war nur ein Mönch vom Orden der Minoriten dort, großer Geometer und Professor der Philosophie in Rom. Wenn man eine Schilderung einer reizenden Zufluchtsstätte gäbe, in der man nur Frieden, Übereinstimmung, Seelenruhe, Anmut, Talente, gegenseitige Achtung, den Ernst der Philosophie vereint mit der Schönheit der Poesie fände, dann hätte man Cirey gemalt.« Der Mönch, den der Präsident erwähnt, war der Pater François Jacquier, der im Jahre zuvor ein Buch herausgegeben hatte Isaac Newtons mathematische Prinzipien der Naturphilosophie.

Doch der Aufenthalt in Cirey konnte auch diesmal nicht von längerer Dauer sein. Denn Richelieu hatte seinem Jugendfreund eine Aufgabe übertragen, die seine Gedanken mit Beschlag belegte und seine Gegenwart in Versailles bald notwendig machen würde. Ludwig der Fünfzehnte hatte Richelieu, seinem ersten Kammerherrn, die Anordnung der Festlichkeiten übertragen, die die Vermählung des Dauphin mit der Infantin Marie Therese von Spanien verherrlichen sollten, und Richelieu seinerseits hatte Voltaire gebeten, aus diesem Anlaß ein passendes Festspiel zu schreiben. Der Dichter, der in seinem Ehrgeiz den König und den Hof durch sein Talent gern verpflichten wollte, verwandte – ähnlich wie vor ihm Molière und nach ihm Goethe – unverhältnismäßig viel Zeit auf diesen höfischen Dienst.

Er schrieb die Prinzessin von Navarra und brauchte nicht weniger als zehn Monate für all die Änderungen und Umgestaltungen, die zuerst die Kritiken d'Argentals und Richelieus, dann die verschiedenen Forderungen des Komponisten Rameau nötig machten. Rameau war gewohnt, den kleinen Librettisten, die ihn sonst mit Texten versahen, gegenüber despotisch aufzutreten; nun verlangte er, Voltaire sollte in vier Zeilen bringen, was er in acht, und in acht, was er in vier gebracht hatte. Hénault schreibt von Plombières an den Grafen d'Argenson: »Was sagen Sie zu Rameau, der anfängt, Verse von Voltaire zu verbessern!«

Richelieu wandte sowohl Diplomatie wie Entschlossenheit an, den wunderlichen und barschen Komponisten zu bewegen, seine Forderungen fallen zu lassen, und das gelang ihm auch.

Weder Voltaire noch die Marquise hatten Lust, Cirey zu verlassen, wo sie sich gerade damals so wohl fühlten. Aber Richelieu hielt Voltaires Gegenwart für notwendig. Sie verließen also die Champagne und kamen eben in Paris an, als die Stadt voller Festjubel war und alle Straßen von Illuminationen glühten nach der Heilung des Königs von der Krankheit, die ihm in Metz beinahe das Leben geraubt hatte und deren Folgen für die Herzogin von Châteauroux tödlich waren.

In der Nähe des Hotels de Charost, wo die Marquise wohnen wollte, bewegten sich mehr als zweitausend Fuhrwerke in drei Reihen, bis sie weder vor- noch rückwärts konnten, da alles gesperrt war, während die Volksmenge lärmte und schrie. Die Marquise dachte zuerst daran, den größten Teil der Nacht ohne Schlaf und ohne Essen in ihrem Wagen zuzubringen. Dann kam ihr der Gedanke, zur Wohnung des Präsidenten Hénault, Place Vendôme, ihre Zuflucht zu nehmen. Der Präsident selbst war in Versailles. Sie und Voltaire begaben sich zu Fuß dorthin, schickten ins nächste Restaurant nach einem Abendessen und tranken auf das Wohl des Präsidenten seinen eigenen Wein.

Das Paar blieb von Mitte September bis zum Ende des Jahres im Pariser Strudel, wo das Gesellschaftsleben und ein Gelegenheitsgedicht Sur les événements de 1744 Voltaires Zeit in Anspruch nahmen.

Anfangs Januar 1745 ging er nach Versailles, um bei den Proben zu seinem Festspiel zugegen zu sein und mit Dekorationsmalern, Musikern, Schauspielern, Sängern und Tänzern zu arbeiten; denn alles, was szenische Pracht und Abwechslung vermochten, wurde bei diesem Anlaß aufgeboten. Es galt, wie er in einem Briefe an Cideville schreibt, in der Prinzessin von Navarra »den König mit den höchsten Tönen, den Kronprinzen auf feine, die Familie auf zarte Art zu preisen, den Hof zufriedenzustellen und Paris nicht zu mißfallen«. Er hoffte darauf, als Lohn für seine Mühe endlich die offizielle Anerkennung zu erlangen, die er so lange hatte entbehren müssen, und deren Mangel seine ganze Stellung als Schriftsteller nicht nur unsicher, sondern gefährlich machte.

Voltaire hatte in seinem Festspiel versucht, alle Ausdrucksmöglichkeiten: Rede, Gesang und Tanz, alle Kunstformen: Komödie, Tragödie, Oper, Ballet zu einem Ganzen zu verschmelzen. Man darf bei einem Vergleich in keinem Fall an Shakespeares Sommernachtstraum oder Sturm erinnern, dann schrumpft die Prinzessin von Navarra zu nichts zusammen. Aber sie bewahrt ihren Platz neben den zahlreichen Festspielen, die Molière für den Hof in Versailles dichtete und Goethe für den Hof in Weimar.

Eine junge und schöne Prinzessin von Navarra wird sowohl von dem spanischen König, Don Pedro, wie von dem Herzog von Foix, einem Mitglied des französischen Königshauses, begehrt. Sie ist entflohen, haßt ihre Verfolger. Ein höchst anziehender französischer Ritter, der sich Alamir nennt, und der u. a. ohne es zu wünschen, Sanchette, die Tochter eines Landedelmannes namens Morillo völlig gewinnt, beschützt die Prinzessin in jeder entstehenden Gefahr, und er erobert ihr Herz trotz seiner nicht fürstlichen Geburt. Seine Haltung ihr gegenüber ist die ritterlichste, selbstloseste, ehrfürchtigste Huldigung. Sie ruft seine Hilfe besonders gegen den ihr ganz und gar verhaßten Duc de Foix an. Er jagt bei einem kriegerischen Zusammenstoß die Truppen des Königs von Spanien in die Flucht, gewinnt die Bewunderung der Prinzessin wie aller anderen und enthüllt sich schließlich gerade als der so verkannte Herzog von Foix, dem die Prinzessin voll stürmischer Freude, wenn auch mit aller fürstlicher Hoheit ihre Hand reicht. Das Ganze ist erfüllt von Andeutungen auf die Herrlichkeit König Ludwigs und die beinahe übermenschlichen Vorzüge des Dauphin und der Dauphine.

So vertraut mit dem Hofe Voltaire war, so gelang es ihm doch trotz aller Sicherheit im Tone nicht immer, Verstöße zu vermeiden. Die Anforderungen an die Korrektheit waren zu umfangreich und zu streng. Eine bestimmte Zeile wurde als anstößig bis zum Skandalösen betrachtet; nämlich die folgende, (wie sie in dem ursprünglichen Entwurf lautete):

Vos suivantes et vos dames du palais.

Das weibliche Gefolge vor den Ehrendamen zu nennen! – In dem gedruckten Text veränderte sich die Zeile zu:

Vos premiers officiers, vos dames du palais.

Und das Element des leichten Scherzes, das durch Don Morillos derbe und Sanchettes bis zur Heiratssucht verliebte Reden im Ritterspiel vertreten war, erschien sogar der Königin des Festes, der Infantin, als Verstoß gegen den guten Ton, in dem sie am spanischen Hofe erzogen worden war. Als man einige Tage darauf die Oper Theseus vor ihr spielte und hoffte, sie würde dem französischen Geschmack in diesem Werke beipflichten, dessen Text auch gut geschrieben war, antwortete sie: »Das Stück ist wohl nicht von demselben, der den Text zu dem Ballet neulich geschrieben hatte, denn mir kam es vor, als ob darin recht viele platte Scherze und viele gewöhnliche Ausdrücke waren.«

Jedoch Voltaire hatte seine Pflicht als Nationaldichter und Hofmann erfüllt, und die Belohnung ließ nicht auf sich warten. Er bekam die Zusicherung einer Stellung als »gentilhomme ordinaire de Sa Majesté« bei der ersten Gelegenheit, die sich für einen solchen Platz bieten würde, und erhielt sofort Titel und Gehalt als königlicher Historiograph. Die Ernennung war folgendermaßen formuliert:

Versailles, 1. April 1745. In Anbetracht, daß die Belohnungen, die Seine Majestät der Literatur gewährt, zu ihrem Fortschritt beitragen durch den Wettstreit, zu dem sie anspornen, hat der König heute keinen würdiger gefunden, Beweise seines Wohlwollens zu empfangen und durch einen Ehrentitel ausgezeichnet zu werden, als Sieur Arouet de Voltaire, der durch die Überlegenheit seiner Talente und durch seinen dauernden Fleiß die schnellsten Fortschritte in allen Wissenschaften, die er getrieben, gemacht hat, Fortschritte, deren Frucht seine Werke sind, die berechtigten Beifall gefunden haben.

Er wurde zum Historiographen mit 2000 Livres im Jahre ernannt. So zufrieden Voltaire ohne Zweifel mit den erreichten Vorteilen war, so wunderlich kam es ihm vor, daß er diese tatsächlich gerade dem schwachen Festspiel verdankte, und er schrieb das oft angeführte Epigramm:

Mon Henri quatre et ma Zaïre
Et mon Américaine Alzire
Ne m'ont valu jamais un seul regard du roi.
J'eus beaucoup d'ennemis avec très peu de gloire;
Les honneurs et les biens pleuvent enfin sur moi
Pour une farce de la foire.

Er hatte diese Beförderung erreicht, weil Madame de Pompadour ihn mochte. Aber er irrte sich gründlich, wenn er sich deshalb einbildete, die Gunst des Königs gewonnen zu haben.

IV

Indessen war Voltaire nun ja doch in nähere Beziehung zum König und seiner Umgebung gekommen. Ihm fiel die Aufgabe zu, den Entwurf zu Ludwig des Fünfzehnten eigenhändigem Brief an Elisabeth von Rußland zu schreiben, die Frankreich ihre Friedensvermittlung angeboten hatte. Unmittelbar danach gewannen die französischen Truppen unter den Augen des Königs den Sieg bei Fontenoy. Voltaire war einer der ersten, der es erfuhr, da der Minister Marquis d'Argenson, sein alter Schulkamerad, ihm einen Eilboten mit der Nachricht gesandt und sich eine Ode zur Verherrlichung des Sieges erbeten hatte. Voltaire antwortete hingerissen: »Es ist 300 Jahre her, seit ein König von Frankreich etwas so Ruhmvolles getan hat.«

Die Aufgabe, die eben gewonnene Schlacht zu besingen, war aus vielen Gründen schwierig, teils aus künstlerischen, teils aus gesellschaftlichen. Die letzteren machten sich in höchst auffallender Weise geltend: Jeder, der sich ausgezeichnet hatte oder sonstwie in Betracht kommen konnte, wollte erwähnt werden. Die Schlacht wurde am 11. Mai 1745 gewonnen. Die Nachricht erreichte Paris am 14. Mai. Die Genehmigung der Ode Voltaires durch den Zensor ist vom 17. Mai. Man sieht daran, mit welcher Schnelligkeit er sein Werk entworfen hat. Nach und nach, als detailliertere Nachrichten einliefen, und je mehr Persönlichkeiten Anspruch darauf erhoben, in der Ode nicht übergangen zu werden, desto stärker wurde sie. Deshalb wurde die Ode in jeder folgenden Ausgabe erweitert, und die Ausgaben folgten mit reißender Schnelligkeit aufeinander. In einem Brief an d'Argenson bittet Voltaire diesen, die Aufmerksamkeit des Königs darauf zu lenken, daß in zehn Tagen fünf Ausgaben zu seinem Ruhm erschienen seien. In einer der späteren Ausgaben war das Gedicht Ludwig gewidmet, den es pflichtschuldigst, aber ohne Maß, als Heros preist. Man kann nicht vermeiden, an die Schlachtenbilder van der Meulens zu denken. Das Gedicht ist lebendig, dramatisch, aber äußerst offiziell; bestellte Arbeit, die mit aufrichtiger Begeisterung und romanischer Deklamation ausgeführt ist.

Zwei Umstände nagten noch an Voltaire: daß die Vorstellungen des Mahomet abgebrochen worden waren, und daß er nicht Mitglied der Académie Française war. Vorläufig lag ihm Mahomet in allererster Linie am Herzen. Er erwog, was wohl die wirksamste Abwehr gegen die Beschuldigung sein würde, daß er hier mit einem Umweg über den Islam das Christentum verhöhnt habe, und fand heraus, daß kein Mittel dieselbe Wirkung haben könnte, als wenn er den Heiligen Vater selbst bewegen könnte, eine Zueignung der Tragödie anzunehmen. Fühlte sich der Papst von dem Inhalt des Stückes nicht verletzt, so machten sich die kleinen gewöhnlichen Katholiken nur lächerlich, wenn sie weiterschrien.

Er versuchte zuerst, den Minister des Auswärtigen, d'Argenson in Bewegung zu setzen, und bat ihn, durch Frankreichs Gesandten in Rom, den Abbé de Canillac, deshalb anfragen zu lassen. d'Argenson zeigte keine Lust, sich aus diesem Grunde an Canillac zu wenden. Voltaire hatte jedoch noch viele andere Pfeile in seinem Köcher. Madame du Châtelet stand in freundschaftlicher Verbindung mit einem Fräulein du Thil, die einen Abbé de Tolignan gut kannte, der Zutritt zum Papst hatte und Benedikt XIV. auch vom Dichter des Mahomet die Tragödie überbrachte, dazu die Huldigung des Verfassers und die Bitte, seine Heiligkeit möge so gnädig sein, Voltaire einige Medaillen mit seinem Portrait zur Belohnung zu schenken. Der Abbé überreichte dem Papst außerdem einen Auszug aus den Werken des Papstes (Lambertini hatte nicht weniger als fünfzehn Foliobände geschrieben), den Voltaire vorgenommen hatte, und dazu das zierliche lateinische Distichon, das unter das Porträt des Heiligen Vaters gesetzt werden sollte:

Lambertinus hic est, Romæ decus et pater orbis,
Qui mundum scriptis docuit, virtutibus ornat.

Der Papst schenkte auf der Stelle dem Abbé de Tolignan zwei schwere Medaillen für Voltaire und nahm die Widmung erfreut an. Diese lautete in dem besten Italienisch des Dichters:

Heiliger Vater,

Eure Heiligkeit wird die Freiheit verzeihen, die sich einer der geringsten aber größten Bewunderer geistigen Adels herausnimmt, da er dem Oberhaupt der wahren Religion eine Schrift gegen den Urheber einer falschen und barbarischen Religionsform zueignet.

Wem könnte ich besser diese Satire über die Grausamkeit und die Irrtümer eines falschen Propheten widmen, als dem Stellvertreter und Nachfolger eines Gottes des Friedens und der Wahrheit?

Mit Eurer Heiligkeit Genehmigung lege ich Euch Werk und Verfasser zu Füßen. Ich wage es, Euren Schutz für das Werk zu erbitten, Euren Segen für seinen Urheber. Mit diesem Gefühl tiefer Ehrfurcht küsse ich Euren Heiligen Fuß.

Paris, 17. August 1745.

Der Papst antwortete mit kirchlicher Feinheit und persönlicher Klugheit, wie folgt:

Papst Benedikt XIV. an seinen geliebten Sohn.
Gruß und Apostolischen Segen.

Vor einigen Wochen brachte man Uns von Ihnen Ihre bewunderungswürdige Tragödie Mahomet, die wir mit großer Freude gelesen haben. Der Kardinal Passionei übergab uns danach in Ihrem Namen das schöne Gedicht über Fontenoy. Herr Leprotti hat uns Ihr Distichon zu Unserem Porträt übermittelt, und Cardinal Valenti hat Uns gestern morgen Ihren Brief vom 17. August gebracht. Jeder dieser Beweise des guten Willens verdiente besonderen Dank. Aber Wir verbinden sie alle und senden Ihnen mit einemmal den schuldigen Dank für so viele Beweise ungewöhnlicher Freundlichkeit für Uns mit der Versicherung Unserer Achtung für Verdienste, die so anerkannt wie die Ihren sind.

Als Ihr Distichon in Rom veröffentlicht wurde, teilte man Uns mit, daß einer Ihrer Landsleute, ein Literat, der sich hier aufhielt, in großer Gesellschaft gesagt habe, im ersten Verse sei ein Fehler, da Sie das Wort hic als kurz behandelt hätten, während es doch immer lang sein müßte.

Wir antworteten, daß er sich irrte und daß das Wort kurz oder lang sei nach dem Ermessen des Dichters, da Vergil es als kurz gebraucht habe in dem Vers:

Solus hic inflexit sensus, animumque labantem (Aen. IV 22)
aber lang in dem andern Vers:

Hic finis Priami fatorum, hic exitus illum (Aen. II 554).

Das scheint Uns recht gut geantwortet von einem Mann, der länger als fünfzig Jahre nicht Vergil gelesen hat. Obgleich Sie selbst Partei in der Sache sind, ist Unsere Ansicht von Ihrer Aufrichtigkeit und Redlichkeit so günstig, daß Wir selbst Sie zum Richter machen in dem Streit zwischen Uns und Ihrem Gegner. Es bleibt nur noch übrig, Ihnen Unseren Apostolischen Segen zu erteilen.

Gegeben in Rom in Santa Maria Maggiore, den 19. September 1745, im sechsten Jahr Unseres Pontifikats.

Hinter diesem Hokuspokus an Artigkeiten lag der Wunsch Voltaires, Ludwig den Fünfzehnten zu überzeugen, daß er im Grunde seiner Seele der gehorsame Sohn der Kirche sei, damit er bei dem König keinem Widerstand mehr gegen seine Pläne begegne.

V

Man wird bemerkt haben, wie klug und vorsichtig Benedikt der Vierzehnte jedes Eingehen auf den geistigen Inhalt der französischen Tragödie vermied. Er beschränkte sich auf eine Verbindlichkeit hinsichtlich Voltaires lateinischer Metrik. Da für uns die Gründe des Papstes einer so reservierten Haltung nicht vorliegen und da Mahomet sowohl durch seinen Grundgedanken wie durch seine künstlerische Gestaltung bezeichnend für Voltaire auf seiner damaligen Entwicklungsstufe ist, wird es nötig, bei diesem Drama etwas länger zu verweilen.

An und für sich liegt in der Tragödie gewiß keinerlei feindliche Haltung gegenüber dem Christentum. Das Christentum wird im Mahomet überhaupt nicht erwähnt, und Voltaire steht hoch über dem irrsinnigen Argwohn, daß er in dem Religionsstifter, der seine Hauptperson ist, ein maskiertes Bild vom Stifter des Christentums geben wollte, ob man nun Jesus oder Paulus als den eigentlichen Grundleger der neuen Religion betrachtet. Mit der Jesusgestalt, wie sie in den drei ersten Evangelien gezeichnet wird, hat dieser Mohamed nicht einen einzigen Zug gemeinsam. Und selbst mit der weniger idealen Gestalt des Paulus, wie sie in den Stellen seiner Briefe hervortritt, die echt erscheinen, ist kein Schimmer an Ähnlichkeit vorhanden. Die Hauptperson ist ein machtsüchtiger Krieger und Eroberer, der als Mittel zur Erreichung seiner Ziele bewußt durchgeführten Betrug anwendet.

Auf den, der eine Vorstellung von der Empfindungsweise ferner Zeiten und von dem geschichtlichen Mohamed hat, wirkt diese Hauptperson wie ein ungeheurer Anachronismus. Und wie er auch sein grundsätzlicher Feind, sein Gegenpol, Zopire. Dieser ist ein rechtschaffener Mann, aber durch und durch ein Rationalist aus dem achtzehnten Jahrhundert, der den Betrug durchschaut und darüber verzweifelt, daß der große betrogene Haufen sich von einem Lügner und Schurken beherrschen läßt. Mohamed ist zwar Religionsstifter, aber doch lauter sonnenklares Bewußtsein. In seiner Machtbegierde und in seinem Ehrgeiz scheut er keinerlei Grausamkeit oder Treulosigkeit; er heuchelt, lügt, blendet, verwirrt, hat eine teuflische Freude daran, denkende Wesen in bloße Werkzeuge zu verwandeln und diese Werkzeuge, die im Banne seines Blendwerks stehen, Verbrechen begehen zu lassen, die jede gesunde Menschlichkeit empören, ihm selbst aber zugute kommen.

Dieser Mohamed ist sich ferner nicht nur klar über sich selbst, sondern er enthüllt sich auch ohne Scham und Klugheit vor seinen Vertrauten, wie in folgendem Vers:

Non, mais il faut m'aider à tromper l'univers

eine Wendung, die wohl kaum eine historische Persönlichkeit jemals gebraucht hat.

Der Inhalt des Stückes läßt sich in wenigen Sätzen erzählen: Während der Kämpfe in Mekka, in denen der Scherif von Mekka, Zopire, Mohameds entschiedener Gegner war und mit eigener Hand dessen Sohn niederschlug, sind Zopires Sohn und Tochter, Seïd und Palmire, in Mohameds Macht gefallen und darauf in seinem Hause in Medina als Sklaven erzogen worden, doch als Sklaven, die er mit Güte behandelte, zum Islam bekehrte und zu fanatischen Gläubigen an sich selbst als Gottes Gesandten machte. Zopire weiß nicht, ob seine Kinder noch am Leben sind oder nicht. Aber als Mohamed unerwartet in Mekka eintrifft und ihn zu gewinnen versucht, unter anderem dadurch, daß er ihm verspricht, ihm als Preis für den Frieden und die Versöhnung mit dem Propheten seine Kinder zurückzugeben, zeigt sich Zopire als sein unversöhnlicher Gegner, dessen Verachtung so groß ist wie sein Abscheu. Mohamed, der für Palmire erglüht und unwillig das innige Verhältnis zwischen Seïd und ihr (die nicht ahnen, daß sie Geschwister sind) beobachtet, faßt den teuflischen Plan, Seïd anzustacheln, für die Sache des wahren Glaubens Zopire, von dem er nicht weiß, daß er sein Vater ist, zu ermorden. Danach will er seinen jungen Anhänger töten lassen, um alle Mitschuld an dem Mord von sich weisen zu können, und um sich Palmires zu bemächtigen, die dann keine andere Stütze als ihn auf der Welt hat.

Seïd führt widerstrebend, aber von Fanatismus erfüllt, den Befehl aus und ermordet seinen Vater. Kaum hat er ihn tödlich verwundet, da erfahren der Mörder und der Verletzte ihre gegenseitige Stellung. Seïd will Rache an Mohamed nehmen und, den Dolch in der Hand, nähert er sich ihm in einer großen Versammlung; da wirkt das Gift, das der Prophet den nichts Ahnenden hat trinken lassen, und gerade, als Mohameds Ansehen erschüttert zu sein scheint und sein Leben von der Volksmenge bedroht ist, stürzt Seïd zusammen und bestätigt durch seinen plötzlichen Tod Mohameds Behauptung, daß seine Person heilig sei und er im Schutze des Allerhöchsten stehe. Palmire entwindet dem sterbenden Bruder den Dolch und stößt ihn sich in die Brust. Mit Rücksicht auf die Forderung des Theaterpublikums der damaligen Zeit wird Mohamed im letzten Augenblick von Reue über seine Verbrechen und seinen Betrug gepackt.

Man sieht, daß hier Greuel auf Greuel gehäuft und Untaten verschiedenster Art zusammengetragen sind, um dem Zuschauer und Leser klarzumachen, welche Folgen der Fanatismus hat.

Will man jedoch Voltaire gerecht beurteilen, dann darf man nicht vergessen, wie weit das achtzehnte Jahrhundert davon entfernt war, geschichtliche Treue, ja nur geschichtlichen Geist von der Tragödie zu verlangen. Mohamed ist ein Zeitgenosse Voltaires, eine Art Cagliostro großen Stiles, und die Tragödie ist ein Seitenstück zu Goethes Groß-Kophta. Die lebendigste Gestalt des Stückes, deren Name (wie Tartuffe) als Wort in die Sprache überging, ist Seïd, der Fanatiker, der, wenn ihn ein Heiliger aufhetzt, zum Dolch greift und den Redlichsten ermordet. Aber auch Seïd ist eine Gegenwartsfigur oder eine Gestalt aus einer näheren Vergangenheit, die Voltaire am Herzen lag. Seïd ist Jacques Clément, der Mönch, der Heinrich den Dritten ermordete; er ist ganz besonders Ravaillac, der frühere Feuillantinermönch, der aus religiösen Gründen Heinrich den Vierten ermordete, weil Heinrich nach seiner Auffassung im Streit mit dem Papst lag. Er unterzeichnete eines seiner Vernehmungsprotokolle dadurch, daß er hinter François Ravaillac den Vers setzte:

Que toujours dans mon cœur
Jésus soit le vainqueur!

So wird man verstehen, daß sich Mahomet in seiner geistigen Auffassung auf das genaueste der Henriade anschließt.

Echt voltairisch und im hohen Grade wirkungsvoll für die im Bibelglauben erzogenen Zuhörer war das dem Alten Testament entnommene Beispiel, das Mohamed Seïd vorhält, als er sich dagegen sträubt, den Mord an Zopire auszuführen. Er hatte gehofft, in den Krieg gesandt zu werden, und soll nun eine Opferung vollziehen, bei der keine Ehre zu gewinnen ist und die zu vollbringen sich seine Hand unwillkürlich weigert. Da führt Mohamed gegen ihn die Forderung an, die Gott an Abraham stellte; er sollte seinen eigenen Sohn opfern und er bedachte sich nicht. Wenn Mekka eine heilige Stadt ist, dann beruht das darauf, daß Ibrahims Asche dort ruht:

Ibrahim, dont le bras, docile à l'Eternel,
Traîna son fils unique aux marches de l'autel,
Etouffant pour son Dieu les cris de la nature.
Et quand ce Dieu par vous veut venger son injure,
Quand je demande un sang à lui seul adressé,
Quand Dieu vous a choisi, vous avez balancé.
Allez, vil idolâtre …

Hier bleibt Mohamed in den Grenzen seines Charakters, wählt mit Ueberlegung sein Mittel, um zu wirken und wendet es mit halb verstellter, halb wirklicher Leidenschaft an. Hier ist nicht ein Schimmer der Übertreibung oder der Deklamation. Ganz anders dagegen, wenn Voltaire mit französischer Rhetorik, um die stärkste Wirkung zu erzielen, zum Schluß die weiche und zarte Palmire in blutdürstigen Ausdrücken gegen Mohamed wüten läßt:

Puissé-je de mes mains te déchirer le flanc,
Voir mourir tous les tiens, et nager dans leur sang!

VI

Leicht nahm Voltaire die Aufgabe nicht, die er sich selbst in Le Fanatisme gestellt hatte. Von 1739 bis 1742 befragt er, wie wir in seinem Briefwechsel verfolgen können, alle seine männlichen und weiblichen Vertrauten um ihren Rat bezüglich des Aufbaues des Stückes. Es handelt sich darum, zu erproben, wie man auf die rücksichtvollste Weise die Schrecken der Handlung aufhäufen kann, wie auf die wirkungsvollste Weise das Mitleid des Zuschauers geweckt werden kann. Die Hauptszenen werden ausprobiert, wie man technisch die Tragfähigkeit von Balken erprobt. Oft richtet er sich mit seiner Feinhörigkeit für berechtigte Einwendungen nach den Winken, die ihm die Freunde geben, entfernt eine Stelle, die Anstoß erregt, fügt Zeilen ein, die den Eindruck verstärken; berichtigt, feilt, verbessert.

Manchmal fügt er sich einem praktischen Rat, trotzdem sein künstlerisches Gewissen protestiert.

Er hatte ursprünglich – wie er ja ständig bestrebt war, die Tragödie von den obligaten Liebesszenen zu befreien – versucht, sein Drama über den Fanatismus zu schreiben, ohne ein Liebeselement hineinzubringen. Aber das erwies sich als unmöglich, und bei jener ersten Aufführung in Lille beobachtete er, daß nichts das Publikum stärker bewegte als Palmires Zärtlichkeit für Seïd und der Auftritt im vierten Akt, in dem die Liebenden ruhig über den furchtbaren Mord sprechen, den Seïd begehen soll, als sie hoffen, daß sie dadurch ihre Vereinigung erreichen werden. Schwer fiel es auch Voltaire, seinen »Schlingel von Propheten«, seinen »gefeierten Schurken«, wie er Mohamed in einem Briefe an Pont-de-Veyle nennt, zum Schluß von Gewissensbissen ergriffen zu zeigen. Aber, wie er ausdrücklich in einem anderen Brief über denselben Gegenstand (an Cideville 19. Juli 1741) sagt: alle seine Bekannten forderten unbedingt zur öffentlichen Erbauung am Schluß des Stückes einige kleine Gewissensbisse. Man wollte nach guter alter Sitte und Gewohnheit den Übeltäter wenigstens seelisch gestraft sehen. Das hatte man ja Jahrhunderte hindurch die dichterische Gerechtigkeit genannt. Doch noch im Jahre 1751, als das Stück wieder aufgenommen wurde und unter stürmischem Beifall über die Bretter von Paris ging, schrieb Voltaire (28. August) an d'Argental, es sei traurig, daß das Stück mit einem Ulk (une pantalonnade) endete.

Inzwischen hatte ein großer Schauspieler, Henri Louis Le Kain, den Voltaire selbst erzogen hatte, und der in den wärmsten Ausdrücken seine Dankbarkeit dafür ausgesprochen hat, Mohameds Rolle übernommen. Le Kain hatte sich ganz besonders ausgebildet, Voltaire zu spielen; niemals glückte es ihm, wenn er Rollen von Corneille oder Racine spielte, die Höhe wie bei Voltaires Arbeiten zu erreichen; die lagen seinen Fähigkeiten; es bestand eine Verwandtschaft zwischen ihm und ihnen. Was in Voltaires Stücken sonst didaktisch wirkte, wie allgemeine Betrachtungen, treffende Sätze, die für viele Fälle galten, all derartiges wurde in seinem Munde zum Ausdruck für das persönliche Gefühl des Sprechenden. Und als Mohamed gelang es ihm sogar, die Wendung im inneren Leben des Propheten, zu der das Vorurteil der Zeit den Dichter gezwungen hatte, glaubhaft und ergreifend wahr zu machen. In seinem ganzen Spiel als Mohamed wirkte am stärksten auf den Zuhörer der Ton, mit dem er in seiner letzten Rede entsetzt ausrief: es gibt doch ein Gewissen!

Il est donc des remords!

Wie ein Angstschrei, wie ein Wehruf kam das heraus, wie das Bekenntnis einer ungeheueren, nie zu vergessenden Schuld, das sich über die Lippen des Herrschsüchtigen drängte. Der Tyrann wurde erhaben beim Durchbruch dieser Reue, die ihn ergriff. Die Selbstanklage erhob sich mächtig gegen ihn und gab in der Todesstunde seiner Gestalt verstärktes Leben.

Es fiel Voltaire schwer, sich mit den abschließenden Worten der Tragödie selbst zufrieden zu stellen. Im endgültigen Text schließt Mohamed mit der Bitte an seinen einzigen Vertrauten Omar, daß dieser seine Schande und Schwäche verbergen möge, wenn er tot sei. Seine Herrschaft würde zusammenfallen, wenn das Allzumenschliche seines Wesens erkannt würde:

Et toi, de tant de honte étouffe la mémoire:
Cache au moins ma faiblesse, et sauve encor ma gloire;
Je dois régir en Dieu l'univers prévenu;
Mon empire est détruit, si l'homme est reconnu.

Hier im Untergang erweist sich Mohamed als Charakter und als Staatsmann. Aber es hat Voltaire doch eine Zeitlang vorgeschwebt, daß der vollständige Zusammenbruch im Wesen des Propheten folgerichtiger wäre und die dichterische Gerechtigkeit vielleicht in höherem Maße befriedigen würde. Er schrieb (19. Januar 1741) an d'Argental: würde es Ihnen besser gefallen, wenn das Stück so schlösse:

Périsse mon empire! il est trop acheté.
Périsse Mahomet, son culte et sa mémoire! (à Omar)
Ah! donne-moi la mort, mais sauve au moins ma gloire;
Délivre-moi du jour, mais cache à tous les yeux
Que Mahomet coupable est faible et malheureux.

Dieser Schluß wurde verworfen, und doch ist er besser als der jetzige, denn der Satz: »Mein Reich stürzt zusammen, wenn man sieht, daß ich kein Gott, sondern ein Mensch bin«, ist derart geprägt, daß man eher Voltaires Stimme als die Mohameds hört. Wie das Stück aber auch endet, Napoleons Kritik an ihm bleibt gleichmäßig wahr; auf St. Helena diktierte er eine durchgreifende Analyse der Tragödie, er betonte unter anderem das Unwahrscheinliche, daß die Hauptperson dauernd eine so unvorteilhafte Schilderung von sich selbst gibt. Und es ist für Goethes geläuterten Geschmack höchst bezeichnend, daß er bei der Übersetzung die zwanzig Verse ausließ, die den ganzen Schlußmonolog Mohameds mit seiner Selbstbetrachtung und Selbstverurteilung bilden. Bei ihm endet das Stück ausdrucksvoll und wirksam mit dem Wort der sterbenden Palmire:

Ich sterbe. Fort!
Dich nicht zu sehen, ist das größte Glück.
Die Welt ist für Tyrannen: lebe Du!

VII

Man kann überhaupt keinen lehrreicheren Einblick in Voltaires pathetischen Stil im Verhältnis zu Goethes gewinnen, als durch den Vergleich des Mahomet im französischen Original mit seiner deutschen Wiedergabe, die im Theater zu Weimar aufgeführt wurde.

Erstens ist es, ganz allgemein betrachtet, interessant zu sehen, wie Goethe die allzu theatralische Hochspannung mildert, die Voltaire in Rede und Gegenrede gern erstrebt. Als Seïd seinem alten Vater die tödliche Wunde beigebracht hat, aus der das Blut strömt, ruft er ihm in seiner Reue zu, jetzt an ihm und der Schwester Vergeltung zu üben:

Le ciel n'a pas pour nous d'assez grands châtiments,
Frappez vos assassins!

worauf Zopire im Todeskampf voll Vaterliebe antwortet:

J'embrasse mes enfants.

Goethe findet mit Recht die Aufforderung an den Sterbenden, nun seinerseits den Dolch in seine Kinder zu stoßen, übertrieben und unsinnig, aber er behält den Gegensatz: Strafe deine Mörder – ich küsse meine Kinder bei und übersetzt:

Des Himmels Rache ruf auf uns hernieder,
Verfluche deine Mörder!
Meine Kinder
Umarm ich.

Ehe Napoleon Goethe darauf aufmerksam machte, hatte dieser also selbst längst eingesehen, was für ein schwacher Punkt im Drama Voltaires es war, daß Mohamed ohne jede Scham seine Ränke bekannte und mit den skrupellosen Mitteln prahlte, die er zur Erreichung verbrecherischer Zwecke anwandte. Deshalb hat er auch, so gut es ging, dieser Unnatur abgeholfen. Soweit möglich, läßt er den Propheten sich niemals naturwidrig verraten und ausliefern; er verschleiert den Ausdruck, sodaß der frech herausfordernde Satz politisch wird. Mohamed sagt:

Loins de moi les mortels assez audacieux
Pour juger par eux-mêmes et pour voir par leurs yeux!
Quiconque ose penser n'est pas né pour me croire,
Obéir en silence est votre seule gloire.

Jeder hört, daß hier Voltaire, nicht Mohamed, so unzweideutig verkündet, daß der Prophet keine Menschen brauchen kann, die denken, urteilen, mit eigenen Augen sehen. Goethe läßt Mohamed als klugen Theologen und Alleinherrscher nur die Kritik zurückweisen und den Glauben preisen. Er übersetzt:

Fern von mir
Vermessner Sterblichen beschränkter Zweifel,
Die eignen Augen, eignem Urteil trauen.
Zum Glauben ist der schwache Mensch berufen,
Ein schweigender Gehorsam ist sein Ruhm.

Wenn Mohamed im französischen Text sich selbst mit abstoßendem Cynismus fragt, ob es denn immer notwendig ist, die Menschen zu bekämpfen oder zu betrügen, dann mildert Goethe den Ausdruck und verstärkt dadurch den Eindruck der überwältigenden Persönlichkeit Mohameds.

Französisch:

Faut-il toujours combattre ou tromper les humains?

Deutsch:

Zur Überredung füge sich die Macht.

Man bemerke besonders die gründliche Veränderung, der Goethe den ersten Auftritt des vierten Aktes unterzogen hat. Im Original ist es eine Szene zwischen Mohamed und seinem Vertrauten Omar, in der er zuerst Zopires Tod durch Seïds Hand und die darauf folgende Vergiftung Seïds befiehlt. Dann entwickelt er vor Omar mit überflüssiger Ausführlichkeit, daß Palmire, wenn man ihr nichts verrät, niemals ahnen werde, daß die beiden Getöteten ihr Vater und ihr Bruder waren. Die Stimme des Blutes sei Unsinn; was man Natur nenne, sei nur Gewohnheit. Und dazu fügt er dann mit unnötiger und abstoßender Deutlichkeit erneut die Versicherung, daß seine ganze Macht auf Betrug beruhe:

Mon triomphe en tout temps est fondé sur l'erreur,

ein Satz, den wohl niemals irgendein Eroberer ausgesprochen hat, der die Fähigkeit in sich fühlte, Menschenmassen zu führen und zu beherrschen.

Goethe läßt ohne weiteres diesen ganzen Vortrag fort, läßt Omar sich zurückziehen und legt Mohamed einen Monolog in den Mund, der ganz im Geist des Stückes gehalten ist, aber mit tieferer Psychologie zeigt, wie der Prophet in Erscheinungen von Mord und Tod schwelgt, doch zugleich in Träumen von Palmire, die er so leidenschaftlich begehrt, sie, die diese Schreckensnacht in seine Arme werfen wird. Er ist förmlich visionär in diesem Monolog, sieht und fühlt all das Unglück voraus, das er anstiften wird, und doch gleichzeitig auch all die Wollust, die er erhofft aber niemals finden wird.

VIII

Für Voltaires Zeitgenossen und die Gemeinde, die er sich mit seinen Werken langsam schuf, kam es weniger auf die künstlerische Mäßigung als auf die Kraft an, mit der seine Stücke die Tendenz verfolgten. Wenn Palmire in der zweiten Szene des fünften Aktes, die Goethe gemildert hat, dem blutbesudelten Betrüger, dem Henker ihres Geschlechts, ihren Fluch ins Gesicht schleudert, da er es wagt, sich ihr als übermütiger Freier zu nahen, so genoß man hierin die Entlarvung eines sogenannten Sendboten Gottes als Lügner und Mörder, den Schlag, der gegen die falschen Propheten der Religion geführt wurde:

Le voilà donc, grand Dieu! ce prophète sacré
Ce roi que je servis, ce Dieu que j'adorai!
Monstre! dont les fureurs et les complots perfides
De deux cœurs innocents ont fait deux parricides.

Mahomet entzückte die Mitglieder der ecclesia militans der Philosophie weniger als ausgezeichnete Poesie denn als seltene Handlung, als Großtat.

Grimm schrieb in seiner Correspondance über dies Stück, daß es das schönste Werk des französischen Theaters sei. D'Alembert wünschte, daß es zweihundert Jahre älter wäre; wer könnte wissen, ob der philosophische Geist, der darin lag, nicht Frankreich vor den Greueln der Religionskriege und der Bartholomäusnacht bewahrt hätte? Diderot bewunderte gleichfalls im Mahomet die Krone, die die tragische Muse Voltaires trug. Palissot, der Feind der Philosophen, dessen Stück über sie ihnen keinen geringen Schaden zufügte, strömt vor Begeisterung für Mahomet über; er ist überzeugt, daß der Dichter mit diesem Werk, das den Fanatismus brandmarkt, dem Volk einen wirklichen Dienst geleistet, der Menschheit eine Wohltat erwiesen hat. Im Anschluß an Mahomet berührt er Voltaires Weissagung, daß man die Bartholomäusnacht noch einmal auf die Bühne bringen wird, eine Prophezeiung, die mit Maria Joseph Chénier's Charles IX in Erfüllung ging, über dessen Aufführung in Paris Baggesen im dritten Teil vom Labyrinth schreibt: »Nein, niemals haben Menschheit und Kunst in meinem Herzen eine konvulsivischere Wonne geweckt.«

Was Voltaires letzte Absicht mit dem Mahomet war, darüber ließ er seinen preußischen Verehrer von Anfang an nicht im Zweifel. Er bezeichnet sein Stück als »die erste Tragödie, in welcher der Aberglaube angegriffen wird.« Mahomet eröffnet ja tatsächlich Voltaires Kampf gegen die katholische Kirche. Er schreibt, daß ihm die sogenannten Christen oft wie die Türken vorgekommen sind; nun mögen sich die Verfechter des christlichen Fanatismus als Türken, die sie sind, demaskiert, einmal dem Abscheu aller fühlenden Menschen preisgegeben sehen. Den Großvikar Omar, den Prälaten Mohamed – man wird sie hinter der Muselmanmaske sicher erkennen. In Mahomet erhalte Tartuffe sein tragisches Gegenbild. Es sei Tartuffe mit Waffen in der Hand, Tartuffe als Religionsstifter, der Staaten stürzt, den Fuß auf Fürstennacken setzt und sich zur Weltherrschaft aufschwingt.

Friedrich schien der geborene Beschützer für Voltaires Mahomet. Daher Voltaires ausführlicher Brief an Friedrich darüber vom Dezember 1740, der nicht als Privatbrief gedacht war, in dem er auf den Nutzen hinweist, in der Geschichte bis auf jene alten Verbrecher zurückzugehen, die berühmten Grundleger von Aberglauben und Fanatismus, die als erste zum Altarmesser griffen, um den als Opfertier zu behandeln, der nicht ihr Jünger sein wollte. Man meine nicht, die Zeiten für derartige Verbrechen seien vorbei, oder das Feuer der Religionskriege sei gelöscht; da würde man zu gut von der menschlichen Natur glauben. Und er beweist seine Ausführungen mit einer langen Reihe von Beispielen. Alphonse Diaz (den Voltaire irrtümlich Barthélemi nennt) ließ seinen Bruder ermorden, weil er Lutheraner geworden war. Die Morde selbst wurden in der Regel von ganz jungen Menschen wie Seïd ausgeführt. Balthazar Gérard, der Wilhelm von Oranien ermordete, war erst zwanzig Jahr alt.

Welchen Nutzen habe die Menschheit davon, daß sie die Leidenschaften und das Unglück eines Helden des Altertums erfährt, wenn man uns dadurch nicht belehrt? Das Theater solle belehren und warnen. Die Bühne sei die mächtige Rivalin der Kanzel.

Das Theater ist mit anderen Worten unter Voltaires Händen zu einer Gegenkirche geworden.

Der von Voltaire wie von den meisten Zeitgenossen verhätschelte Saint-Lambert, dessen Gedicht Les Saisons, eine Nachahmung von Thomsons The Seasons, Begeisterung erregte, der Mann, den, wie schon erwähnt, zwei bedeutende Frauen sowohl Voltaire wie Jean-Jacques Rousseau vorzogen, spricht in diesem Gedicht über Voltaire als Tragiker auf eine Weise, die der Begeisterung jener Zeit für Mahomet entspricht. In der Abteilung, die den Titel L'Hiver führt, sagt er, daß Voltaire auf der Bühne Corneille und Racine vollständig aus dem Felde geschlagen habe:

Du plus grand de nos rois le chantre harmonieux
Remplirait seul mes jours d'instans délicieux;
Vainqueur des deux rivaux qui regnaient sur la scène
D'un poignard plus tranchant il arma Melpomène;
De la crédule histoire il montre les erreurs

und in der langen Prosa-Anmerkung, die diese Stelle erklärt, heißt es unter anderem auch: »Es schaudert einen beim Mahomet, man bricht in Tränen aus bei Zaïre, und sagt danach aus Gewohnheit, daß mit Corneille und Racine nichts verglichen werden kann.« Er zeigt, daß beide weniger pathetisch als Voltaire seien, dessen Begeisterung größer ist. Die Leidenschaften sprechen bei ihm mit mehr Gewalt und Energie. In Voltaires Tragödien ist mehr Handlung als in ihren; seine Stoffe haben mehr allgemeines Interesse, sie begeistern die Menschheit. Sie graben in das Herz der Menschen die eine oder die andere große Wahrheit ein. Wie Alzire eine Predigt gegen die Unduldsamkeit war, so sei Mahomet eine Predigt gegen die Gefahren des Fanatismus.

Saint-Lambert ist hier der Sprecher seiner Zeit.

IX

Sobald Voltaire von dem Sieg bei Fontenoy hörte, schrieb er die folgenden kurzen Verse und sandte sie der darin genannten Dame:

Quand Louis, ce héros charmant
Dont tout Paris fait son idole,
Gagne quelque combat brillant,
On doit en faire compliment
A la divine Etiole.

Es war das Unerhörte geschehen, das zwar nicht den Staat, doch aber den Hof bis zu den Grundmauern erschütterte: eine Dame bürgerlicher Abstammung, die nicht wie alle früheren Favoritinnen dem Hochadel entsprossen war, sondern der bürgerlichen Finanzaristokratie, hatte den ledigen Platz an der Seite des Königs eingenommen.

Jeanne Antoinette Poisson war in Paris am 29. Dezember 1721 geboren. Sie wuchs ebenso schön wie talentvoll auf, besaß alle Vorzüge, hatte nur einen einzigen Umstand gegen sich: ihre Abstammung. Ihr offizieller Vater, Herr Poisson, hatte das Heer mit Lebensmitteln versorgt, aber dabei derartige Unredlichkeiten begangen, daß er zum Tode durch den Strang verurteilt worden war, weshalb er auf längere Zeit nach Hamburg verschwand. Ihre Mutter, Louise Madeleine de la Motte, die erst von einem Staatssekretär geliebt und unterhalten worden war, dann von einem Botschafter, war zu der Zeit, als die kleine Tochter zur Welt kam, mit dem Generalpächter Le Normant de Tournehem eng verbunden, auf dessen Kosten das junge Mädchen eine glänzende Erziehung empfing. Ihre seltenen Eigenschaften wurden mit Sorgfalt und Verständnis ausgebildet, und sie wurde, was man im achtzehnten Jahrhundert eine Virtuosin nannte, ein Inbegriff aller Mittel ihres Geschlechts zu reizen und zu erobern.

Bei Jeliotte hatte sie singen und Klavier spielen gelernt; bei Guibaudet tanzen, und sie sang wie eine Opernsängerin und tanzte so gewandt wie eine Ballettänzerin. Der Tragiker Crébillon hatte sie als Freund des Hauses in der Kunst, Verse vorzutragen, unterrichtet und hatte ihre Begabung als Schauspielerin hervorgelockt. Crébillons Freunde hatten ihr die Bildung jener Zeit beigebracht, ihre Gefühle mit Schelmerei, ihre Gedanken mit Ironie auszudrücken. Keine saß wie sie zu Pferde. Keine erweckte wie sie einen Beifallssturm beim bloßen Klang der Stimme, beim Anschlag auf dem Instrument. Niemand vermochte wie sie, die beliebtesten Schauspielerinnen in ihrer Art und Weise und Sprache zu kopieren. Niemand erzählte eine Anekdote mit größerer Feinheit und mehr Witz.

Und echt weiblich – niemand verstand wie sie sich zu kleiden. Nicht nur saßen ihre Kleider an ihr, daß sie jeden Vorzug, den ihre Gestalt besaß, hervorhoben, aber was sie auch zur Hand nahm, ein Band, ein Tuch, ein Stück Stoff, sie verstand es, sich damit zu schmücken, daß es jetzt erst auffiel, und sie mit ihm. Sie besaß das weibliche Genie, das jedem Modekleid ein persönliches Gepräge gibt, und sie trug jeden Fetzen, den sie an ihren Körper anbrachte, mit persönlicher Haltung.

Hierzu kam, daß sie geschickt zeichnete, mit Talent zu radieren verstand, sodaß sie bereits in ganz jungen Jahren durch diese wunderbare Vereinigung von Fähigkeiten und Fertigkeiten sowohl auf Frauen wie Männer Eindruck machte; daher sehen wir sie bereits avant la lettre in verschiedentlicher Berührung mit zwei von den fünf Schwestern, die der König durch seine Huld auszeichnete. Eines Abends ereignete es sich bei Madame d'Angervilliers, daß Madame de Mailly, nachdem Mademoiselle Poisson ein Stück auf dem Klavier gespielt hatte, sie hingerissen in die Arme schloß und ihren Ruhm bei Hofe verbreitete. Einige Zeit darauf, als sie verheiratet war, unterhielt die Herzogin von Chevreuse voller Schwärmerei Ludwig XV. von »der kleinen d'Etioles«; da näherte sich ihr still die Herzogin von Châteauroux und trat ihr so fest auf den Fuß, daß es ihr übel wurde. Am nächsten Tage machte Madame de Châteauroux der Herzogin einen Besuch, um sich wegen der Ungeschicklichkeit zu entschuldigen, und warf im Laufe des Gespräches so dahin: »Wissen Sie, daß man augenblicklich davon spricht, die kleine d'Etioles dem König zu geben, und nur nach der Art und Weise sucht?« Sie ließ gleichzeitig der auftauchenden Nebenbuhlerin Befehl geben, sich nicht mehr in dem Walde aufzuhalten, in dem der König auf die Jagd ging.

Madame d'Etioles machte, trotzdem sie jung und unbekannt war, einen so starken Eindruck auf erfahrene Kenner wie den Präsidenten Hénault, daß dieser, nachdem er die junge Dame in einer Abendgesellschaft getroffen hatte, im Jahre 1742 an Madame du Deffand schrieb: »Ich lernte dort eine der schönsten Frauen kennen, die ich jemals gesehen habe. Sie versteht viel von der Musik; sie singt frisch und mit vollendetem Geschmack; sie kennt wohl hundert Lieder; sie spielt Komödie in Etioles auf einer Bühne, die ebenso schön ist wie unsere Oper, und wo es eine Maschinerie und Szenenveränderungen gibt.«

Unter den vielen Verehrern, die sie umgaben, erwählte der Freund ihrer Mutter für sie seinen Neffen, der unter den Anbetern am stärksten verliebt und außerdem sehr reich war. Im März 1741 wurde sie vermählt mit Charles Guillaume le Normant, seigneur d'Etioles, chevalier d'honneur du présidial de Blois. Ihr Ehemann war zwar kaum vierundzwanzig Jahre alt, aber klein, häßlich, nicht gut gewachsen; seine Leidenschaft für sie ließ sie kalt; sie sah in ihm nur ein Mittel zum gesellschaftlichen Aufstieg.

X

Sie war blendend schön. Ihre Haut war weiß wie bei keiner anderen; das Gesicht bildete ein vollendetes Oval, die Lippen waren etwas blaß, die großen Augen von unbestimmbarer Farbe, was erklärlich macht, daß sie auf dem einen ihrer beiden Bilder im Louvre blau sind, auf dem anderen braun; aber unter den schönen dunklen Brauen bannten diese Augen sowohl den, der blauen Augen gegenüber schwach war, als auch den, der braunen nicht widerstand. Sie hatte prachtvolles hellbraunes Haar, die schönsten Zähne, zwei Grübchen in den Wangen. Die Gestalt war etwas über Mittelgröße, schlank, geschmeidig, elegant, die Hände zart, die Handbewegungen lebhaft, gelegentlich leidenschaftlich. Aber das Wesentliche in dem schönen Angesicht war dessen Beweglichkeit und Veränderlichkeit, der ununterbrochene Wechsel des Ausdrucks, sodaß es bald von Herzlichkeit, bald von Würde, bald von Anmut beseelt schien.

Der Freund ihrer Mutter gab dem jungen Paar sofort die Hälfte seines Eigentums, die andere Hälfte testamentarisch für den Fall seines Todes, und die junge Schönheit richtete sich in sorgenlosem Wohlstand auf Etioles ein und lud die Freunde des Vaterhauses zu sich, darunter Fontenelle, den Abbé de Bernis, den einige Jahre später berühmten Kardinal, Maupertuis und Voltaire, der sich später an manches Glas Tokajer erinnerte, das ihm auf Etioles von der schönen Frau des Hauses gereicht worden war.

Unter dem Jahresgeld, das Madame de Pompadour in ihrer Regierungszeit ausgab, befindet sich ein Posten, der daran erinnert, was unter dem Eindruck der mütterlichen Schmeicheleien und Hoffnungen in der Zeit ihres Wachstums und ihrer Jugend zu ihrer fixen Idee geworden war: »600 Livres an Madame Lebon, weil sie der Marquise, als diese neun Jahr alt war, vorausgesagt hat, sie würde eines Tages die Geliebte des Königs werden.« Abergläubisch, wie sie war, hatte sie sich mit ihrem heftigen Ehrgeiz und ihrer lebhaften Einbildungskraft an diese Prophezeiung geklammert und war darin bestärkt worden, wenn sie hörte, wie Bekannte sie mit zynischer Schmeichelei un morceau de roi nannten.

Seit dem Tode der Herzogin von Châteauroux war deren Platz frei. Die Königin ging ganz auf in Gottesfurcht und Wohltätigkeit. An Zerstreuungen gestattete sie sich nur die kleinen Abendmahlzeiten bei dem Herzog und der Herzogin von Luynes, wo die Gesellschaft unabänderlich die gleiche war, und wo die Hauptpersonen der Bruder der Herzogin, der Kardinal von Luynes, der Präsident Hénault, der Herzog und die Herzogin von Chevreuse waren. Der Herzog von Chevreuse war zum allgemeinen Vergnügen platonisch in die Königin verliebt und auf Hénault eifersüchtig, mit dem sich Maria Leszczynska gern unterhielt.

Im Anfang waren diese Abendgesellschaften Lichtpunkte in dem eintönigen Leben der Königin gewesen; allmählich waren sie durch die Wiederholung immer langweiliger geworden. Manchmal schnarchte der alte Hund der Herzogin von Luynes, Tintamarre, so stark, daß er den Kardinal weckte. Dann fuhr dieser mit einer so komischen Bewegung oder einem so geistesabwesenden Ausruf in die Höhe, daß die alte und müde Gesellschaft lächeln mußte.

Der König, der sich mit gelegentlichen Frauen getröstet hatte, war auf dem Punkte, daß er von Liebeleien genug hatte und eine Freundin gebrauchte. Richelieu, der eng liiert war mit Madame de la Popelinière (deren nähere Bekanntschaft er gemacht hatte, als er durch einen Kamin bei ihr eingestiegen war), hatte diese Dame, die frühere Opernsängerin Deshayes, die Richelieu mit der rührendsten Leidenschaft liebte, vergebens dem König angeboten, der das Anerbieten abgelehnt hatte. Aber Madame d'Etioles hatte lange danach gestrebt, die Aufmerksamkeit Ludwigs auf sich zu ziehen. Sie kam in den Senartwald, wo die königlichen Jagden stattfanden, in entzückenden Kostümen, und fuhr in ihrem eigenen kleinen Wagen dauernd zwischen den Pferden und Hunden, so daß der König ihr mit den Augen folgte. Der große Maskenball, der im Februar 1745 aus Anlaß der Vermählung des Thronfolgers im Rathaus gegeben wurde, verschaffte Madame d'Etioles Gelegenheit, sich dem König zu nähern. Die Bekanntschaft wurde gemacht und am folgenden Tage speiste sie mit dem König in Versailles zu Abend.

Madame de Tencin und ihr Bruder, der Kardinal, zeigten sich ihr gegenüber, wie früher gegenüber Madame de Châteauroux, sehr eifrig, die Verbindung zu stärken und gaben der jungen Dame gute Ratschläge und Warnungen aller Art. Der Bischof von Mirepoix dagegen, den Voltaire dem Gelächter des Königs von Preußen und ganz Europas ausgeliefert hatte, und der sich als Lehrer des Dauphin seine Machtstellung am Hofe bewahrte, donnerte gegen die neu auftauchende Favoritin los und hob überall bei Hofe hervor, welch schlechtes Beispiel man geben würde, wenn eine Frau, die in der schlechtesten Gesellschaft der Zeit gelebt und mit Fontenelle und Maupertuis, ja mit Voltaire verkehrt hatte, zur maîtresse en titre erhoben würde. Doch die laute Opposition dieses Mirepoix hatte die Wirkung, daß diejenigen unter den Vertrauten des Königs, die der dummfrommen Partei feindlich waren, die junge Dame protegierten und Ludwig XV. zum Widerstand gegen die geistliche Vormundschaft anstachelten.

Kaum hatte sich im April 1745 das Verhältnis zwischen ihr und dem König weiterhin gefestigt, als sie ihn in ihre wohl mehr vorgebliche als wirkliche Angst vor den Mordplänen einweihte, die ihr Mann in der Wildheit seiner Eifersucht fassen konnte, und dadurch Ludwig bewog, ihr sofort Madame de Maillys frühere Wohnung in Versailles einzuräumen, wo kein Othello sie finden und überfallen konnte. Sie brachte den König ferner dazu, ihr seinen Schutz gegen den Haß und die Geringschätzung, die der Dauphin an den Tag legte, zuzusichern, und ihr das Versprechen auf ein Gut zu geben. Als Ludwig im Mai zum Heer nach Flandern zog, wurde ihr außerdem in sichere Aussicht gestellt, daß sie bei seiner Rückkehr maîtresse declarée werden sollte.

XI

Anfang Juli konnte die Glückliche ihren Freunden nicht weniger als achtzig Briefe zeigen, die ihr der König in den vergangenen zwei Monaten gesandt hatte. Da sie sich auf ihre eigene stilistisch bestrickende Fähigkeit nicht verließ, kam sie auf den geschickten Ausweg, den jungen gewandten Abbé de Bernis die einschmeichelnden, zärtlichen und geistreichen Briefe schreiben zu lassen, die sie danach als Antwort für König Ludwig ins Reine schrieb. Einer der letzten Briefe des Königs an sie war adressiert: »A la marquise de Pompadour« und enthielt das Dokument, das ihr diesen Titel verlieh. Voltaire, der sich diesen Sommer ein paar Monate auf Etioles aufhielt, schrieb bei dieser Gelegenheit die Stanzen, deren erste lautet:

Il sait aimer, il sait combattre,
Il envoie en ce beau séjour
Un brevet digne d'Henri Quatre,
Signé LOUIS, Mars et l'Amour.

Eines Abends, als sie in Versailles in Les petits appartements eine Rolle gespielt hatte, schrieb er danach folgende Verse:

Ainsi donc vous réunissez
Tous les Arts, tous les goûts, tous les talents de plaire:
Pompadour, vous embellissez
La cour, le Parnasse, et Cythère.
Charme de tous les cœurs, trésor d'un seul mortel,
Qu'un sort si beau soit éternel!
Que vos jours précieux soient marqués par des fêtes!
Que la paix dans nos champs revienne avec Louis!
Soyez tous deux sans ennemis,
Et tous deux gardez vos conquêtes!

Die letzte Wendung ist künstlerisch fein und wäre sicher nicht unvorsichtig gewesen, falls die Verse in den Händen geblieben wären, für die sie bestimmt waren. Aber sie brauchten nur der Königin oder den Prinzessinnen zu Ohren zu kommen, um sofort als törichte Kränkung zu wirken.

Ohne Feinde am Hofe, wie ihr das in dem Gedicht gewünscht wurde, war die Marquise sicherlich nicht. Sie hatte alle Welt zu Feinden, und man wetteiferte darin, über sie herzuziehen. Jede Wendung, die sie gebrauchte und die verriet, daß sie keine vornehme Erziehung genossen hatte, wurde ins Lächerliche gezogen. Und es kann nicht geleugnet werden, daß sie gerade, wenn sie sich vertraulich zeigen wollte, gelegentlich besonders unglücklich war. Eines Tages hatte sie den Herzog von Chaulnes »mon cochon« genannt! Wie viele Vorzüge sie auch besaß, sie hatte keine Rasse, und das konnte ihr an diesem Hofe nicht verziehen werden. Sie war nicht nur von Geburt, sondern auch im Denken bürgerlich, liebte den König sentimental, schlug ihm ganz naiv eine Ehe vor zwischen einem ihm sprechend ähnlichen Sohn, den er mit Madame de Vintimille gehabt hatte, und ihrer Tochter Alexandrine aus der Ehe mit Herrn d'Etiole. Sie wünschte, daß des Königs und ihr Blut sich mischen sollten, und sah sich im Geist voller Rührung bereits als Großmutter. Der König wies diesen Plan mit entschiedenem Widerwillen dagegen, sein Bourbonenblut mit bürgerlichem Blut vermischt zu sehen, zurück, und Alexandrine starb kurz darauf.

Madame de Pompadour war außerdem in der Art Schicklichkeit, die sie in ihrem Verhältnis zum König zeigte, bürgerlich, nahm eine Haltung ein, die von den Hofleuten jener Zeit als Grisettenbenehmen verspottet und von den damaligen Dichtern als keusch verherrlicht wurde. Bernis, der ihre Liebesbriefe schrieb, besang sie in dem Stil, den ihre Verehrer anwandten. Ihre Liebe zum König war Tugend; seine für sie war Tugend, falls sie beständig war:

Tout va changer: les crimes d'un volage
Ne seront plus érigés en exploits;
La Pudeur seule obtiendra notre hommage
L'Amour constant rentrera dans ses droits.
L'exemple en est donné par le plus grand des rois
Et par la beauté la plus sage.

Die Constance und die Sagesse, die hier gepriesen werden, sind bürgerliche Tugenden, Tugenden, die dem bürgerlichen Ideal der Zeit entsprechend, auf eine Favoritin Ludwigs XV. übertragen wurden.

Dem Bürgerlichen in ihrem Wesen entsprach auch ihr Eifer, die Königin nicht nur nicht zu kränken, sondern ihr auch ihre Huldigungen zu erweisen, ihr Wohlwollen zu erlangen, gut angeschrieben bei ihr zu sein, und ihre Macht zu benutzen, die Stellung der legitimen Gemahlin zu heben und zu verbessern.

Ihre Vorstellung vor der Königin fand in Versailles am 14. September 1745 statt. Sie kam von Ihrer Vorstellung vor Ludwig XV., die unter einem derartigen Andrang im Vorzimmer stattgefunden, daß diese allgemeine Neugier den stets verlegenen König zum Erröten gebracht hatte. Die Spannung in den Zimmern der Königin war ungeheuer. Würde die Königin ihr nur etwas über ihr Kleid sagen, würde die Haltung der Herrscherin steif, ihr Ton kühl sein? Die Königin, mit der im voraus lange diplomatisch verhandelt worden war, zeigte sich liebenswürdig entgegenkommend, und, anknüpfend an die einzige Dame der höheren Aristokratie, der Madame de Pompadour nahestand, fragte sie: »Sagen Sie mir doch, wie es Madame de Saissac geht; ich habe sie mit Vergnügen einigemale in Paris gesehen«. Gerührt über soviel Güte stammelte Madame de Pompadour hervor: »Madame, ich habe eine wahre Leidenschaft, Ihnen, wenn es möglich ist, zu gefallen.«

Um die Königin davon zu überzeugen und Gelegenheit zu erneuter Versicherung ihrer untertänigen Ergebenheit zu finden, tat die Favoritin, als hätte sie mit Unruhe Zeichen der Kühle in der Haltung der Königin ihr gegenüber bemerkt, und vertraute sich deshalb der Herzogin von Luynes an, die ihr von Maria Leszczynska schnell den Bescheid brachte, »daß die Königin nichts gegen sie habe, im Gegenteil ihren Eifer anerkenne, bei jeder Gelegenheit ihr zu Gefallen zu sein.«

Dies gab Madame de Pompadour Anlaß zu einem langen Brief, der an die Herzogin gerichtet war, um von der Königin gelesen zu werden, in dem sie mit bürgerlicher Innigkeit und mit Demut ihre Ergebenheit ausspricht und auch ihren Kampf gegen die allgemeine Feindseligkeit des Hofes ihr gegenüber darstellt, um sich wenigstens gegen Angriffe aus dem Kreis der Königin zu sichern. Der Brief fängt an:

Sie geben mir das Leben wieder, Frau Herzogin; ich habe die letzten drei Tage in einer Qual ohnegleichen verbracht, was zu glauben Ihnen nicht schwer sein kann, da Sie ja so genau meine Ergebenheit für die Königin kennen. Man hatte mich auf das Abscheulichste bei dem Dauphin und seiner Gemahlin angeschwärzt: Sie haben mir die Güte erwiesen, die Falschheit jener Abscheulichkeiten, deren man mich anklagte, klarzumachen. Einige Tage vorher sagte man mir, daß man auch die Königin gegen mich gestimmt hätte; beurteilen Sie selbst meine Verzweiflung! Die Königin gegen mich gestimmt, die ihr Leben für sie geben würde, und deren Güte gegen mich mir an jedem Tage teurer wird!

Madame de Pompadour widerlegte dem König alle Verleumdungen der Königin, mit denen man ihm in den Ohren gelegen hatte; sie bewog ihn dazu, sich hin und wieder einige Minuten an den Spieltisch der Königin zu setzen, bewog ihn, sie zu Mittag im Schlosse Choisi einzuladen, erreichte sogar, daß er am 1. Januar 1746 zum ersten Male nach langer Zeit der Königin eine Neujahrsgabe schenkte, eine goldene Tabaksdose, in die eine kleine Uhr eingefaßt war – komischerweise ein Geschenk, das ursprünglich für die gerade verstorbene Mutter der Marquise bestimmt gewesen war –.

Tatsächlich erwiesen der Dauphin, die Dauphine und deren bigotte Umgebung der Favoritin jederzeit nur eisige Kühle. Saßen sie mit ihr im Wagen des Königs, sprach niemand von ihnen ein einziges Wort, und jeder überhörte ihre Fragen. Richelieu stand ihr von Anfang an schroff gegenüber. Wollte der König sich nicht mit Madame de Popelinière einlassen, so hatte er doch noch seine beiden Nichten, besonders Madame de Flavacours, die Ludwig früher gerngehabt, jedoch auch Madame de Lauraguais, die er einmal so unterhaltend gefunden hatte, und die, witzig und beißend wie immer, die Marquise von Pompadour auf den am schärfsten geschliffenen Spieß ihrer Stichelrede spießte, ihr Glied für Glied auf dem schnurrenden Rade ihres Klatsches brach und sie nur herunterriß, um sie in Lächerlichkeit zu ertränken. Was war wohl lächerlicher als eine bürgerlich geborene Person, die sich zur Mesalliance mit einem König emporschwingen wollte!

Doch trat binnen kurzer Zeit zwischen der Marquise und Richelieu Versöhnung ein.

Bald aber erhielt Versailles in seinem Haß starke Unterstützung von dem lachlustigen und bösartigen Paris, das gewohnt war, alle herausfordernden Hofbegebenheiten mit einem Schwarm von Epigrammen, Spottversen und Schmähliedern zu begrüßen.

Wie bei einer früheren Gelegenheit, war es auch diesmal der Minister Maurepas, der insgeheim die Schleusen öffnete und Spott und Hohn aus seiner eigenen Feder sich mit dem Strom herunterreißender Lyrik vermischen ließ, die den Namen Poissonaden bekam. Hier ein paar Strophen eines dieser Lieder:

Une petite bourgeoise
Elévée à la grivoise
Mesurant tout à sa toise.
Fait de la cour, un taudis, dis, dis.
Le roi, malgré son scrupule,
Pour elle fortement brûle.
Cette flamme ridicule
Excite dans tout Paris ris ris ris.

Cette catin subalterne
Insolemment le gouverne,
Et c'est elle qui décerne
Les honneurs à prix d'argent, gent, gent.
Devant l'idole tout plie
Le courtisan s'humilie,
Il subit cette infamie
Et n'est que plus indigent, gent, gent, gent.

XII

Für die Favoritin galt es in erster Linie, sich eine Partei zu bilden, eine noch so kleine, aber zuverlässige Partei an diesem Hofe, der ihr in seiner Gesamtheit feindlich war. Als einen Anfang hatte sie Madame de Tencin und ihren Bruder, beide unschätzbar als kluge Ratgeber, dann die alte Prinzessin von Conti, der die Schulden bis zum Halse standen, deren Verschwendungssucht die Schulden dauernd vergrößerte, sie deshalb zu jedem Zugeständnis und Entgegenkommen willig machte, danach den jungen Prinzen von Conti, dem sie versprach, seine Heiratspläne mit der Prinzessin Adelaide zu fördern, und der sich ihr als Bundesgenosse darbot in seinem Unwillen und in seiner Eifersucht gegen die Familien Condé und Orléans, die die Plätze zwischen dem König und ihm einnahmen. Auf ihrer Seite hatte sie außerdem einen Diplomaten, M. de Saint-Severin, gewann sich durch Schmeicheleien die beiden Marschälle Noailles und Belle-Isle, schließlich den Marquis von Pusieux, durch dessen Hände alle aufgefangenen Briefe gingen, und durch dessen Beistand sie sicher war, daß der König in seinen Briefen nichts fand, was gegen sie sprach.

Bereits als Madame d'Etioles und als ein Mittelpunkt der Finanzwelt, hatte sie mit den mächtigen Brüdern Pâris verkehrt. Eine bessere Stütze als diese Männer, die Frankreichs Finanzen in der Hand hatten, konnte man nicht haben, wenn man intim verbunden mit einem König war, der sich dauernd in Geldschwierigkeiten befand und dauernd große Summen gebrauchte.

Es wurde Madame de Pompadours Aufgabe, Ludwig klarzumachen, wie nur diese Männer mit ihrem Ideenreichtum und ihren sinnreichen Berechnungen dem König das Geld zu beschaffen vermochten, das er zum Kriegführen brauchte. Sie unterstützte die gewagte und phantastische Finanzpolitik der Brüder, die ständig auf die mutmaßliche Vernichtung Österreichs oder Hollands oder einer anderen Macht hinausging, und ließ die Staatsschuld ohne Besorgnis wachsen, die Provinzen aussaugen, wenn nur stets genügend Geld für den König, für Versailles und Paris übrig war.

Doch vor allem anderen ging ihr Streben natürlich darauf aus, den König ganz zu gewinnen und sich ihm unentbehrlich zu machen. In dieser Beziehung besaß sie eine erotische Genialität. Sie begriff, daß der innerste Punkt im Wesen des Königs der Nullpunkt war, das Nichts, die gähnende Leere. Dort entstand der dunkle Trübsinn, der in jedem Augenblick zerstreut werden sollte, der sich in dem ständigen Zurückkommen auf Gespräche über Tod und Begräbnis Ausdruck gab. Es galt, diese Leere so auszufüllen, daß sich die Schwermut nicht mehr aus ihr erheben konnte.

Der König langweilte sich, das war der Kern der Sache, langweilte sich, wie sich ein unfruchtbares, durch Genüsse stumpf und ganz interesselos gewordenes Wesen stets langweilt, akut und doch nicht nur in Augenblicken, mit einem rein tödlichen Überdruß. Hier griff die Marquise ein, mit leichten Händen, mit einem Takt, der niemals irrte, mit dem tiefen, instinktsicheren Verständnis dafür, wie es in diesem Männchen aussah, das sich nur bei einer verfeinerten und sensiblen Frau, die zehnfach Weibchen war, finden ließ. Madame de Pompadour besaß die seltene Gabe, die mißtönenden schnarrenden Saiten in Ludwigs Seele zu Akkorden zu stimmen. Ihre schönen Hände vernagelten die leere Mitte im Gemüt des Königs mit einem Goldnagel. Ihre klugen Hände wiegten den Mißmut des Königs in Schlaf.

Und es war ihm unmöglich, sich in ihrer Nähe zu langweilen, denn sie besaß das Genie, lange Zeit hindurch neu zu sein. Ihre Schönheit erneuerte sich, verwandelte, vervielfältigte sich ins Unendliche durch die Fähigkeit, die sie besaß, sich zu kleiden und zu schmücken. Ihre Anziehungskraft blieb ständig frisch, denn ihr Benehmen, ihr Gespräch, ihre Bewegungen, ihre Liebkosungen waren so abwechslungsreich, daß alles jedesmal von neuem Überraschung war, und nichts Gewohnheit wurde. War der König in seiner Abgestumpftheit und seinem Lebensüberdruß schlechter Stimmung, so brachte sie ihm wie ein guter und verlockender Genius in der einen Hand Vergessen, in der anderen Genuß.

Was er wegen seiner inneren Leere gebrauchte, war Zeitvertreib, und sie vertrieb ihm die Zeit, gab ihm tausend kleine angenehme Beschäftigungen, ließ ihn kurze Reisen unternehmen, sich über Zerstreuungen freuen; sie verschloß seine Tür, wenn die Minister kamen, um mit ihm zu arbeiten, versteckte ihn in ihrer Wohnung in Fontainebleau oder Choisi oder Versailles, wenn die fremden Botschafter Audienz wünschten um ihn, der sich von vornherein langweilte, noch stärker zu langweilen. Sie sang vor ihm; sie spielte vor ihm; sie erzählte ihm unterhaltsame Geschichten.

In Tausendundeiner Nacht ist der Rahmen bekanntlich der, daß ein erdichteter Monarch in Mittelasien, der fest entschlossen ist, sich selbst gegen die Falschheit und Treulosigkeit der Frauen zu schützen, seine Frauen für eine einzige Nacht wählt und sie am nächsten Tage hinrichten läßt. Doch die älteste Tochter seines Veziers, Scheherazade, unterhält den Sultan köstlich durch eine Erzählung, deren Schluß sie weise bis zur folgenden Nacht aufspart und fährt damit solange fort, bis der Sultan seinen mörderischen Plan vergißt.

Wie Scheherazade verlängerte Madame de Pompadour ihre Existenz dadurch, daß sie dem König tausendundeine Nacht schenkte und danach aufs neue tausend Nächte.

Wenn der König in seiner Angst vor der Hölle religiöse Anfälle hatte, verstand es die Marquise, sogar die Religion zu einem Genuß zu machen. Sie verwandelte die stille Woche in ein Musikfest für ihn, gab für ihn in ihren eigenen Sälen Kirchenkonzerte und große Motetten, in denen sie die Vorsängerin war, begleitet von den schönsten Stimmen, die sich unter den Damen und Herren des Hofes auftreiben ließen.

Wenn der König sich schlecht fühlte, entweder aus Gewissensbissen oder aus dem ständig lauernden Überdruß, dann führte sie ihn in die Theatervorstellungen, die sie für ihn arrangierte, und in denen sie selbst die Hauptrolle spielte.

Nichts konnte dem Hang des Königs nach Zerstreuung besser entgegenkommen, als die spannende Halbillusion des Theaters, seine Mischung aus Dichtung und Wahrheit, die Art, wie es die Einbildungskraft besonders bei denen in Bewegung setzt, die von Natur aus nicht viel Phantasie haben. Der König ließ sich umso leichter überreden, schnell, wie durch einen Zauberschlag, ein Theater in einer der breiten Schloßgalerien entstehen zu lassen, als Richelieu, der sich ja mit der Marquise versöhnt, und der sie in Chantemerle Komödie hatte spielen sehen, und dann die Herzöge von Nivernois und von Duras, die dort zusammen mit ihr gespielt hatten, dem König ständig von den Bühnentalenten seiner Geliebten sprachen, die sie bisher noch nicht Gelegenheit gehabt hatte, ihrem Herrscher zu zeigen.

Das Theater bekam den Namen Théâtre des petits appartements, und drei Schritte von dem scheinheiligen Hofe des Dauphin ließ Madame de Pompadour keck Tartuffe aufführen und hatte die Genugtuung, daß sich die Hofleute, die nicht mitspielen durften, oder nicht die Erlaubnis erhielten, es anzusehen, sich deshalb grämten. Nach einer dieser Vorstellungen, in der Madame de Pompadour besonders geglänzt hatte, sagte König Ludwig mit lauter Stimme zu ihr: »Sie sind die entzückendste Frau, die es in Frankreich gibt« (Vous êtes la plus charmante femme qu'il y ait en France).

Madame de Pompadour sang die Hauptrolle in der Oper Erigone, spielte in Stücken von Molière, Lachaussée, Dufresny, Dancourt, Gresset, Boissy, Destouches. Von Voltaire wurden L'Enfant prodigue und Tancrède gespielt. In dem Schauspiel Ragonde trat die Marquise in Männerkleidern auf; ein paar Tage darauf spielte sie Kleopatra in dem Ballet Les Fêtes Grecques et Romaines.

Unter diesem Gesichtspunkt ihres Bestrebens, den König durch dauernde Abwechslung zu fesseln, muß man auch die Art und Weise betrachten, wie Madame de Pompadour die zahlreichen Güter und Schlösser einrichtete, die zu erwerben sie ihre Machtstellung gebrauchte.

Da war das Gut Crécy mit dem von ihr gebauten Schloß, das eine prachtvolle Wohnung für den König hatte, mit einem 49 Fuß langen Festsaal, sowie eine gemütliche Wohnung für sie selbst und einen Park mit Terrassen, die einen Blick zum Tale der Blaise eröffneten, bis zu den grün bewachsenen Bergen und bebauten Feldern. Da war das kleine Schloß la Celle, das sie von dem Kammerdiener des Königs, Bachelier, kaufte, und das für ein intimeres Zusammenleben geeignet war. Hier waren drei große Terrassen zwischen zwei Wäldchen, die als Bogengänge und Laubgewölbe geformt waren. Der Kanal mit seiner Königsschaluppe war von einem Laubgitterwerk mit kleinen Kolonnaden von roten und gelben Stockrosen eingehegt, die sich im Wasser spiegelten. Auf einem nächtlichen Fest, das die Marquise dem König hier gab, war alles mit kleinen Lichtern illuminiert: der Kanal, die Gondeln, die zwei Wäldchen. Beim Dessert zeigte sich die Wirtin als Nacht kostümiert und sang ein »Kommt, kommt, folgt mir alle!«, worauf man sich in eines der Wäldchen begab, wo ein Kinderballet aufgeführt und ein Chorlied gesungen wurde. Ein Höfling trug eine Huldigung für den König vor; alle legten Dominos und Masken an und zerstreuten sich in der hellen Nacht im Park – ein lebendes Bild von Fragonard.

Die Marquise ließ außerdem durchaus nicht wenige winzig kleine Schlösser bauen, die im Stile der Zeit traulich im Gebüsch, von Wäldern umgeben, lagen und Eremitagen genannt wurden. Da waren drei, l'Hermitage in Compiègne, die in Versailles, die in Fontainebleau, alle verschieden. Hierzu kam, daß sich Madame de Pompadour in Paris nicht mit ihrer fürstlichen Wohnung im Hôtel Pontchartrain begnügte, sondern den Palast des Grafen von Evreux im Faubourg St. Honoré bezog und ihn von oben bis unten mit seltenen Möbeln und Gobelintapeten ausstatten ließ.

Doch der prächtigste Typ dessen, was die Marquise mit ihrer fruchtbaren Einbildungskraft und ihrem ausgesuchten Geschmack zu schaffen vermochte, war das Schloß Bellevue, das sie am Ufer der Seine an einer Stelle erbauen ließ, die sie durch ihre Naturschönheit ergriffen hatte. Sie saß auf einem ländlichen Sitz aus Steinen und Gras, den man ihr errichtet hatte, und zeichnete für zwei Architekten, die sie kommen ließ, die Gebäude, wie sie sie sich erträumte, die Gärten, wie sie sie wünschte. Der erste Spatenstich wurde im Juni 1748 getan; im November 1750 wurde das Schloß eingeweiht. Einen Monat darauf gab es dort bereits ein Ballet, » Der kreißende Berg«, und er kam mit dem neuen Schlosse der Favoritin nieder.

Was so in zwanzig Jahren Frankreich 36 Millionen kostete, die doch nicht vergeudet waren (und nicht mehr waren, als ein Fünftel von dem, was England im Weltkrieg jeden Tag ausgab), das war eine Heerschar von Bildhauern, Malern, Marmorarbeitern, Vergoldern, Bronzegießern, Fayencearbeitern, Gärtnern, die Madame de Pompadour in ihre Dienste nahm und tagaus, tagein verwandte. Allein im Vorzimmer von Bellevue standen zwei Statuen, eine von Falconnet, eine von Adam. Der Speisesaal war von Oudry ausgemalt, die Holzschnitzereien von Verbreck ausgeführt. Vanloo hatte eine ganze Reihe von Wänden gemalt, Saly, der die Reiterstatue Friedrichs V. auf dem Amalienborgplatz in Kopenhagen ausgeführt hat, meißelte die Statue Amors, die die Galerie im Musiksaal schmückte.

Ganz außer sich über die Machtvollkommenheit, die Madame de Pompadour an den Tag legte, konnte sich der Minister Maurepas nicht mehr mäßigen. Er betrachtete sich mit seiner Fähigkeit, die Arbeit für den König unterhaltend zu machen, mit seinem zuverlässigen und umfassenden Gedächtnis, seiner gewaltigen Kenntnis von Menschen und den Verhältnissen im Lande als unentbehrlich für den König und glaubte, alles wagen zu dürfen. Eines Abends, als Madame de Pompadour nach dem Essen einen Strauß weißen Jasmin auf den Boden unter ihre Füße gestreut hatte, zitierte er mit Anspielung auf ein Übel, von dem er den Leuten einreden wollte, daß sie daran litte, dies Epigramm:

Par vos façons nobles et franches
Iris, vous enchantez nos cœurs,
Sur nos pas vous semez des fleurs,
Mais ce ne sont que de fleurs blanches.

Die Marquise, die nach Genugtuung dürstete, fragte ihn, ob er sich zutraute, den Urheber der Lieder gegen sie herauszufinden. Er antwortete: »Sobald ich ihn finde, werde ich ihn dem König anzeigen.« Und als sie weiter fragte: »Sie erweisen den Geliebten des Königs keine sonderliche Aufmerksamkeit,« antwortete er mit ruhiger Unverschämtheit: »Ich habe sie stets geachtet, welcher Art sie auch sein mochten.«

Auf einer kleinen Reise nach Celle gelang es der Favoritin durch Künste aller Art – dadurch, daß sie Maurepas als mit dem Dauphin gegen den König verbündet hinstellte, daß sie ihre ständige Furcht ausmalte, von ihm »wie die Herzogin von Châteauroux« vergiftet zu werden –, die Verabschiedung des Ministers in Ungnade zu erwirken. Zwei Stunden, nachdem die Bestimmung getroffen war, wurde Maurepas mit folgender Eilbotschaft aus seinem nächtlichen Schlaf geweckt:

Ich habe Ihnen versprochen, Ihnen im voraus Nachricht zu geben; ich halte mein Wort. Ihre Dienste gefallen mir nicht mehr. Sie reichen Ihr Abschiedsgesuch an Herrn de Saint-Florentin ein. Sie verfügen sich nach Bourges. Pontchartrain ist zu nahe. Ich gebe Ihnen den Rest der Woche zur Reisevorbereitung. Sie versuchen nicht, Ihre Familie zu sehen. Sie senden mir keine Antwort.

Louis.

Am 12. Oktober 1752 erhielt Madame de Pompadour ihre Ernennung zur Herzogin.

XIII

Wir haben bereits gesehen, daß die neuernannte Herzogin Schönheitssinn und Verständnis für alle Formen der Kunst hatte. Sie besaß außerdem den Ehrgeiz, die Männer der Literatur und Wissenschaft an sich und den Hof zu knüpfen, um die Zeit Ludwigs XV. wenn möglich ebenso berühmt zu machen wie die Ludwigs XIV.

Voltaire war vom Anfang an der Schriftsteller, den sie gern hatte und allen anderen vorzog. Ihr Einfluß hatte ihm den Auftrag zur Prinzessin von Navarra, die Beförderung zum historiographe de France und die Ernennung zum gentilhomme ordinaire de la chambre verschafft, dem Titel, den er so gern trug und den er behielt, als er mehrere Jahre später durch seine Abreise nach Preußen auf das Amt selbst verzichtete.

Voltaire verherrlichte sie als Téone in La Vision de Babouc: »Einige Nebenbuhlerinnen sind da, die die schöne Téone herunterreißen; sie aber tut mehr Gutes als sie alle zusammen, und sie würde nicht einmal ein geringes Unrecht begehen, um dadurch einen großen Vorteil zu erlangen. Sie gibt ihrem Geliebten nur hochherzigen Rat; sie ist einzig um seine Ehre bemüht.«

Weiter schrieb er über sie im Précis du siècle de Louis Quinze: »Man muß zugeben, daß Europa sein Glück vom Frieden zu Aachen datieren kann. Mit Überraschung wird man erfahren, daß dieser Frieden die Frucht der eindringlichen Ratschläge war, die von einer jungen Dame in hohem Rang gegeben wurden, berühmt durch Schönheit und Anmut, seltene Talente, Geist und einen beneideten Platz.«

Er widmete ihr schließlich späterhin seinen Tancrède, sicherlich aus gutem Herzen und mit ehrlich gemeintem Dank für ihre geistigen Interessen, leider mit einer Wendung, von der er unbegreiflicherweise nicht selbst einsah, daß sie verletzen mußte. Er sagte ihr: »Ich habe von Ihrer Kindheit an gesehen, wie sich Ihre Anmut und Ihre reichen Fähigkeiten entwickelten; zu allen Zeiten habe ich von Ihnen Beweise einer Güte erhalten, die sich immer gleich blieb. Sollte der eine oder der andere Zensor die Huldigung, die ich Ihnen erweise, nicht billigen, dann könnte es nur einer sein, der mit einem undankbaren Herzen geboren ist; ich schulde Ihnen viel, Madame, und ich muß das aussprechen. Ich wage noch mehr; ich wage es, Ihnen öffentlich für die Güte zu danken, die Sie einer großen Anzahl wirklicher Schriftsteller, großer Künstler, Männer mit Verdiensten in mehr als einer Richtung erwiesen haben.«

Madame de Pompadours Kammerjungfer, Madame de Hausset, sagt in ihren Lebenserinnerungen, daß ein anonymer Brief der Marquise den Satz »Sollte der eine oder der andere Zensor die Huldigung, die ich Ihnen erweise, mißbilligen usw.« als eine Falschheit bezeichnete, und daß es dann auch der hochgestellten Dame vorkam, als wollte Voltaire damit sagen, daß er die Tragödie einer Frau widmete, von der er wußte, daß das Publikum sie nicht für ehrenhaft hielt. Sie nahm ihm das folglich sehr übel.

Voltaire war bei dieser Gelegenheit, was er Madame de Pompadour gegenüber ein paarmal, sonst aber niemals war, nämlich ungeschickt. Er wollte ehrlich seinen Dank sowohl für sich als im Namen anderer darbringen.

Die schöne Marquise erwies Buffon viel Gunst, obwohl er zur Partei der Königin gehörte, und blieb bis zu seinem Tode dabei. Aber es gefiel ihr nicht, daß er geschrieben hatte: In der Liebe hat nur das Körperliche Wert (En amour le physique seul est bon). Deshalb schlug sie ihn eines Tages im Park von Marly leicht mit ihrem Fächer und sagte: »Sie sind freilich ein netter Kerl!«

Der strenge Montesquieu trug keine Bedenken, seine Zuflucht zu ihr zu nehmen, und zwar in einer Angelegenheit, die ihm nicht sonderlich zur Ehre gereicht. Als er erfuhr, daß der Generalpächter Dupin an einer Widerlegung seines Werkes L'Esprit des Lois arbeitete, bat er Madame de Pompadour, diese Kritik unterdrücken zu lassen, was er auch erreichte.

Marmontel war ihr ganz besonderer Günstling und Protegé. Sie arbeitete zusammen mit ihm an zweien seiner Tragödien und wurde ihm gegenüber nicht kühler, weil diese keinen Erfolg hatten. Er hatte gerade wegen einer Satire gegen den Herzog von Aumont in der Bastille gesessen, aber sie bahnte ihm trotzdem den Weg zur französischen Akademie dadurch, daß sie Ludwig XV. bewog, die Wahl für wünschenswert zu erklären.

Sie nahm sich des abweisenden und zurückhaltenden Jean Jacques Rousseau so gut an wie der Schriftsteller, die sich um ihre Gunst bemühten. Sie ordnete an, daß sein Le Devin de village in Fontainebleau aufgeführt wurde; sie spielte später in Männerkleidern selbst in dieser Oper mit. Sie würde Rousseau dem König vorgestellt und ihm ein Jahresgehalt verschafft haben, wenn dieser aus Schüchternheit nicht selbst versäumt hätte, hinzugehen.

Als der König von Preußen D'Alembert, der in dem Schenkungsbrief »sublimes Genie« genannt wurde, die bescheidene Pension von 1200 Livre aussetzte, welche kleine Summe ja in gewissem Gegensatz zu den großen Worten stand, und als König Ludwig sich über die Geringfügigkeit der Summe aufhielt, riet Madame de Pompadour dem König, D'Alembert die Annahme des Jahresgehalts von Preußen zu verbieten und ihm aus der eigenen Kasse die doppelte Summe zu geben. Ludwig wagte das jedoch nicht aus Furcht, Gott könnte ihm das wegen D'Alemberts Anteil an der Encyclopédie übelnehmen!

In Voltaires Mélanges steht unter der Überschrift De L'Encyclopédie eine niedliche Anekdote, die Madame de Pompadours Bestreben zeigt, die Freigabe des großen Werks von D'Alembert und Diderot zu erlangen. Die Erzählung ist wahr, aber auf Grund eines Gedächtnisfehlers nicht ganz korrekt.

Es wird erzählt, daß man eines Abends an der Tafel Ludwigs XV. in Trianon von der Jagd und danach von der Zusammensetzung des Schießpulvers sprach. Einer der Anwesenden glaubte, daß es aus Salpeter, Schwefel und Kohle in gleichen Mengen bestand. Der Herzog von La Vallière stellte die rechte Formel auf, nämlich das fünffache Übergewicht des Salpeters. Als der Herzog von Nivernois ausführte, wie unrecht das wäre, daß die Anwesenden mit den Bestandteilen eines Stoffes nicht richtig Bescheid wüßten, womit sie töteten und getötet wurden, sagte Madame de Pompadour: Es gibt ja überhaupt nichts, worüber wir richtig Bescheid wissen; ich weiß nicht einmal, wie die rote Farbe, die ich auf meine Wangen lege, und die Seidenstrümpfe, die ich auf meinen Beinen trage, entstehen. – Das kommt daher, sagte der Herzog von La Vallière, daß Eure Majestät unsere Encyclopädie hat konfiszieren lassen, obgleich sie jedem von uns hunderte von Pistolen gekostet hat. Der König antwortete, daß man ihn auf den gefährlichen Inhalt der Foliobände aufmerksam gemacht habe, die die Damen auf ihren Toilettetischen liegen hatten.

Man ließ jedoch von Dienern das Werk herbeischaffen; sie schleppten es mit Mühe herein. Die Gesellschaft fand darin die vollständige Erklärung, wie das Pulver hergestellt wird, wie die Schminke im Altertum und in der damaligen Zeit fabriziert wurde, und die Marquise rief aus: »Sire, Sie haben also diesen unermeßlichen Vorrat an nützlichen Kenntnissen beschlagnahmt, um ihn allein zu besitzen und der einzige Gelehrte in Ihrem Königreich zu sein?« Der Graf von Cocigny sagte: »Sire, Sie sind so glücklich, in Ihrem Reich Menschen zu haben, die alle möglichen Kenntnisse besitzen und sie der Nachwelt mitteilen. Alles finden wir hier, von der Art und Weise, wie man eine Nadel macht, bis zu der Art und Weise, wie man eine Kanone gießt, vom unendlich Kleinen bis zum unendlich Großen. Nun kaufen nur fremde Völker die Encyclopädie und drucken sie nach. Nehmen Sie alles, was ich habe, Sire, wenn Sie wollen, aber geben Sie mir mein Lexikon zurück.«

Der König antwortete, daß in dem ausgezeichneten Werke viele Fehler zu finden seien, worauf der Graf schlagfertig bemerkte, daß von der Abendtafel des Königs zwei Ragouts weniger gut geglückt waren; nichtsdestoweniger hatte man von den übrigen Gerichten vortrefflich zu Abend gespeist.

Das Resultat war, sagt Voltaire, daß Fremde vier Auflagen dieses französischen Werks veröffentlichten und acht Millionen Francs daran verdienten, während es in Frankreich verboten und unterdrückt war. In der Anekdote wird von einundzwanzig Bänden der Enzyklopädie gesprochen, die geholt wurden. Es wurden jedoch zu Lebzeiten Madame de Pompadours nur sieben herausgegeben. Es war für sie auch nicht möglich, den Artikel Poudre aufschlagen zu lassen; denn der kam erst nach ihrem Tode heraus.

Aber im wesentlichen ist die Anekdote unleugbar richtig und zeigt den guten Verstand und den gesunden Freisinn der Marquise.

Anspruch auf den Dank der Nachwelt hat sie durch zwei Anstalten, die sie gründete. Die erste ist die Porzellanfabrik in Sèvres, die in zerbrechlichem Material eine Form für französische Eleganz schuf, die nicht nur Ludwig den Fünfzehnten überlebte, sondern sogar das französische Königtum. Die Marquise bewies dem König, daß Frankreich teils an China, teils an Sachsen beinahe eine halbe Million Livres im Jahr für Porzellansachen bezahlte, die im Lande selbst hergestellt werden konnten, und sie ließ sich durch die zahlreichen fehlgeschlagenen Versuche nicht entmutigen, sondern hielt aus, bis die Fabrik da stand, die von ihrer Einbildungskraft und ihren Ideen inspiriert worden war. Die andere Anstalt, deren Gründung und Errichtung sie nach Überwindung unzähliger Schwierigkeiten mit dem Beistand von Pâris-Duverney erreichte, war die Militärschule für Söhne von Offizieren, die im Kriege gefallen oder im Dienst zusammengebrochen waren.

XIV

Zur Verherrlichung des Sieges von Fontenoy sollte ein großes Hoffest abgehalten werden, und Richelieu, der wußte, daß die Prinzessin von Navarra gefallen hatte, und daß kein Dichter Madame de Pompadour lieber war als Voltaire, bestellte ein neues Festspiel bei ihm. Voller Freude übernahm er die Arbeit und lieferte ein großes allegorisches Werk, Le Temple de la Gloire, das mit dem Neid in seiner Höhle beginnt und damit endet, daß Trajan, der unüberwindliche, aber milde Eroberer von einem Feldzug zurückkehrt, und daß ihm alles huldigt und ihn besingt. Diese Hofschmeichelei entsprach dem Geschmack der Zeit. Voltaire erhielt einen Platz an der Tafel des Königs zum Abendessen; aber Ludwig, der doch dem Komponisten des Festspiels, Rameau, ein paar gnädige Worte gesagt hatte, sprach nicht mit Voltaire – wie es scheint nicht gerade aus Unzufriedenheit, wozu ja auch keinerlei Grund vorlag, sondern aus Befangenheit und Gleichgültigkeit. Dieser Umstand gab jedoch Anlaß zu dem Gerücht, daß der Dichter in Ungnade gefallen wäre. Diese Ungnade wird in einer Anekdote, die erst dreißig Jahre später auftaucht, aber an und für sich nicht unwahrscheinlich klingt, damit begründet, daß Voltaire, als der König mit Richelieu in seiner Loge saß, sich mit der Frage an Richelieu wandte: »Ist Trajan zufrieden?« und zwar so laut, daß der König es hören mußte. Dieser soll die Anrede zudringlich gefunden und gar nicht darauf geantwortet haben. Da kein Zeitgenosse diese Geschichte kennt, mutet sie wie eine Erklärung des Schweigens des Königs bei der Abendtafel an. Auf jeden Fall fühlte sich Voltaire des Wohlwollens des Königs und der Marquise noch sicher. Er wollte seine Stellung als königlicher Historiograph ernst nehmen und entwarf eine Schrift über den letzten Feldzug des Königs. Um seinen Plan untadelhaft auszuführen, zog er nicht nur bei den wichtigsten Teilnehmern am Kriege Erkundigungen ein, sondern er wollte auch die Gegenpartei hören, und als er erfuhr, daß der überwundene Herzog von Cumberland einen Sekretär namens Falkener hatte, schrieb er an diesen in der Hoffnung, daß er ein Verwandter seines englischen Freundes gleichen Namens sei. Es ergab sich, daß es dieser selbst war, und Voltaire hatte dem Marquis von Argenson, seinem Schulkameraden und jetzigen Beschützer, bereits vorgeschlagen, eine Reise zu dem Sekretär des Herzogs zu unternehmen, als d'Argenson ihm einen politischen Auftrag gab, dessen Erledigung von unmittelbarem Nutzen war.

Es handelt sich darum, einen Protest gegen den Vertragsbruch der Generalstaaten zu schreiben; sie hatten sich bei der Kapitulation von Tournay verpflichtet, daß die Garnison in den nächsten achtzehn Monaten keine Waffen tragen und auch nicht in fremde Dienste treten durfte. Nun wollten die Holländer nichtsdestoweniger ihre Truppen nach Schottland schicken, um den Engländern zu helfen, die den Kronprätendenten Charles-Edward bekämpften. Da England mit Frankreich im Kriege lag, stand es nicht nur im offenbaren Widerspruch zu dem eingegangenen Abkommen, sondern war geradezu eine Unterstützung des britischen Reiches, das dadurch 6000 Mann Truppen frei bekam, die es gegen die Franzosen verwenden konnte.

Voltaire erhielt die ihm gestellte Aufgabe um zehn Uhr abends. Am nächsten Morgen sandte er dem Minister bereits das bewunderungswürdige Aktenstück, das den Titel Représentations aux Etats-Généraux de Hollande führt, dessen solide Beweisführung und höflicher Ton notwendigerweise Eindruck auf die Generalstaaten machen mußten, die den Einspruch des französischen Gesandten, des Abbé de la Ville, unbeachtet gelassen hatten. Voltaires geistige Überlegenheit und seine Überredungskunst treten aufs schärfste in einem Schreiben wie diesem hervor, das dem Gegner zeigt, welches gefährliche Beispiel er durch seine Handlungsweise gibt, und wie unklug und unvorsichtig er sich verhalten würde, wenn er sein Wort bräche.

Damals wurde ein Platz in der Akademie frei, und Voltaire, der niemals seine früheren Enttäuschungen verwunden hatte, setzte nun seine Freunde in Bewegung, um die schon damals von französischen Schriftstellern so begehrte Würde zu erlangen. Diesmal sprach sich Ludwig der Fünfzehnte unter dem Einflusse Madame von Pompadours und Richelieus, ohne sein Wort wieder zurückzunehmen, zugunsten der Wahl Voltaires aus, und sie ging denn auch so glatt von statten, daß ihm nicht einmal der Bischof von Mirepoix seine Stimme vorenthielt. Aber gleichzeitig mobilisierte die Nachricht, daß Voltaire um den freien Platz nachgesucht hatte, alles, was er an Hassern und Neidern in der französischen Literatur hatte. Eine Schmähschrift nach der anderen erschien gegen ihn, und die alten Schmählieder, die Parodien und Spottverse und Skandalbroschüren aus früherer Zeit wurden neu gedruckt und verbreitet. Besonders wirksam waren die Dichter Roy und Piron, die nun vollkommen vergessenen Schriftsteller Baillez de Saint-Julien und Mairault, die Kritiker Desfontaines und Fréron, und als Nachdrucker und eifriger Verbreiter der verbotenen Skandalschriften ein gewisser Travenol, Violinist bei der Oper. Erbittert über diese Sintflut von Gemeinheiten versuchte der zu reizbare Voltaire gerichtliche Genugtuung zu erlangen, reichte Klagen ein, vergeudete Zeit darauf, erlangte aber wenig dadurch.

XV

Voltaire zeigt sich nicht von seiner besten Seite, wenn er als ehrgeiziger Höfling Ludwig den Fünfzehnten mit Trajan vergleicht und durch die Befürwortung der Madame de Pompadour die Aufnahme in die französische Akademie erreicht. Es wäre schlimmer für die Akademie gewesen, wenn Voltaire nicht Mitglied geworden wäre. Sie hat über den Eingang zum Sitzungssaal Molières Büste mit der Unterschrift: »Zu seinem Ruhme fehlte nichts; zu unserem fehlte er« aufstellen müssen. Es wäre eine Lächerlichkeit gewesen, wenn sie Molière gegenüber Voltaires Büste mit derselben Unterschrift hätte aufstellen müssen.

Es ziemte sich nicht für einen Schriftsteller vom Range Voltaires, sich so eifrig nach der Erlangung eines Sitzes zu zeigen, der sein Ansehen bei keinem Wissenden erhöhen konnte. Aber er dachte weniger an sein Ansehen als an seine Sicherheit, und er hoffte, diese würde größer sein, wenn er Mitglied der Akademie wäre, als nur ein freier Kämpfer.

In seiner Antrittsrede entfernte er sich insoweit von der überkommenen Form, als er sich nicht auf die schuldigen Komplimente zur Erinnerung an den Kardinal Richelieu, auf Artigkeiten für seinen Vorgänger und für Seine Majestät beschränkte, sondern seine Gedanken über die französische Sprache entwickelte und hauptsächlich bei zwei Punkten verweilte. Erstens machte er auf das Sonderbare aufmerksam, daß die Franzosen im Gegensatz zu anderen Nationen poetische Werke in Prosa übersetzten und behauptete seine Ansicht, daß Verse durch Verse wiedergegeben werden müßten, zweitens betonte er: während Vergil in der Georgica alle Ackerbaugeräte mit ihren Namen nannte und Dante sich in seiner Göttlichen Komödie nicht bedachte, irgendwelchem Gegenstand seinen richtigen Namen zu geben, war das in der französischen Poesie anders, wo es unmöglich geworden war, Alltagsdinge mit ihrem Namen zu nennen. Der Theaterstil hatte jeden anderen Stil verdrängt; die Sprache der Städter hatte die Sprache des Herzens und die Ausdrucksweise der Dörfer, die Bezeichnungen für Tiere, Pflanzen und Gegenstände verdrängt. Die Sprache war wohl zu der in Europa herrschenden geworden, die der König von Preußen und die Kaiserin von Rußland sprachen; aber sie war abstrakt und damit ziemlich arm und engherzig geworden.

Voltaire hob in diesem Vortrag bei der Besprechung der französischen Kriegsleistungen die Verdienste Moritz von Sachsens und des Marschalls Richelieu warm hervor; er schloß mit der pflichtschuldigen Fanfare zu Ehren des Königs, und fühlte augenscheinlich selbst nicht das nach unseren Begriffen Unwürdige, als er zum Schluß die Hoffnung aussprach, die Statue des Königs in Paris mit der Inschrift: »Dem Vater des Vaterlandes« errichtet zu sehen.

Eine unangreifbare Stellung am französischen Hof erlangte er trotz dieser Haltung nicht. Seine Verse an Madame de Pompadour, die zwar nicht gedruckt, aber doch allgemein bekannt waren, besonders die Verse mit der Schlußzeile: Et tous deux gardez vos conquêtes! die den König als von der Marquise erobert darstellten, hatten nicht ohne Grund im Kreise der Königin und bei Maria Leszczynska selbst böses Blut gemacht. Die Zeit war vorbei, da sie ihn ansprach: Mon pauvre Voltaire! Und die vornehmen Herren und Damen am Hofe der Königin hetzten die Töchter des Königs auf die Majestät. Diese stellten voller Leidenschaft ihrem hohen Vater das Freche und Respektwidrige in einem solchen Gedicht vor, das seine Eroberung Flanderns verglich mit der mutmaßlichen Eroberung seiner eigenen Person, die von linker Hand aus durchgeführt sein sollte.

In Voltaires Antrittsvortrag ist jedoch eine Stelle, die ihm zu hoher Ehre gereicht. Wo er berührt, wie sich nach der Zeit Ludwigs des Vierzehnten das französische Geistesleben entwickelt und gestaltet hat, und wo er ohne Namensnennung Hénault, Montesquieu, Crébillon preist, steht bei ihm der Satz: »Ein beredter und gedankentiefer Mann hat sich im Getümmel der Waffen gebildet.«

Die nicht wußten, auf wen er anspielte (und das mußten in Europa, ja sogar im Saale nicht wenige sein), waren gezwungen, sich zu erkundigen, wer der Unbekannte war. Und es war ein noch ganz junger Mann, auf den Voltaire, über fünfzig Jahre alt, hier die Aufmerksamkeit lenkte, ein Mann, dessen Verhältnis zu dem älteren ebenso wie das des älteren zu ihm einer der starken und strahlenden Lichtpunkte im Lebenslaufe Voltaires ist.

XVI

Luc de Clapiers, Marquis de Vauvenargues, war in Aix in einer adligen provençalischen Familie im August 1715 geboren, war also etwas mehr als zwanzig Jahre jünger als der berühmte Mann, der sein Freund werden sollte. Er fühlte den Drang zum Militär in sich, überhaupt zum Handeln und zur Tat, kämpfte 1734 als junger Offizier in Italien, und war Kapitän im Regiment des Königs während der Belagerung von Prag im Jahre 1741. Der Rückzug von dieser Stadt im Dezember erfolgte bei bitterer Kälte und erschütterte seine Gesundheit.

In jenem Jahrhundert der Eleganz und der Verfeinerung war nichts Verweichlichtes in seinem Charakter. Vor seinen Augen stand das antike Ideal der Männlichkeit und Festigkeit. Er war ehrgeizig, aber so, wie man das im griechischen Altertum war, begehrte Ruhm für Taten, keinen Ehrenposten ohne Anrecht darauf. Er hat geschrieben: »Der Ruhm verschönt den Helden«, aber Ruhm ohne Heldenmut galt ihm nichts.

Er zeichnete sich verschiedene Male aus und er war der pflichtgetreuste Offizier. Er bildete sich ein, daß die Verdienste, die er erwarb, seine Beförderung herbeiführen würden. Das hätten sie sechzig Jahre später unter der Republik oder unter Bonaparte getan; damals aber hing die Beförderung von Intriguen und Protektion ab; man vergleiche nur die Schilderung, die Bernardin de Saint-Pierre in Paul et Virginie von der Unmöglichkeit gibt, in Frankreich ohne Geld befördert zu werden. Von dem Augenblick an, da Vauvenargues diese Unmöglichkeit einsah, verlor er seine Begeisterung für den Kriegerstand, und da seine überaus zarte Gesundheit von den Strapazen stark angegriffen war, schied er aus dem Heere aus.

Als er, nachdem er von dem Minister Amelot bereits einmal abgewiesen worden war, endlich ein Versprechen auf Anstellung im diplomatischen Dienst erhielt, wurde er von den Pocken ergriffen und so zugerichtet, daß er nur noch als Privatmann leben konnte.

Er hatte sich indessen, wenn er in der Garnison oder im Lager war, stets mit ernsten Studien und Grübeleien abgegeben. Einige wenige bedeutende Bücher und eine Fülle von Gedanken, die durch das Leben und durch diese Bücher erzeugt worden waren, hatten seinen Geist früh gereift und selbständig gemacht. Und er hatte schon als junger Offizier begonnen, seine Gedanken aufzuschreiben, teils um sie zu klären und besser erwägen zu können, wenn sie von außen her auf ihn zutraten, teils um den sprachlichen Ausdruck meistern zu lernen. Und dies erreichte er in einem Grade, daß seine Sprache durch ihre Reinheit und Stärke ganz einzig dastand, eine Neuschöpfung des größten Stiles des vergangenen Jahrhunderts in der natürlichen Darlegung von Gedankengängen und in der schwierigen Kunst der Aphorismen. Besonders überraschend in dem einzigen Buche, das Vauvenargues herausgab, ehe er, erst 32 Jahr alt, den Folgen der Anstrengungen unterlag, denen seine nicht starke Konstitution im Kriege unterworfen gewesen war, sind die seelische Hoheit und die männliche Harmonie, was Marmontel mit einer schönen Bezeichnung die »reiche Einfalt« seines Wesens genannt hat. Der Titel des Buches ist: Introduction à la Connaissance de l'Esprit humain suivie de Réflexions et de Maximes.

Während die großen christlichen Denker des sechzehnten Jahrhunderts, wie Pascal, sich in Betrachtungen über die Verderbtheit der Menschennatur durch die Sünde erschöpft hatten; während dessen weltliche Denker, wie La Rochefoucauld, der menschlichen Eigenliebe in jeder scheinbaren Aufopferung und der menschlichen Engherzigkeit in manchem Gefühl und mancher Handlung, die großzügig schien, nachgespürt hatten; während umgekehrt die Optimisten, wie Jean Jacques Rousseau, systematisch die angeborene Güte der menschlichen Natur gegenüber der verdorbenen und verderbenden Gesellschaft hervorheben wollten – hält sich Vauvenargues von der Leidenschaft frei, die menschliche Natur herabzusetzen oder zu preisen, ist frei von Bitterkeit wie auch frei von ekelhafter Süße. Er hat in sich selbst hineingesehen. Er sah etwas Einfaches und Großes, einen angeborenen Adel, einen unbezwingbaren Edelsinn, und er konnte sich nicht überwinden, die menschliche Natur erbärmlich zu nennen. Er dachte sich, daß sie vielleicht geschichtlich in einer Niedergangsperiode gewesen war, daß sie aber begann, sich wieder zu heben.

Im Jahre 1743 sandte Vauvenargues zum erstenmal ein Manuskript an Voltaire, und dieser, der sich bis zu seinem Tode eine geniale Empfänglichkeit für Größe bewahrt hatte, gleichgültig, ob die Größe auf einem Throne saß oder ob ihr Herz hinter einer unansehnlichen Uniform schlug, sah auf den ersten Blick, was in dem unbekannten jungen Offizier steckte, und erwies ihm vom ersten Tage an eine Zärtlichkeit und Ehrfurcht wie kein anderer. Seinen ersten Brief an Vauvenargues beginnt er folgendermaßen: »Liebenswertes Wesen, schönes Genie! Ich habe Ihr erstes Manuskript gelesen und ich habe die Hoheit eines erhabenen Geistes bewundert, der sich über die Flitterpracht aller bloßen Schönredner erhebt. Wären Sie einige Jahre früher geboren, wären meine Werke besser geworden.« (Ist das nicht überraschend? Auf der Höhe des Ruhmes macht Voltaire dem jungen Anfänger das mehr als schmeichelhafte Zugeständnis, daß der Eindruck seiner Persönlichkeit den Wert der Werke erhöht haben würde, die er hinter sich hat, von denen er es beklagt, daß er sie vollendet und herausgegeben hat, ehe er den Jüngling kennen lernte!) »Wenigstens haben Sie jetzt, gegen das Ende meiner Laufbahn, mich in dem Glauben bestärkt, daß ich den richtigen Weg gegangen bin. Das Große, das Pathetische, das Gefühl waren meine ersten Lehrer. Sie sind mein letzter.«

Das Neue in diesem Freundschaftsverhältnis ist die Achtung, von der sich Voltaire ergriffen fühlt. Er ist hoch genug entwickelt, um das zu empfinden, als stiege er in seinen eigenen Augen durch die Verbindung mit Vauvenargues. Und wirklich besaß der junge Denker die Fähigkeit, die ein ungewöhnlich reiner und edler Charakter immer auf ein empfängliches Gemüt ausübt, aus der Persönlichkeit, mit der er in Berührung kommt, das Beste herauszuholen. Im Verkehr mit Vauvenargues war Voltaire nicht mehr Höfling, nicht mehr Opportunist, aber reine Genialität wie reine Güte.

Seiner Gewohnheit nach versuchte er, für Vauvenargues etwas zu tun. Er schreibt an ihn: »Ich habe das Vergnügen gehabt, Herrn Amelot all das Gute zu sagen, das ich über Sie denke. Er kennt seinen Demosthenes auswendig; er soll auch seinen Vauvenargues kennen«, oder: »Ich hatte die Ehre, gestern dem Herzog von Duras zu sagen, daß ich einen Brief von einem geistvollen Philosophen bekommen hätte, der übrigens Hauptmann im Regiment des Königs war. Er riet sofort auf Herrn de Vauvenargues. Es war auch nicht leicht denkbar, daß es zwei Personen geben sollte, die imstande wären, einen solchen Brief zu schreiben.« Und Voltaire erreichte ohne Wissen Vauvenargues, daß eine Probe aus dem Manuskript vom Mercure de France aufgenommen wurde: »Finden Sie sich in die kleine Widerwärtigkeit, Sie Verächter der Berühmtheit.«

Als Vauvenargues seinen Abschied genommen hatte und sich in Paris niederließ, sahen sich er und Voltaire häufig. Marmontel, der oft der Dritte in ihrer Gesellschaft war, hat seine Eindrücke davon wiedergegeben:

Die Gespräche zwischen Voltaire und Vauvenargues waren die reichsten und fruchtbarsten, die man hören konnte. Von Voltaires Seite war es ein unerschöpflicher Überfluß an leuchtenden Zügen und unterhaltenden Tatsachen, von Vauvenargues Seite eine Beredsamkeit, die sanft, anmutig und weise war. Niemals ist wohl in einem Wortkampf soviel Witz an den Tag gelegt worden, soviel Sanftmut und Ehrlichkeit; was mich aber besonders entzückte, war Vauvenargues Ehrerbietigkeit für Voltaires Genie und Voltaires zärtliche Ehrfurcht vor Vauvenargues Edelsinn.

In Vauvenargues Gesellschaft vergaß Voltaire seine jämmerlichen Feinde und seinen elenden Kampf gegen diese Feinde, seine untergeordnete Ehrsucht und seine Rechthaberei in Kleinigkeiten, um im Bunde mit diesem nicht so zusammengesetzten aber starken Geist, der trotz erzwungener Entsagung und großen Unglücks mit dem Dasein versöhnt war, sich in die reinen Höhen des Gedankens aufzuschwingen.

Der entscheidende Zug in Vauvenargues Geist dürfte sein, daß er sich im Gegensatz zu La Rochefoucauld vor ihm und Helvetius nach ihm weigert, unsere Sympathien auf eine Eigenliebe zurückzuführen, die als Laster aufgefaßt wird. Er bezeichnet diese Eigenliebe als Selbstliebe, die untrennbar von jedem lebenden Wesen ist. Sie widerstrebt nicht der allgemein menschlichen Anlage zum Guten und zur Gerechtigkeit, wenn niemand unter ihr leidet.

Für Vauvenargues ist die Definition des Lasters, das allgemeine Wohl dem eigenen zu opfern. Über das Mitgefühl spricht er das schöne und tiefe Wort: »Das Mitleid ist ein Gefühl, in dem sich Traurigkeit und Liebe mischen. Ich meine nicht, daß es, wie man sagt, notwendigerweise durch den Gedanken an uns selbst geweckt wird. Warum sollte das Elend nicht dieselbe Wirkung auf unser Herz ausüben wie eine Wunde auf unsere Sinne? Gibt es nicht Dinge, die unmittelbar unser Gemüt beeinflussen? Sollte unsere Seele außerstande sein, ein uneigennütziges Gefühl zu hegen?«

Er hat irgendwo, ohne daß er darauf ausging, sich selbst als Persönlichkeit und Schriftsteller geschildert. Dort sagt er, wenn er in einem Werke klare und tiefe Urteile findet, kein Streben nach scheinbarer Größe, aber Aufrichtigkeit, Beredtsamkeit und keinerlei andere Kunst als die, die vom Genie stammt, so respektiert er den Verfasser, achtet ihn so hoch wie den Helden, den der Schriftsteller schildert: »Ich finde Gefallen in dem Gedanken, daß der, der so große Taten versteht, nicht außerstande gewesen wäre, sie auszuführen. Das Schicksal, das ihn darauf beschränkt hat, sie niederzuschreiben, scheint mir ungerecht. Ich suche mit Interesse Aufklärung über seinen Lebenslauf. Wenn er Fehler begangen hat, so entschuldige ich sie, da ich weiß, wie schwierig es für einen Menschen ist, stets erhabenen Gemüts zu sein, wenn die Lebensstellung niedrig ist.«

Vauvenargues besaß die Veranlagung zum Tatmenschen, und er selbst hat den Trost gebraucht, daß der, in dessen Los es nicht lag, auf der Leiter der gesellschaftlichen Stellung eine hohe Sprosse zu erklimmen, obwohl beschränkt, die Feder zu führen, der Gleichgestellte derjenigen sein kann, über die er mit Bewunderung spricht.

Statt große Taten auszuführen, mußte sich Vauvenargues mit großen Gedanken begnügen. Aber er ist der Urheber des schönen und tiefen Wortes, das eine Stelle ausfüllte, die Voltaires Vernunftglaube offen ließ: »Die großen Gedanken kommen aus dem Herzen.«

Unter Vauvenargues Handschriften, Gedichten und Prosawerken, fand man nach seinem Tode eine kleine Arbeit über Voltaires Tragödien, die dadurch interessiert, daß sie verrät, wie stark sich sein Geschmack dem Voltaires nähert. Während es ihm höchst zuwider ist, daß Corneilles Helden ständig das über sich selbst sagen, von dem der Dichter wünscht, daß andere es über sie sagen sollen, fühlt er sich zu Racine hingezogen. Voltaire hatte ihm gegenüber Corneille verteidigt; er verteidigt Pascal und Fénélon gegen Voltaire. Ohne rechtgläubig zu sein, war Vauvenargues religiös, und alle Religionsspötterei war ihm zuwider.

Er vertieft sieh hier nicht in die Henriade; aber er ist der Ansicht, daß die Mitwelt mit unbestreitbarer Einstimmigkeit und mit Recht sie als »das größte Werk des Jahrhunderts« und als die einzige epische Dichtung des französischen Volkes betrachtet. Er bewunderte mit mehr Grund das Gedicht über Adrienne Lecouvreur und das Trauergedicht über Genonville; er bewundert Voltaires Prosa, ihre Kraft, ihre Genauigkeit und ihre treffenden Bilder in den historischen Werken; aber es ist offenbar, daß sein Herz am stärksten gerührt wird von einer Tragödie wie Mérope: die Personen sind groß ohne Gespreiztheit; sie sagen immer, was sie natürlich sagen müßten. Wo Egisthe vor Mérope geführt wird, ohne daß sie ahnt, daß es ihr Sohn ist, wo aber seine Jugend sie an den Sohn erinnert, der jetzt vielleicht wie dieser heimatlos umherirrt, da bricht sie in die Klage aus, deren letzte Zeile Vauvenargues in ihrer Natürlichkeit erhaben vorkommt:

Peut-être comme lui, de rivage en rivage,
Inconnu, fugitif, et partout rebuté,
Il souffre le mépris qui suit la pauvreté.
L'opprobre avilit l'âme et flétrit le courage.

Was Voltaire nach Vauvenargues Tode über ihn geschrieben hat, ist, so schön es auch formuliert ist, zu ausführlich, um ganz angeführt zu werden. Es steht in seiner Erinnerung an die Offiziere, die im Kriege gefallen, Eloge funèbre des officiers qui sont morts dans la guerre de 1711. (Bezeichnend genug für den Geist der Zeit ist es, daß die gefallenen Soldaten nicht erwähnt werden.)

Die Stelle, an der Vauvenargues hier besprochen wird, beginnt folgendermaßen:

Du bist nicht mehr, der Du meine liebe Hoffnung für den Rest meiner Tage warst … Der Rückzug von Prag, dreißig Meilen über Eisfelder, senkte den Keim des Todes in Deine Brust, der später vor meinen trauernden Augen aufsproß. Vertraut mit dem Tode, wie Du es warst, sahst Du ihn mit jener Gleichgültigkeit nahen, die die Philosophen ehemals zu erwerben oder zu zeigen erstrebten. Von körperlichen und geistigen Leiden überwältigt, zuletzt des Augenlichtes beraubt, vermißtest Du jeden Tag etwas von Dir selbst, warst Du nur durch ein Übermaß an Tapferkeit nicht unglücklich, und diese Tapferkeit kostete Dich keine Anstrengung. Immer habe ich Dich als den unglücklichsten Menschen gekannt und als den ruhigsten.

Nachdem Voltaire den schlichten, stolzen Charakter Vauvenargues' geschildert hat, der sich von Prahlerei wie von Frivolität abgestoßen fühlte, gebraucht er die folgende begeisterte Wendung:

Durch welches Wunder besaßest Du mit 25 Jahren wahre Philosophie, wahre Beredsamkeit ohne andere Ausbildung als die, die Dir ein paar gute Bücher gaben? Wie konntest Du einen so hohen Flug unternehmen in diesem Jahrhundert der Kleinlichkeiten? Und wie konnte das einfache Wesen eines schamhaften Kindes diese Tiefe und diese Kraft des Genies verdecken?

Es dürfte ein Zeugnis unter vielen für Voltaires umfassenden Geist sein, daß er in diesem Grade jemanden zu schätzen verstand, der nur noch nicht anerkannte Fähigkeiten besaß und außerdem hinter stolzer Zurückgezogenheit die Noblesse seines Wesens verbarg. Feurig pries er einen Geist, der in seinem Grundwesen ihm gerade entgegengesetzt war. Man darf Voltaire wohl den großen Typus des Intellektualismus und Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts nennen. Und doch sagt er (in einem Brief aus dem Jahre 1773): »Il faut avouer que, dans les arts de génie, tout est ouvrage de l'instinct.« Vauvenargues glaubt an den Instinkt und hält die irrationalen Mächte für weit stärker als die rationellen.

Zwei Gedankensplitter sind höchst bezeichnend für ihn. Der eine lautet: »Der Verstand betrügt uns öfter als die Natur«. Das ist eine Lobpreisung des Instinktes. Der andere lautet: »Wenn die Leidenschaften mehr Fehler begehen als die Urteilskraft, so geschieht das, gleich wie die Regierenden mehr Fehler als die Privatmänner begehen«. Damit verkündet er, daß nicht die Vernunft, sondern die Leidenschaften die Menschen leiten, was Voltaire so gut wie Vauvenargues wußte, aber die Verkündung ist so formuliert, daß man sieht, der jüngere Denker vermutet, daß es immer so bleiben werde, was entschieden gegen die feste Überzeugung des älteren war.

XVII

Als Voltaire (nach zweijährigem Warten) die freigewordene Stellung eines der gentilshommes ordinaires seiner Majestät erhielt (22. Dezember 1746) und die Nachricht davon nach Poitou kam, woher die Familie Arouet stammte, entstand bei den ebenso hochmütigen wie unwissenden Landedelleuten eine zornige Erbitterung, die verrät, wie stark die Vorurteile des Adels dort waren. Zwar stand die Familie Arouet im Adelskalender, und von mütterlicher Seite war der Neuernannte unzweifelhaft von adliger Geburt, aber was bedeutete die Familie im Vergleich zu dem alten Adel der Provinz, und wohin sollte das führen, wenn Seine Majestät die Weltordnung umstieß und halbbürgerliche Personen in seine nähere Umgebung brachte!

Hierüber liegt ein Brief des Landedelmanns Ferrand de Méré vor, der ein wertvolles Aktenstück ist, denn kein Satz in diesem Briefe ist richtig geschrieben, während er von der Überzeugung unbezweifelbarer Überlegenheit erfüllt ist. Der Anfang lautet:

On m'averti, mon respequetable oncle, que le roy, insité en aireurs par des malintenciones, grattifie du titre de gentilhomme de sa chambre un cuidam nomé Arouet, de Saint-Lou, fils d'une Domar, qui s'est fet connoître du nom de Voltere. Le roy ne fera pas l'affront à la noblesse de dispancé ce cuidam de ses preuve, qui pour ce les procuré se vairat obligé de les cherché dans les parans de sa mère, pars qui lest de la rautur du cauté paternel [parce qu'il est de la roture du côte]; ce qui seroit un dezoneur pour des gentilshommes de nom et d'arme, nobles de pèrenfils de temps immémorable.

Wie man sich heutzutage keine rechte Vorstellung von den Vorurteilen des Adels vor ungefähr zweihundert Jahren macht, so weiß man auch nicht, was es damals bedeutete zu reisen. In unbequemen Wagen fuhr man auf unmöglichen Wegen, oft mit Unterbrechungen auf offener Landstraße, wenn ein Rad vom Wagen losging, oder mit Aufenthalt in Wirtshäusern, wo der Leute einziger Gedanke war, den Reisenden auszuziehen und ihm ein elendes Essen oder ein schlechtes Bett zum höchsten Preis zu geben. Selbst wenn Reisende wie Voltaire und Madame du Châtelet in der Regel außerhalb der Wirtshäuser Halt machten, wurde die Prellerei dadurch nicht vermieden; es kam vor, daß die Wirtin einen Louis d'or für eine Tasse Bouillon verlangte. Selbst wenn solche wohlhabenden Reisenden den Bauern, die halfen, einen umgestürzten Wagen wieder auf die Räder zu setzen, reichliche Trinkgelder gaben, geschah es, daß die Bauern dieses Geld unzureichend fanden, und wenn das Rad ein Stückchen Wegs wieder losging, es unmöglich war, für Geld oder gute Worte den Wagen in Ordnung gebracht zu bekommen.

Ein anderer Mißstand bei diesen beschwerlichen Reisen war die ungelegene Zeit, zu der man am Bestimmungsort ankam. Wir sahen, daß Madame de Graffigny in Cirey um zwei Uhr nachts ankam. Wir sehen, daß Voltaire und Madame du Châtelet im August 1747 um zwölf Uhr nachts auf dem Schloß Anet der alten Herzogin von Maine ankommen, und zwar nach der boshaften Beschreibung des Kammerfräuleins Mademoiselle Delaunay »wie zwei Gespenster, die noch den Duft aus ihren Gräbern an sich hatten«. Sie kamen gerade nach dem Abendessen, aber mit großem Appetit, und es verursachte keine geringe Beschwerde, ihre Zimmer noch so spät einzurichten. Besonders Madame du Châtelet schien anspruchsvoll. Bald beklagte sie sich über Rauch, bald über Lärm, da sie tiefe Ruhe bei ihrer Arbeit gebrauchte.

Das Paar entschädigte für die Mühe, die es verursachte, durch seine Unterhaltungsgabe. Beide spielten gleich gut Komödie, Madame du Châtelet sang außerdem vortrefflich. Man führte unter anderem Voltaires früher erwähnte Farce Boursouffle auf.

Das Paar reiste von Anet nach Paris und folgte der Königsfamilie nach Fontainebleau, wo ein unangenehmes Erlebnis und ein unvorsichtiges Wort störend in sein tägliches Leben eingriffen.

Wie die meisten vornehmen Damen jener Zeit besaß die Marquise eine heftige Spielleidenschaft. Voltaire hat in einem Gedicht ihr zu Ehren darauf hingewiesen:

Tout lui plait, tout convient à son vaste génie:
Les livres, les bijoux, les compas, les pompons,
Les vers, les diamans, le biribi, l'optique,
L'algèbre, les soupers, le latin, les jupons,
L'opéra, les procès, le bal et la physique.

Eines Abends, als sie in Fontainebleau am Tisch der Königin spielte, verlor sie 400 Louisdor, alles, was sie bei sich hatte, und was sie überhaupt bei ihrer Abreise von ihrem Verwalter hatte bekommen können. Voltaire half ihr mit dem aus, was er bei sich hatte, 200 Louisdor; sie gingen schnell denselben Weg. Ein Diener, der zum nächsten Bankier gesandt wurde, erhielt gegen hohe Zinsen weitere 200; Madame du Châtelets frühere Gesellschaftsdame suchte 180 Louisdor zusammen; sie konnte da das Glück aufs neue versuchen. Aber das kam nicht. (1 Louisdor = 24 Livres.)

Trotz der verständigen Warnungen Voltaires spielte die göttliche Emilie weiter, bis sie gegen Morgen, als abgerechnet wurde, mit 80 000 Livres im Verlust war. Voltaire, der nur Zuschauer gewesen, konnte sich nicht enthalten, seiner Freundin zu sagen, allerdings gewohnheitsgemäß auf Englisch, sie hätte in ihrem Eifer übersehen, daß sie mit Gaunern spielte. Das Wort war kaum zu stark. Viele Zeugnisse aus jener Zeit beweisen, daß edle Herren und Damen sich nicht für zu gut hielten, sich während des Spiels Goldstücke anzueignen, die herumlagen, oder heimlich ein Kästchen zu öffnen, in dem gute Beute vermutet wurde. Aber ein solches Wort am Spieltisch der Königin selbst hinauszuschleudern, wo des Reiches allerhöchster Adel beiderlei Geschlechts versammelt war, und zwar in dem naiven Glauben, daß keiner von diesen Herren oder Damen das Wort scoundrel verstehen würde, das war eine Unbesonnenheit, die nur ein Mann mit dem Temperament Voltaires begehen konnte.

Es gab keine andere Rettung als möglichst schnelle Flucht. Voltaire und die Marquise ließen denn auch in derselben Nacht anspannen und verschwanden sofort. In ihrer Eile vergaßen sie sogar, sich mit Geld für die Reise zu versehen, was ihnen auf dem Wege viele Unannehmlichkeiten verursachte.

Die Herzogin von Maine hatte inzwischen auf ihrem Schloß Sceaux Aufenthalt genommen, und zu ihr nahm Voltaire seine Zuflucht. Auf einer Hintertreppe wurde er in eine vom übrigen Schloß getrennte Wohnung geführt, und hier verbrachte er ein paar Monate, ohne ein einzigesmal auszugehen oder sich zu zeigen, hinter geschlossenen Fensterladen, und arbeitete auch am Tage bei Licht in tiefster Einsamkeit. Um zwei Uhr nachts wurde er in das Schlafzimmer der Prinzessin geführt, wo ihm in la ruelle neben ihrem Bett ein Abendessen angerichtet war, und wo er der alten Dame vorlas, was er im Laufe des Tages geschrieben hatte. Das war nichts Geringes; es war eine ganze Reihe ausgezeichneter Arbeiten in einer Kunstart, die er bis dahin nicht versucht hatte, nämlich die kleinen philosophischen Romane Babouc, Memmon, Scarmentado, Micromégas, Zadig. Wiederum erzählte ihm die Herzogin, die ihres Witzes wegen berühmt war, eine Menge von Einzelheiten, die er zum Aufbau seines Zeitalters Ludwigs XIV. verwandte; sie hatte ja vieles und manches erlebt, in das die andern nicht so eingeweiht gewesen waren wie sie, Enkelin des großen Condé und Witwe eines Sohnes Ludwigs mit Madame de Montespan.

Endlich kam Madame du Châtelet an und befreite den gefangenen Dichter aus seinem Gefängnis. Als der erste Zorn vorüber gewesen war, hatte sie überall das Versprechen bekommen, daß das unselige Wort, das Voltaire entschlüpft war, tot und wirkungslos sein sollte. Das hatte sie um so leichter erreicht, als sie Himmel und Erde in Bewegung gesetzt hatte, um ihre Spielschuld zu bezahlen. Der, der das Geld gewonnen und kaum ein ganz reines Gewissen hatte, ging gern auf eine Herabsetzung der Summe ein, wenn er nur den Rest bar erhielt.

So brach das Paar von neuem in der Richtung nach Cirey auf. Die Marquise liebte es sehr, in der Nacht zu reisen, und erst Abends um neun Uhr nahmen Voltaire und sie im Wagen Platz, der mit Koffern und Kisten ganz bepackt war. Der Boden war schneebedeckt und es fror stark; der Weg war uneben, hatte tiefe Löcher. Ein Stück vor Nangis ging die Wagenachse in Stücke; der schwere Wagen rollte auf die Seite, Voltaire lag unten, über ihm Madame du Châtelet und ihr Kammermädchen; über ihnen wieder die ganze Last an Koffern, Kasten und Paketen.

Da die beiden Postillone und zwei Diener nicht ausreichten, den Wagen zu heben, mußten Boten nach dem nächsten Dorf geschickt werden. Der Schnee lag hoch, aber Voltaire und seine Freundin setzten sich auf die Wagenkissen, die sie auf den Grabenrand legten, und da Himmel und Sterne klar und rein waren, vergaßen sie ihren Unfall schnell bei der Betrachtung des schönen Sternenhimmels und der Erörterung astronomischer Fragen, wobei sie nur ein Fernrohr vermißten, sonst nichts, und sie hatten die Situation ganz vergessen, als die Dienerschaft mit der ersehnten Hilfe zurückkam.


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