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Anwalt des Rechts

I

Der Streit mit dem Präsidenten de Brosses zeigt Voltaire in seiner unglücklichsten Gestalt als ungerechten und querköpfigen alten Mann.

Sobald aber wieder ein Appell an sein Rechtsgefühl und an seine Menschlichkeit gerichtet wurde, sobald er in der Luft den Ruf hörte, der eine überlegene, unbeugsame Persönlichkeit forderte, die den Kampf gegen die herrschende übermächtige Unvernunft und den Fanatismus aufnehmen konnte, dann war der Mann verwandelt, der querköpfige Greis wurde ein unverzagter und hartnäckiger Jüngling, der Vertreter der Rechthaberei wurde der einzige Ritter des Rechts, der wahre Perseus, der auf seinem Flügelroß saß und mit dem sicher geführten Schwert den Drachen erlegte.

Ein anderer Voltaire, ein neuer Voltaire, offenbart sich hier vor unsern Augen. Die Kleinlichkeit, die ihn entstellte, ist fortgeblasen, oder sie ist in einer läuternden Flamme verbrannt.

Der heilige Vogel des alten Ägypten, der an Gestalt einem Adler mit Federn aus Purpur und Gold glich, hatte ein Nest, das aus kostbaren Gewürzpflanzen bestand. Wenn er sich alt fühlte, verbrannte er sich in seinem eigenen Nest, und der Phönix stieg verjüngt aus seiner Asche empor.

Auch diese merkwürdige Adlergestalt mit ihren purpurfarbigen und goldschimmernden Flügeln verwandelte und verjüngte sich.

II

Der Hugenotte Jean Calas, ein friedlicher, rechtschaffener Mann von 60 Jahren, der mit Katholiken und Protestanten gut auskam, bewohnte 1761 mit seiner Familie in der Rue des Filatiers in Toulouse ein Haus, in dem er einen Handel mit Kattunstoffen betrieb. Er hatte mit seiner Frau Anne Rose Cabibel vier Söhne und zwei Töchter. Als Dienstmädchen lebte Jeanne Viguier, die eifrig katholisch war, in dem Hause.

Einer der Söhne, Donat Louis, war zum Katholizismus übergetreten und zeigte sich selten im Elternhaus; ein anderer der Söhne war in Nimes in der Lehre; die beiden Töchter waren zu Besuch bei Freunden auf dem Lande.

Am 13. Oktober 1761 waren von den Söhnen nur Marc-Antoine und Pierre zu Hause. An diesem Tage fand sich zwischen 4 und 5 Uhr nachmittags ein Besuch ein, Gaubert Lavaysse, der Sohn eines angesehenen Advokaten am Parlamentsgericht in Toulouse. Er kam aus Bordeaux und war nur auf der Durchreise in der Stadt, da er, bevor er sich nach St. Domingo begab, seine Eltern begrüßen wollte, die sich auf dem Lande aufhielten. Er hatte jedoch nicht sofort ein Mietpferd bekommen können. Jean Calas lud ihn zum Abendessen ein. Der junge Mann nahm die Einladung gern an, ging kurz vorher fort, in der Absicht, für den nächsten Tag ein Pferd zu bestellen, und kam um 7 Uhr zum Abendessen zurück.

Während des Essens, das nicht lange dauerte, sprach man über gleichgültige Dinge. Beim Nachtisch stand der Sohn Marc-Antoine auf und ging in die Küche, die neben dem Eßzimmer lag. Auf die Frage des Dienstmädchens, ob ihn fror, antwortete er: »Im Gegenteil, mir ist brennend heiß.« Man ging in die Wohnstube und saß dort bis gegen 10 Uhr, als der junge Lavaysse sich verabschiedete. Pierre, der inzwischen eingeschlafen war, wurde geweckt und nahm ein Licht, um den Gast hinunterzubringen. Gleich darauf hörte man einen Schrei, und Jean Calas lief die Treppe hinunter.

Die beiden jungen Menschen hatten eine Tür, die vom Gang zum Laden führte, offen gefunden, und als sie sich näherten, um nachzusehen, ob sich jemand eingeschlichen hätte, entdeckten sie Marc-Antoine, der sich an den Flügeln einer Tür, die vom Laden in ein Lager ging, erhängt hatte. Über die Flügel war ein Packstock gelegt, der zum Zusammenschnüren von Stoffen diente, und um ihn war ein mit doppelter Schleife versehener Strick geschlungen, in dem die Leiche hing.

Als Jean Calas hinzukam, hob er seinen Sohn in die Höhe, legte, während der Stock herunterfiel, die Leiche des Sohnes auf den Fußboden und befreite sie von dem Strick. Er rief Pierre zu, er solle den in der Nähe wohnenden Arzt Camoire holen. Die beiden jungen Menschen stürzten fort. Statt des Arztes trafen sie jedoch nur seinen Assistenten, einen gewissen Gorsse, mit dem Pierre sofort zurückkam. Inzwischen war auch Madame Calas die Treppe heruntergekommen und hatte vergebens Wiederbelebungsversuche mit dem Sohn vorgenommen. Als Gorsse nach dem Puls fühlte, merkte er sofort, daß der Tod eingetreten war. Eine Verletzung war an der Leiche nicht zu finden. Als er aber das schwarze Halstuch beiseite schob, sah er die Strieme am Hals, die der Strick zurückgelassen hatte. Verzweifelt lief Pierre noch einmal fort, um womöglich Hilfe zu schaffen. Sein Vater rief ihm nach: »Sage nichts davon, daß dein Bruder Hand an sich gelegt hat; rette wenigstens die Ehre deiner armen Familie.«

Pierre eilte zu einem der Freunde des Hauses, Cazeing, da er wußte, daß Lavaysse dorthin gegangen war, und hier überredete er diesen, nichts über den Selbstmord zu äußern. Auf Cazeings Rat, so schnell wie möglich die Behörden über das Vorgefallene zu unterrichten, übernahm es Lavaysse, einen Beisitzer im Rat, Monyer, zu holen. Dieser meldete den Fall weiter, und gleich nach Pierres Heimkehr fand sich der Ratsherr David de Beaudrigue mit einer Wache von vierzig Mann ein. Er verhaftete Pierre, der allein bei der Leiche geblieben war, nachdem sich seine Eltern zurückgezogen hatten. Nun kam auch Lavaysse mit dem Beisitzer Monyer und einem Gerichtsschreiber. David de Beaudrigue ließ einen Professor der Medizin, Latour, und zwei Wundärzte, Lamarque und Peyronnet holen. Sie besichtigten die Leiche, wo sie lag. Es war inzwischen halb ein Uhr nachts geworden.

III

Inzwischen sammelte sich vor dem Hause eine aufgeregte Menge an, aus der man plötzlich ein Wort hörte, das von Mund zu Mund lief: »Marc-Antoine ist von seiner Familie ermordet worden, weil er katholisch werden wollte.«

Da ging es wie ein Licht vor David de Beaudrigue auf. Er, der selbst Fanatiker war, griff begierig nach der Erklärung, die ihm der fanatische Pöbel gab. Er ließ das Ehepaar Calas, Pierre, das Dienstmädchen, Lavaysse und Cazeing festnehmen und nach dem Rathaus führen, wohin auch die Leiche auf einer Bahre gebracht wurde. David de Beaudrigue war nun seiner Sache so sicher und so gewiß, daß er die Mörder des jungen Calas festgenommen hatte, daß er einem Kollegen, der ihm Mäßigung empfahl, antwortete, es handle sich hier um eine Sache des Glaubens, und er übernehme die Verantwortung.

Er übersah, daß er, falls ein Mord begangen war, nun in Nichtachtung der Verfügung von 1670 alles getan hatte, um die Spuren dieses Mordes zu verwischen. Es war vorgeschrieben, das Protokoll am Tatort aufzunehmen und nichts zu berühren, damit man z. B. in diesem Falle sofort sehen konnte, ob zwischen Marc-Antoine und seinen Mördern ein Kampf stattgefunden hatte. Aber man bekümmerte sich nicht darum, das Hausgerät unberührt zu lassen, noch zu untersuchen, ob die Festgenommenen im Gesicht, au Händen oder Kleidern Spuren eines solchen Kampfes trugen.

Alle Angeklagten versicherten, daß sie Marc-Antoines Leiche ausgestreckt auf dem Fußboden gefunden hatten. Das war nur richtig, was Madame Calas und Jeanne Viguier betrifft. Daß Jean Calas und sein Sohn Pierre und Lavaysse trotz ihres Eides, die Wahrheit sagen zu wollen, versuchten, Marc-Antoines Selbstmord zu verbergen, beruhte auf der Angst vor der Schande, die nach den wahnsinnigen Rechtsbegriffen der damaligen Zeit mit dem Tod durch eigene Hand verbunden war: was dem Selbstmörder gehörte, fiel dem König zu. Seine Leiche wurde nackt, das Gesicht nach unten, durch die Straßen geschleppt, und der Pöbel warf mit Steinen und Unrat nach ihr. Zum Schluß wurde sie an den Galgen gehängt.

Es ist da wohl natürlich, daß der Vater dem Körper des Sohnes diese Behandlung ersparen wollte, aber nicht weniger natürlich, daß diejenigen, die die dunklen Streifen am Halse der Leiche gesehen hatten, den Angaben der Angeklagten nicht glaubten, und sich ebenso ungläubig verhielten, da die Angeklagten späterhin aus Furcht, als Mörder betrachtet zu werden, ihre Aussagen zurücknahmen und zugaben, daß ein Selbstmord vorlag.

IV

Der Verstorbene war ein ehrgeiziger junger Mann gewesen; er hatte Jus studiert und wollte Advokat werden. Aber ohne den Nachweis, daß er Katholik war, konnte er nach dem damals in Frankreich geltenden Recht zur Advokatur nicht zugelassen werden. Gelegentlich wurde ein derartiges Zeugnis wohl aus gutmütigem Entgegenkommen Andersdenkenden gegeben; aber der Geistliche, an den sich Marc-Antoine vor anderthalb Jahren gewandt hatte, und der schon im Begriff gewesen war, ihm das Attest zu geben, wurde im letzten Augenblick darauf aufmerksam gemacht, der junge Mann sei Protestant.

Da Marc-Antoine in keinem Fall seine Konfession wechseln wollte, war ihm die juristische Laufbahn damit verschlossen. Er hatte keinen anderen Ausweg, als trotz seines Widerwillens gegen den Beruf Kaufmann zu werden. Er wollte eine vorteilhafte Teilhaberschaft mit einem Bekannten eingehen, vermochte aber nicht, das dazu nötige Kapital aufzubringen, und als er dann um Aufnahme in das Geschäft seines Vaters bat, fühlte er sich durch die Ablehnung seiner Bitte, Teilhaber und nicht Angestellter zu werden, ernstlich gekränkt.

Er war immer zur Schwermut geneigt gewesen. Nun, da alles fehlschlug, wurde sein Gemüt noch schwermütiger, er verlor seine Arbeitslust, schließlich seine Energie, wurde Müßiggänger und Spieler, saß den ganzen Tag untätig in den Cafés und deklamierte mit Vorliebe verzweifelte Tragödienstellen, Monologe über den Selbstmord wie Hamlets, und dieser Zustand führte ihn schließlich dazu, seinem Leben ein Ende zu machen.

Kein Gedanke lag ihm die ganze Zeit über ferner als der, Katholik zu werden, und kein Gedanke hätte seinem braven Vater ferner gelegen, als der, ihn deshalb zu ermorden. Der dritte Sohn der Familie war ja unangefochten katholisch geworden; das Dienstmädchen war leidenschaftlich katholisch und kam vortrefflich mit ihrer Herrschaft aus. Calas konnte nichts dafür, daß sich fanatische Katholiken einbildeten, es wäre eine der Vorschriften Calvins, daß der Vater den Sohn töten sollte, wenn er die Religion wechselte. Sie bildeten sich ja auch ein, es wäre eine Vorschrift des Talmud, die Juden sollten ein Christenkind töten und mit dessen Blut ihr Brot zum Osterfest bereiten.

Die Hauptfrage, ob hier Mord oder Selbstmord vorlag, wurde nicht durch eine juristische Untersuchung entschieden, sondern durch den Fanatismus, den das Gericht mit dem Pöbel gemein hatte. Man hatte die Leiche in der Kammer liegen lassen, in der die Angeklagten der Stadt gefoltert wurden. Bei den Ratsherren (die in Toulouse Capitoul hießen, vielleicht, weil sie sich ursprünglich auf dem Capitol der Stadt versammelten) stellte am 7. November der Anwalt des Königs den Antrag, die Leiche zu beerdigen. David de Beaudrigue benutzte die Gelegenheit, gemeinsam mit einem anderen Capitoul namens Chirac die Versammlung der Ratsherren, die gefragt werden mußte, zu umgehen, und wandte sich direkt an den Priester des Bezirks, in dem die Familie Calas gewohnt hatte, mit der Aufforderung, die Leiche nach katholischem Ritus zu begraben.

Damit war ja nicht allein entschieden, daß kein Selbstmord vorlag, sondern auch, daß Marc-Antoine zum Katholizismus hatte übertreten wollen und aus diesem Grunde den Tod gefunden hatte.

Die Beerdigung wurde so angeordnet, als ob es sich um die Verherrlichung eines Märtyrers handelte, der ein Opfer seines Glaubens an die einzig seligmachende Kirche geworden war. Sie wurde auf einen Sonntagnachmittag angesetzt, damit die ganze Bevölkerung ihre Teilnahme zeigen konnte. Und unter ungeheurem Andrang wurden die Messen im Stephans-Dom gehalten und der Sarg in geweihte Erde gesenkt. Wie Diderot treffend gesagt hat: »Nur wenn die Leiche des Märtyrers herausgegraben und nackt durch die Straßen geschleppt wurde, durfte der unglückliche Vater hoffen, von dem Morde freigesprochen zu werden.«

Das Gericht, das in erster Instanz den Prozeß entscheiden sollte, war das Toulouser Stadtgericht: das Konsistorium der Capitouls. Dies bestand aus acht Mitgliedern, von denen zwei (Capitouls titulaires) ihre Stellung gekauft hatten, also unabsetzbar waren, den größten Einfluß hatten und die anderen beherrschten, die nur auf Zeit von den angesehenen Bürgern gewählt waren. In Kriminalfällen kamen dazu noch vier – ganz abhängige – Beisitzer des Rats. David de Beaudrigue, von 1748-1765 Capitoul titulaire, war ein eingebildeter Schurke, dem die Macht, die ihm zustand, zu Kopfe gestiegen war, so daß er die übertriebensten Vorstellungen von seiner Bedeutung hegte. Sein Leben lang war er kriecherisch vor den Vorgesetzten, gewalttätig gegen Wehrlose. Für Beaudrigue kam es besonders darauf an – wie man aus seinen Berichten an den Minister ersieht –, auf Kosten seiner Kollegen die Regierung auf seinen Diensteifer aufmerksam zu machen, damit er die eine oder andere Auszeichnung von Versailles erhalten konnte. Sein religiöser Fanatismus war so groß wie seine Erbärmlichkeit.

V

Da die Aussagen der ersten vernommenen Zeugen nicht genügend Material für die Beschuldigung der Angeklagten abgaben, wurde ein geistliches Monitorium erlassen, das alle, die in der Angelegenheit Angaben machen konnten, aufforderte, sich bei Strafe der Exkommunikation zu melden, womit an die Angst vor der Hölle appelliert wurde. Nach der Verfügung von 1670 durfte in einem solchen Monitorium der des Verbrechens Verdächtige nicht mit Namen genannt werden; außerdem sollten sowohl Belastungs- wie Entlastungszeugen aufgerufen werden. In beiden Punkten wurde das Gesetz übertreten. Und dieser Umstand hatte weitgehende Folgen. 65 von 87 Zeugen meldeten sich erst kraft des Monitoriums, und das ganze Zeugenverhör lag nun in geistlichen Händen. Von allen vernommenen Zeugen war nur ein einziger, ein Advokat Charlier, für die Schuldlosigkeit des Vaters am Tode des Sohnes. Alle Versuche, die Calas' Töchter mit Hilfe von Freunden machten, um die Wahrheit festzustellen, wurden von David de Beaudrigue zerstört. Er schüchterte jeden ein, der im Sinne hatte, zugunsten von Calas zu sprechen. Da er verdächtig war, ein Dokument vordatiert zu haben (um seine Ungültigkeit zu verbergen), da er außerdem im voraus die Überzeugung ausgesprochen hatte, daß Marc-Antoine als Märtyrer gestorben war, hatten die Angeklagten nach dem Gesetz das Recht, seinen Rücktritt als Richter zu fordern. Die Freunde von Calas schrieben deshalb eine Eingabe dieses Inhalts, erhielten aber nicht die Erlaubnis, sie einzureichen; denn man ließ niemanden zu den Angeklagten, der ihre Unterschrift unter einer Vollmacht haben wollte. Und solange der Prozeß vor den Ratsherren schwebte, erlaubte man keinem Advokaten, Einsicht in die Akten zu nehmen und festzustellen, was sie enthielten.

Die Untersuchung lieferte keinen Beweis für die Schuld der Familie Calas. Niemand konnte Zeugnis dafür ablegen, daß Marc-Antoine katholisch geworden war oder daran gedacht hatte, es zu werden. In den Verhören wurden dem Ehepaar Fallen aller Art gestellt. Der Richter hatte, behauptete er, Beweise dafür, daß ihr Sohn im Begriff stand, die Religion zu wechseln. Die Angeklagten antworteten, daß sie nichts davon wußten; ihr Sohn war stets ein eifriger Protestant gewesen. Als Madame Calas ausgefragt wurde, ob nicht ihrer Meinung nach ein Vater als oberster Richter über den Glauben seines Sohnes zu bestimmen habe, antwortete sie, daß es in Glaubenssachen nicht auf die väterliche Autorität ankäme, sondern auf das Gewissen und auf innere Erleuchtung.

Voltaire sagt in seinem Dictionnaire im Artikel Criminaliste die derben und wahren Worte:

Der Richter ist ein Barbar im Amtskleid, der dem Angeklagten Schlingen legt, unverschämt lügt, um die Wahrheit herauszubekommen, und die Zeugen so einschüchtert, daß sie, ohne es zu merken, Zeugnis gegen den Angeklagten ablegen. Er holt alte, längst vergessene Gesetze aus der Zeit der Bürgerkriege wieder hervor, sucht einerseits alles zu unterdrücken, was den Angeklagten rechtfertigen, andererseits alles aufzubauschen, was zu seiner Verurteilung dienen kann. Nicht wie ein Richter, sondern wie ein Feind berichtet er über den Inhalt der Akten, kurz: er verdiente, selbst gehängt zu werden statt seiner Mitbürger, die er an den Galgen bringt.

Daß die Familie Calas, falls sie wirklich einen Mord beabsichtigte, sich schwerlich in aller Ruhe mit dem Sohn zu Tisch gesetzt und sogar noch einen Gast zum Abendbrot eingeladen hätte, das leuchtete jedem ein. Deshalb behauptete das Gericht, dieses Abendessen sei erdichtet, und daß Lavaysse und das Mädchen Jeanne Viguier an dem Verbrechen mitschuldig seien. Am 10. November stellte Lagune den Antrag, daß das Ehepaar Calas und der Sohn Pierre zum Galgen verurteilt werden sollten, daß ihr Vermögen zu konfiszieren sei, daß Lavaysse und Jeanne Viguier der Hinrichtung beiwohnen, er dann auf die Galeere und sie auf fünf Jahre in das Gefängnis gebracht werden sollten.

Gegen das Urteil wurde an das Parlaments-Gericht appelliert, das es wegen der nicht wenigen begangenen Gesetzwidrigkeiten kassierte.

VI

Nun kam der Fall vor das Parlaments-Gericht (la tournelle) zu Toulouse, das aus zwei Präsidenten und elf Ratsherren bestand. Nur ein einziger Ratsherr mit Namen de la Salle, war im voraus von der Unschuld der Angeklagten überzeugt, und die Rücksichtslosigkeit, mit der er sich darüber aussprach, wurde für sie schicksalsschwanger; denn er war gewissenhaft genug, sich auf Grund seiner vorausgefaßten Ansicht für inkompetent zu erklären und beraubte dadurch die Unglücklichen einer gewichtigen Stimme. Für alle übrigen Mitglieder des Parlaments, lauter fanatische Katholiken, war dieser ein religiöser Tendenzprozeß. Man lud 63 neue Zeugen, deren Gerede natürlich zu dem, was vorlag, nichts Neues bringen konnte. Unter ihnen waren falsche Zeugen, so ein gewisser Pérès, der am Abend des 13. Oktober Jean Calas in seinem Laden im Überrock gesehen hatte, obgleich er tatsächlich nur einen grünen Hausanzug getragen hatte, dann eine Lügnerin, Cathérine Damnière, die erklärte, daß sie kürzlich zum Katholizismus bekehrt worden sei und daß Marc-Antoine sie vor dem Rückfall zum Protestantismus gewarnt habe, obwohl sie nachweislich niemals Protestantin gewesen, sondern von Geburt katholisch war.

Es wurden verschiedene wichtige Verteidigungsschriften für Calas herausgegeben. Eine anonyme wird dem Ratsherrn de la Salle zugeschrieben, ein paar andere dem kühnen und klugen Advokaten de Sudre, der infolgedessen eine lange Reihe von Jahren seine ganze große Praxis verlor. Denn nicht nur die Bevölkerung und die Geistlichkeit, sondern alle parlamentarischen Kreise waren weißglühend vor Fanatismus, und die Richter nahmen nicht die geringste Rücksicht auf die in den Verteidigungsschriften gesammelten Zeugnisse. Als Jean Calas, der zuerst verurteilt werden sollte, zu seinem letzten Verhör geführt wurde, sah er vor dem Parlamentsgebäude einen Scheiterhaufen. Er war zur Verbrennung des Buches eines protestantischen Geistlichen bestimmt. Aber Calas, der glaubte, er wartete auf ihn, und daß er ohne weiteres den Verbrennungstod sterben sollte, wurde von Schrecken ergriffen und antwortete deshalb nicht mit der gewöhnlichen Festigkeit. Man legte seine Verwirrung als entscheidenden Beweis für seine Schuld aus.

Am 9. März 1762 wurde er verurteilt, die gewöhnliche und die außerordentliche Tortur auszuhalten, wodurch man ihn zwingen wollte, seine Mitschuldigen zu nennen. Danach sollte er nur mit einem Hemd bekleidet, mit entblößtem Kopf und barfüßig auf einer Karre zur Domkirche gefahren werden, um dort Kirchenbuße zu tun. Schließlich sollte er auf dem Platz de Saint George gerädert und mit dem Gesicht zum Himmel aufs Rad geflochten werden, »um da so lange zu leben, wie Gott ihm den Atem gönnte«. Seine Leiche sollte verbrannt werden, seine Hinterlassenschaften als Buße dem König zufallen.

Die gewöhnliche und die außerordentliche Tortur war teils question à l'eau, die im Einflößen von Wasser durch ein Trinkhorn bestand, beim ersten Grad acht Kannen Wasser, beim zweiten Grad (der außerordentlichen) 16 Kannen, teils question à brodequin (der spanische Stiefel), die darin bestand, daß das Bein des Gefolterten zwischen zwei Bretter gelegt wurde, die so fest wie möglich zusammengeschraubt wurden, worauf Keile mit starken Hammerschlägen zwischen sie getrieben wurden. In der Regel wurden die Knochen dabei zermalmt. Auch hier gab es zwei Grade; es wurden vier oder acht Keile eingetrieben. Jean Calas erlitt sowohl die gewöhnliche wie die außerordentliche Tortur. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert wurden außerdem die Glieder aus den Gelenken gedreht (la tour). Diese Folter hielt sich in Frankreich außerhalb von Paris bis 1788.

VII

Am Tage, nach dem das Urteil gesprochen worden war, wurde es vollzogen. Nachdem Jean Calas die Tortur überstanden und Kirchenbuße getan hatte, wurde er im bloßen Hemd zur Richtstätte geführt. Er wurde mit dem Gesicht nach oben auf ein auf dem Schafott liegendes, mit Einschnitten versehenes Andreaskreuz gebunden. Über den Einschnitten lagen die Gliedmaßen, die der Henker mit einer Eisenstange zu zerbrechen hatte. Darauf erfolgten mehrere Schläge über die Brust. Die Kunst des Henkers bestand darin, den Verbrecher solange wie möglich am Leben zu erhalten, damit die Zuschauer seine Qual genießen konnten. Dann wurde der Körper dermaßen auf ein Wagenrad geflochten, daß die Fußspitzen den Hinterkopf berührten.

Das Protokoll über die Tortur zeigt, daß Calas standhaft blieb und immer wieder seine und seiner Mitangeklagten Unschuld beteuerte. Von dem Karren, der ihn zur Richtstätte führte, rief er der Menge zu, daß er unschuldig sei. Noch auf dem Schafott bewahrte er seine Standhaftigkeit. Bei jedem Schlag, den der Scharfrichter gegen ihn führte, gab er nur einen einzigen Schrei von sich. Als der Henker seine gebrochenen Glieder um das Rad flocht, machte einer der beiden Dominikanermönche, die ihn begleitet hatten, noch einen Versuch, ihm ein Geständnis zu entlocken. Calas konnte nur murmeln, daß es ihm weh tat, daß ihn auch der Mönch für schuldig hielt.

Im achtzehnten Jahrhundert wurde der Unglückliche, der bis zu zwei Tagen und Nächten auf dem Rade liegen konnte, in einzelnen Fällen vom Henker erwürgt. Wann das geschehen sollte, wurde im voraus von den menschenfreundlichen Toulouser Richtern auf das genaueste festgesetzt, denn sie verstanden es, eine Todesart zu einem halben Dutzend Todesarten zu machen. Der Unglückliche erfuhr im voraus nichts darüber.

Durch die Strafjustiz der alten Staatsform wurde das französische Volk überhaupt systematisch zur Grausamkeit erzogen. Wenn es in der Schreckensperiode der Revolution Grausamkeit an den Tag legte, so war sie ihm von der Alleinherrschaft beigebracht und war außerdem sogar sehr gering im Vergleich mit der von der Monarchie herangezogenen.

Als Damiens stundenlang auf dem Schafott alle erdenklichen Qualen ausgehalten hatte, und die Pferde, die ihn in Stücke reißen sollten, sich dauernd vergebens anstrengten, hatte die Menge nur mit den armen Pferden Mitleid, keins mit dem Manne, und als es einem Pferd schließlich gelang, ihm ein Bein auszureißen, brach die Menge in jubelnden Beifall aus. Nicht eine Dame verließ die ganze Zeit über ihren Fensterplatz; man sah durch Theatergläser zu, aß Bonbons und machte Witze; Casanovas Memoiren bezeugen, daß man noch dazu wollüstig aufgeregt war.

Im Jahre 1742 wurde ein gewisser Desmoulins gerädert und lebte noch 22 Stunden auf dem Rade, bis man das Pariser Parlament um die Erlaubnis bat, ihn zu erdrosseln. Ja, kurz vor Ausbruch der Revolution lag auf der Place Dauphine in Paris ein geräderter Verbrecher zwei Tage und Nächte hindurch heulend auf dem Rade, was die Bevölkerung nicht anders bewegte, als daß die Anwohner baten, man möchte das furchtbare Geheule, das die Nachtruhe störte, zum Aufhören bringen. Voltaire bemerkt oft, daß anständige Leute, die über den Grève-Platz fuhren, den Kutscher nur baten, schneller zu fahren, und in der Oper Vergessen für das suchten, was sie dort gesehen hatten.

Als sich der Augenblick näherte, wo Calas erdrosselt werden sollte, näherte sich David de Beaudrigue noch einmal dem Gemarterten, um ihm ein Wort zu entreißen, das man als Geständnis auslegen konnte. Calas antwortete jedoch nicht, wandte nur sein Gesicht fort.

VIII

Es war für die Richter wie für den Minister Saint Florentin eine große Enttäuschung, daß man trotz dieses energischen Vorgehens keinerlei Zugeständnis des Mordes erlangt hatte.

Um so kräftiger wollte man da gegen die übrigen Angeklagten einschreiten, und man ließ kein Mittel unversucht. Man jagte sie auf jede Weise in Schrecken; man teilte ihnen mit, daß auch ihre Hinrichtung bevorstand. Ein Mönch trat zu Pierre Calas in die Zelle und verkündete ihm, daß auch er hingerichtet werden sollte; Pierre und Lavaysse beschlossen denn, um wenn möglich eine Milderung ihres Schicksals zu erlangen, zum Katholizismus überzutreten. Das hielt jedoch den Generalanwalt nicht ab, zu fordern, daß Madame Calas, Pierre und Lavaysse zum Galgen, das Dienstmädchen zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt werden sollten.

Schließlich wurde Pierre zu lebenslänglicher Landesverweisung verurteilt. Gegen die übrigen ließ man die Klage fallen. Eine bedeutende Minderheit protestierte gegen dieses Urteil, da der gichtkranke 63jährige Jean Calas seinen außerordentlich kräftigen und geschmeidigen 28jährigen Sohn unmöglich allein hatte hängen können; wenn man also die übrigen von der Teilnahme am Mord freisprach, dann war die grauenhafte Hinrichtung des Vaters ein Justizmord.

Pierre war nur zum Schein zur Landesverweisung verurteilt worden; man führte ihn durch ein Tor aus der Stadt, durch ein anderes wieder hinein und sperrte ihn in ein Kloster. Vier Monate später gelang es ihm, zu entfliehen.

Lavaysse wurde losgelassen. Rose und Nanette Calas waren nach Montauban geflüchtet, wohin auch die Mutter, sobald sie ihre Freiheit erhielt, ihre Zuflucht nahm. Doch das Zusammenleben der Frauen war nur von kurzer Dauer. Der Präsident du Puget erwirkte bei Saint-Florentin (der 52 Jahre hindurch als Minister mit hartnäckiger Tyrannei die Protestanten verfolgte) zwei lettres de cachet gegen die Töchter Jean Calas', denen Mitleid zu erweisen die Hugenotten in Montauban gewagt hatten, und sie wurden da jede in ein Kloster in Toulouse geführt, Rose nach Notre Dame, Nanette zu den Visitandinerinnen, wo man sie von der Mitwelt absperrte.

IX

Die Hinrichtung von Jean Calas jagte den Protestanten Südfrankreichs um so größere Furcht vor neuen Verfolgungen durch die katholische Bevölkerung ein, als sie ihn im Anfang für schuldig halten mußten. Und Voltaire glaubte zuerst wie sie, daß er schuldig sei. Aus einem Brief vom 22. März 1762 ersieht man, daß Voltaire ursprünglich nicht daran zweifelte, daß dieser Toulouser Hugenott nach dem Beispiel Abrahams seinen Sohn opfern wollte.

Ein Kaufmann aus Marseille, Dominique Audibert, machte ihn jedoch bald auf das einander Widersprechende in den über die Familie Calas gefällten Urteilen, sowie auf die Unwahrscheinlichkeit des Verbrechens selbst aufmerksam. Bereits am 25. März wendete er sich denn an den Cardinal Bernis und bittet ihn um genauere Angaben. Die Wahrheit war ihm noch nicht klar. An d'Argental schreibt er zwei Tage später: »Auf beiden Seiten herrscht ein furchtbarer Fanatismus. Es ist nötig, auf den Grund der Wahrheit zu gelangen.«

An und für sich war der Protestantismus Voltaire fast stärker zuwider als der Katholizismus. »Wir taugen nicht viel, heißt es in einem seiner Briefe an den Ratsherrn le Bault, aber die Huguenotten sind noch schlimmer.« In Wirklichkeit waren sie in seinen Augen »Narren und Dummköpfe«; für sie sprach nur, daß es »verfolgte Narren« waren. Die Haltung Calvins gegenüber Servet war Voltaire unvergeßlich. Er hatte bereits 1757 die schönen Verse geschrieben:

Non, je n'ai point tort d'oser dire
Ce que pensent les gens de bien;
Et le sage qui ne craint rien
A le beau droit de tout écrire.

J'ai, quarante ans, bravé l'empire
Des lâches tyrans des esprits;
Et dans votre petit pays,
J'aurais grand tort de me dédire.

Je sais que souvent le Malin
A caché sa queue et sa griffe
Sous la tiare d'un pontife,
Et sous le manteau d'un Calvin.

Je n'ai point tort quand je déteste
Ces assassins religieux,
Employant le fer et les feux
Pour servir le père céleste.

Oui jusqu'au dernier de mes jours,
Mon âme sera fière et tendre;
J'oserai gémir sur la cendre
Et des Servets et des Dubourgs. Servet 1553, Dubourg 1559 verbrannt.

Voltaire war nicht im Zweifel, daß die französischen Protestanten, falls sie die Macht hätten, Andersdenkenden gegenüber nicht um ein Haar besser sein würden als die Katholiken. Er kannte seine Protestanten in Genf ja gründlich.

Aber er hegte das tiefste Mißtrauen zu den französischen Parlamentsgerichten. Er wußte, wie er sagte, daß kein Jahr verging, in dem man in den Provinzen nicht unschuldige Familienväter zu einem furchtbaren Tod verurteilte – mit derselben Gemütsruhe, mit der man im Hühnerhof einer Pute den Hals umdrehte. Voltaire war geneigt, die schlechte Justiz mindestens zum Teil aus dem Umstand herzuleiten, daß die Richterposten käuflich waren. Dieser merkwürdige Brauch hatte seinen Ursprung in den finanziellen Schwierigkeiten des Staates unter Ludwig dem Zwölften. Der König verkaufte die Richterstellen für ein Kapital, als dessen Rente das Gehalt der Richter betrachtet wurde. Franz der Erste, Heinrich der Zweite und Heinrich der Vierte folgten dem Beispiel, und so wurden die Parlamentsstellen allmählich sowohl käuflich wie erblich. Während Voltaire wie die meisten französischen Schriftsteller dieses Verhältnis als einen Fleck auf der französischen Justiz betrachtete, hatte Montesquieu seinerzeit die Käuflichkeit und Erblichkeit des Richteramtes verteidigt – trotz der Mißstände, die der Brauch mit sich führte, da nur Wohlhabende Richter werden konnten und halbe Kinder durchaus nicht davon ausgeschlossen waren, es zu werden. Montesquieu behauptete, daß im Laufe der Jahrhunderte ein parlamentarischer Justizadel herangebildet worden war, der auf seine Würde hielt, so daß la noblesse de robe neben la noblesse d'épée stand. Dieser Justizadel duldete angeblich keinen Unwürdigen in seiner Mitte. Das war jedoch nur bis zum achtzehnten Jahrhundert wahr, wo man von vertrauenerweckenden Eigenschaften bei denen, die Richterstellen kauften, ganz absah. Montesquieu war außerdem Partei in dieser Angelegenheit, da er selbst seine Stelle als Mitglied des Parlaments in Bordeaux gekauft hatte, und sie 1726 ohne Bedenken weiterverkaufte.

Eine Art Vorteil war mit der Käuflichkeit der Posten verbunden, nämlich, daß die Parlamente unabhängig von der Regierung blieben, was bei der Macht, über die die französischen Könige verfügten, unzweifelbar gut war. Die Könige konnten die Richter weder einsetzen noch absetzen. Dieser Vorteil wurde jedoch reichlich durch den Mangel aufgewogen, daß die Parlamente nicht nur Urteile fällten, sondern Polizeigewalt hatten und dazu noch Gesetze gaben. Dadurch fielen sie jeder Art von Partei-Intrigen anheim. Die Unparteilichkeit der Richter war untergraben.

Als gesetzgebende Macht lagen die Parlamente in ständigem Streit mit der Krone und suchten deshalb, die Krone ihres wichtigsten Bundesgenossen, der Jesuiten, zu berauben. Der jesuitischen Partei gehörte die gesamte höhere Geistlichkeit in Frankreich an, während die Parlamente selbst jansenistisch gesonnen waren. Damiens unbedeutendes und nichtssagendes Attentat auf Ludwig den Fünfzehnten – er ritzte ihm die Haut ein wenig mit einem Messer – das mit so unerhörter Grausamkeit bestraft wurde, setzte die Parlamente in den Stand, einen entscheidenden Schlag gegen die Jesuiten zu führen. Das Attentat wurde nämlich als ein Ausfluß der Jesuitenmoral geschildert, wobei man unter Berufung auf einige jahrhundertalte Jesuitenschriften behauptete, daß die Gesellschaft Jesu den Königsmord predigte.

Als sich Voltaire zum Kampf entschloß, um die Unschuld des hingerichteten Jean Calas zu beweisen, bekam er alle Parlamente Frankreichs gegen sich. Für die war es eine ganz untergeordnete Sache, ob Calas mit Recht oder Unrecht in Toulouse hingerichtet worden war. Auf jeden Fall durfte er keine Genugtuung erhalten, damit das Ansehen der Parlamente darunter nicht litte. Es war derselbe Gedankengang, der sich ungefähr 130 Jahre später im französischen Generalstab während des Prozesses gegen Alfred Dreyfus geltend machte. (Es war gleichgültig, ob er unschuldig war; als verurteilt mußte er auf der Teufelsinsel bleiben.) Der Polizeimeister Hérault, den wir öfter in Wirksamkeit gesehen haben, hatte sogar offen erklärt, kein Richter dürfe sich bedenken, einen Unschuldigen zum Tode zu verurteilen, wenn das einen großen, allgemeinen Vorteil mit sich führen würde (D'Argensons Memoiren, II. 110).

X

Im Anfang 1762 war die Verfolgung der Jesuiten durch die jansenistischen Parlamente äußerst leidenschaftlich. Es war ja nur zwei Jahre vor dem Edikt, durch welches der Orden aus Frankreich verwiesen wurde. Voltaire schrieb bereits am 26. Januar 1762 an Damilaville:

»Unsere infamen Feinde zerreißen sich gegenseitig. Unsere Sache ist es, auf diese wilden Tiere zu feuern. Während sie sich ineinander verbeißen, können wir sie aufs Korn nehmen.« Und am 30. Januar desselben Jahres an denselben Freund: »Die Brüder müßten sich selbst aufgegeben haben, falls sie keinen Nutzen aus den günstigen Umständen zögen, in denen sie sich befinden. Die Jansenisten und Molinisten reißen einander in Stücke und entblößen ihre häßlichen Wunden. Es gilt, die eine Partei durch die andere zu vernichten, so daß beider Ruin eine Stufe zum Thron der Wahrheit wird.«

Ende Februar wagte Voltaire seinen Auszug aus einer höchst merkwürdigen Schrift herauszugeben, die ein Dorfpriester Jean Meslier aus Etrépigny in der Champagne als sein Testament hinterlassen hatte. Die Schrift ist merkwürdig, weil ein armer aber hochbegabter Priester, der sein Leben hindurch seinen Unglauben und sein leidenschaftliches und begeistertes Heidentum versteckt hatte, nach seinem Tode seine Geringschätzung aller christlichen Lehren offenbarte und sterbend Gott um Verzeihung bat, daß er sie verkündet hatte. Jean Meslier's Testament, herausgegeben von Voltaire, entspricht ziemlich genau Hermann Samuel Reimarus' Wolfenbütteler Fragmenten, herausgegeben von Lessing. Nur hat erstens die französische Literatur einen gewissen Vorsprung vor der deutschen (Jean Meslier lebt von 1678-1733, Reimarus 1694-1768) und dann schneidet Meslier ganz anders ein als Reimarus.

Voltaires Extraits des Sentiments de Jean Meslier ist ein in geschichtlicher Hinsicht höchst lehrreiches Werk, Voltairianismus vor Voltaire, wirkt jedoch rührend durch den Gegensatz zwischen Lebensstellung und Überzeugung des Verfassers. Keiner, hat Renan einmal gesagt, führt die Axt gegen das Götzenbild mit solcher Kraft wie gerade der bekehrte Götzenpriester.

Soweit bekannt, hat man sich in der französischen Literatur mit Jean Meslier nicht sonderlich beschäftigt. In Deutschland hat sich Arthur Fitger von seiner Persönlichkeit ergriffen gefühlt und hat sie und sein Schicksal 1894 in der schönen Arbeit Jean Meslier, eine Dichtung, dargestellt.

Doch mehr noch als durch den leidenschaftlichen Protest des verstorbenen Dorfpriesters gegen die Unvernunft und die Unwahrheiten der biblischen Überlieferungen fühlte sich Voltaire durch das Handbuch für Inquisitoren angefeuert, das der Abbé Morellet auf einer Reise in Italien kennengelernt hatte. Im Jahre 1758 war erschienen: Directorium inquisitorium von Nicolas Eymerich, einem Großinquisitor aus dem vierzehnten Jahrhundert, und der Abbé gab 1762 unter dem Titel Manuel des inquisiteurs französisch einen Auszug aus dem Werke heraus in der Absicht, der religiösen Unverträglichkeit einen Schlag zu versetzen. Voltaire war hingerissen von dem Buch; er verglich den Eindruck, den er von ihm bekommen, mit dem, den der Anblick der blutigen Leiche Caesars auf die römische Bevölkerung gemacht hatte.

Nun war er fest entschlossen, die Sache der Familie Calas zur seinen zu machen und schrieb (14. Juli 1762) an d'Argental: »Nur mit dem Tode lasse ich die Sache fahren. In sechzig Jahren habe ich so viel Ungerechtigkeit gesehen und erlitten, daß ich mir wohl das Vergnügen bereiten kann, diese eine Ungerechtigkeit zuschanden zu machen«.

Zuerst mußte Voltaire die Unterstützung seiner Gesinnungsgenossen gewinnen. Er wandte sich an D'Alembert, d'Argental und Damilaville. D'Alembert war in Paris der anerkannte Führer der Philosophen, der offizielle Vertreter Voltaires. Als Gesandter des Herzogs von Parma stand Graf d'Argental den leitenden politischen Personen und Hofkreisen nahe. Damilaville war jedoch Voltaires eigentlicher Agitator, durch den die »Brüder« in Paris die wechselnden Losungen erhielten, die der ferne Feldherr zu jeder Zeit gab. Da Damilaville als erster Beamter im Steueramt über das Siegel des Generalkontrolleurs verfügte, konnten unter dem Schutze dieses Siegels Briefe, die besser nicht geöffnet wurden, und neue Schriften stets unbehindert an ihren Bestimmungsort gesandt werden.

D'Argental bekam die Aufgabe, die Angelegenheit dem Minister Choiseul darzulegen; die beiden andern sollten die Brüderschaft gewinnen und anfeuern. An D'Alembert schrieb Voltaire (29. März 1762): »Frankreich macht sich überall verhaßt. Jeder sagt, daß wir eine ebenso barbarische wie leichtfertige Nation sind, die wohl versteht zu rädern, aber nicht, sich zu schlagen, und die von der Bartholomäusnacht in die komische Oper geht. Wir werden der Schrecken und die Verachtung Europas; ich bin betrübt darüber; denn wir sind geschaffen, liebenswürdig zu sein.«

An Damilaville schrieb er: »Nichts seit der Bartholomäusnacht hat das Menschengeschlecht so geschändet wie die Hinrichtung von Calas … Schreien Sie selbst und lassen Sie andere schreien! Rufen Sie für die Familie Calas und gegen den Fanatismus; die Infame trägt die Schuld an deren Unglück.«

XI

Trotz seiner Leidenschaft ging Voltaire mit äußerster Vorsicht und Sorgfalt zu Werke, teils um den schwer zu erringenden Sieg zu sichern, teils weil er im innersten noch ungewiß war; er konnte ja nicht wissen, ob Marc-Antoine nicht, wie es so eifrig behauptet wurde, zum Katholizismus gehalten hatte, konnte bei der Entfernung, in der er lebte, nicht sicher sein, die richtigen Umstände bei dem Todesfall kennengelernt zu haben.

Deshalb versuchte er, alle Gründe zu erfahren, die für Mord sprachen, durch die Aussagen von Personen, die Jean Calas für schuldig hielten, und versuchte, neue Beweisgründe für seine Unschuld zu erlangen durch die Aussagen derjenigen, die einen Mord für ausgeschlossen hielten.

Es lag ihm in erster Hinsicht daran, Einblick in die Akten des Prozesses zu gewinnen. Er wandte sich als »Geschichtsschreiber« an den Intendanten in Languedoc und sprach die Hoffnung aus, das Parlament in Toulouse würde bald die Akten in Sachen Calas veröffentlichen, wie das Pariser Parlament die Dokumente im Falle Damiens veröffentlicht hatte. Die Zuschrift war vergeblich.

Dann schrieb er an Richelieu und bat ihn, ihm Aufklärung zu verschaffen. Richelieu gab Voltaire den bequemen Rat, seine Hände von dieser Sache zu lassen, um alle Unannehmlichkeiten und alle Schwierigkeiten zu vermeiden, in die sie ihn bringen würde; er für seinen Teil zweifelte nicht an der Schuld des Hingerichteten. Diese Antwort mußte Voltaires Stimmung notwendigerweise herabdrücken; und noch mehr herabgestimmt ward er, als er erfuhr, daß der Minister Saint-Florentin die beiden Töchter Jean Calas' in Klöster hatte sperren lassen. Das war ja wahrscheinlich nicht ohne Grund geschehen; es war jedoch auch möglich, daß Saint-Florentin, wie die Menschen in den meisten Fällen, aus reiner Unwissenheit, außerdem aus Abneigung gegen die Protestanten gehandelt hatte.

Einen entscheidenden Eindruck auf Voltaires Auffassung machte der fünfzehnjährige Sohn Calas', Donat, der nach Genf kam. Voltaire verließ, als er von seiner Ankunft hörte, sofort Ferney und lud ihn auf Schweizer Boden zu sich nach Les Délices. Voltaire hat in einem Briefe an Damilaville (1. März 1765) seine erste Begegnung mit dem Kind beschrieben:

Ich ließ den jungen Calas zu mir kommen. Ich erwartete, einen Fanatiker der Art, wie sie seine Gegend zuweilen hervorbringt, zu sehen. Ich sah ein einfaches, naives Kind von ruhigem und anziehendem Äußeren, das während des Gesprächs mit mir den vergeblichen Versuch machte, die Tränen zurückzuhalten. Er erzählte mir, daß er in Nimes bei einem Fabrikanten in der Lehre war, als er aus öffentlichen Kundgebungen erfuhr, daß man in Toulouse im Begriff stand, seine ganze Familie zum Tode zu verurteilen. Man sagte ihm, daß fast das ganze Languedoc an die Schuld der Familie Calas glaubte und daß er, um der furchtbaren Schande zu entgehen, in der Schweiz eine Zuflucht suchen solle.

Ich fragte ihn, ob sein Vater und seine Mutter von gewalttätigem Charakter waren; er antwortete mir, daß sie niemals eins ihrer Kinder geschlagen hätten und daß es keine Eltern geben könnte, die nachsichtiger und liebevoller wären.

Ich gebe zu, daß ich dadurch zu einer starken Vermutung der Unschuld der Familie kam. Ich holte weitere Auskünfte bei zwei Kaufleuten aus Genf ein, die in Toulouse bei Calas logiert hatten. Sie bestärkten mich in meiner Ansicht.

Die Umgebung Voltaires war von der Unschuld des Hingerichteten bald derart überzeugt, daß die Zuhörer bei der Aufführung von Tancrède in Ferney bei den folgenden Worten in einen Beifallssturm ausbrachen:

O juges malheureux, qui dans nos faibles mains
Tenons aveuglément le glaive et la balance,
Combien nos jugements sont injustes et vains,
Et combien nous égare une fausse prudence!

Da die Protestanten in der Schweiz sich mit denen in Frankreich solidarisch fühlten, bildete sich in Genf ein größerer Ausschuß, der Geld für den Unterhalt der Familie Calas und für die Kosten eines Prozesses zu ihrer Ehrenrettung sammeln wollte. Es galt besonders, einflußreiche Persönlichkeiten zu gewinnen, und diese Aufgabe fiel natürlich Voltaire zu. Er bat jeden der vornehmen Männer und Frauen, die Gäste seines Hauses gewesen waren, sich der Verlassenen anzunehmen.

Am eifrigsten war die Herzogin von Enville, die ihren ganzen Einfluß am Hofe in Versailles geltend machte. Der Herzog von Harcourt und der Marquis d'Argence de Dirac wurden als Nächste überzeugt, und Voltaire ruhte nicht, bis er den Widerstand des Herzogs von Richelieu überwunden und sowohl ihn wie den Herzog von Villars dazu bewegt hatte, sich an den Grafen Saint-Florentin zu wenden. Es galt besonders, den Kanzler Guillaume de Lamoignon wohlwollend zu stimmen, denn er war der Vorsitzende des Rates, der das Urteil von Toulouse kassieren konnte. Den beinahe achtzigjährigen Mann sofort zu gewinnen, daran war nicht zu denken; aber Voltaire gewann den Marquis de Nicolaï, der ihn in Ferney besucht hatte, dafür, seinen Vater, den Präsidenten von La Cour des comptes, zu bitten, auf den Kanzler einzuwirken; ebenso erreichte er von Castanier d'Auriac, dem Präsidenten des Großen Rates, daß dieser sich an Lamoignon, seinen Schwiegervater wandte. Der Advokat Elie de Beaumont erhielt die Aufgabe, den Advokatenstand zu mobilisieren, Madame de Pompadour versprach, mit dem König selbst über Calas zu sprechen.

XII

Der Energie Voltaires gelang es, den seit 1760 fungierenden Kriegs- und Außenminister, den Herzog von Choiseul zu erobern. Sein Verhältnis zu diesem ohne Zweifel sehr hervorragenden Manne war lange Zeit sehr schwankend, wegen wechselnder Verhältnisse, die mit Voltaires persönlicher Haltung nichts zu tun hatten. Im allgemeinen war ihm der Herzog (und noch mehr die Herzogin) wohlgesinnt. Trotzdem entschloß sich Choiseul, den Feind der Philosophen, Palissot, zu beschützen, weil Morellet, der diesen Lustspielschreiber in einer sogenannten Vorrede zu dem Stück Les Philosophes angriff, so töricht und geschmacklos gewesen war, dabei einige herabsetzende Worte über die Prinzessin von Rebecque, die Freundin Choiseuls, zu schreiben, die damals noch dazu todkrank lag.

Auch als Beschützer von Fréron war Choiseul einmal aufgetreten. Das war, als Friedrich der Große in seinen Versen Ludwig den Fünfzehnten angegriffen hatte und Choiseul einen Literaten gesucht hatte, der Friedrichs Spöttereien erwidern konnte. Hier ist kein Anlaß, sich auf diesen persönlichen Streit zwischen zwei Königen einzulassen. Es soll nur bemerkt werden, daß der französische Hofmann, der auf die Verse des Königs von Preußen über Ludwigs erotische Schwächen tatsächlich antwortete, es nicht schwer hatte, dem Spott entgegenzutreten; er hob hervor, um wieviel eine schöne französische Dame in Spitzen als Gegenstand erotischen Begehrens einem preußischen Fähnrich oder Trommelschläger vorzuziehen wäre.

Nicht einmal, daß der Herzog von Choiseul sich voller Heftigkeit gegen die Familie Sirven aussprach, nachdem er versprochen hatte, ihr Beschützer zu sein, entfernte Voltaire von ihm; im Gegenteil; er verstand diesen Schritt und entschuldigte ihn.

Der Herzog gründete und erbaute die kleine Stadt Versoix, deren Entstehung und Wachstum Voltaire mit Bewunderung und Leidenschaft verfolgte. Man lese nur den Schluß seines Gedichtes an die schöne Herzogin von Choiseul bei Gelegenheit dieser Gründung:

Sur la raison, sur la justice,
Sur les grâces, sur la douceur,
Je fonde aujourd'hui mon bonheur;
Et vous êtes ma fondatrice.

Voltaire konnte im Augenblick dem Herzog nicht in dem Maße beistehen, wie er es gewünscht hatte, da ihn der Abbé Terray als Generalkontrolleur der Finanzen um nicht weniger als 200 000 Francs beraubt hatte, als er ein Edikt ausstellte, das gewisse Staatsanweisungen, von denen Voltaire in der Höhe dieses Betrages besaß, ganz wertlos machte.

Nachdem der Kapuzinergeneral in Rom zum Dank für die Dienste, die Voltaire seinen Mönchen geleistet, den Besitzer von Ferney in den Orden des heiligen Franciskus aufgenommen hatte, unterschrieb sich dieser oft Bruder François, und verschiedene seiner lustigen und herzlichen Briefe an den Herzog und die Herzogin von Choiseul sind so unterzeichnet und in scherzendem Tone geschrieben, als wäre er ein wirklicher Kapuziner.

Da in Genf innere Streitigkeiten entstanden waren und die Straßen sich mit Blut färbten, als die vornehmen Bürger die Handwerker erschlugen, nahm Voltaire die Genfer Flüchtlinge in Ferney auf, gab ihnen Obdach und erlangte, daß der Herzog von Choiseul als ihr Beschützer auftrat. Alle waren sie tüchtige Uhrmacher, und der Herzog ließ eine Kiste mit Uhren als Probe nach Spanien schicken und gab gleichzeitig den Auftrag, daß ihre Arbeiten nach Rom gesandt und dort zum Verkauf ausgestellt wurden. (Voltaires Brief an den Kardinal de Bernis vom 11. Mai 1770.) Zum Dank sandte Voltaire der Herzogin von Choiseul, der selbst das immer spöttische Urteil der Madame du Deffand nur den Fehler zuschreibt, allzu vollkommen zu sein, einen Brief (9. April 1770) in dessen Schluß anmutig und nachlässig eine Zeile hingeworfen ist, nach der es ohne weiteres als gegeben vorausgesetzt wird, daß sie Aphrodite selbst sei. – Hat je ein Mensch wie er schreiben können?

Ich habe die Unverschämtheit begangen, Ihnen zu Füßen zu legen und für Ihre Beine zu senden das erste Paar Seidenstrümpfe, das man jemals in diesem Talgrund gewirkt hat, mitten in Schnee und Eis, wo ich die Dummheit begangen habe, mich niederzulassen. Ich habe heute eine viel größere Unverschämtheit anzubringen. Kaum hatte Monseigneur Atticus-Corsicus-Pollion erlaubt, daß man die Emigranten in Frankreich aufnahm (Corsicus wegen der beginnenden Eroberung Corsicas, Atticus, Ciceros vertrautester Freund, Asinius Pollio, Caesars Freund, römischer Feldherr, Gründer der ersten öffentlichen Bibliothek im Tempel der Freiheit), bevor ich auf der Stelle die Flüchtlinge zu meiner Hütte kommen ließ. Kaum hatten sie sich daran gemacht, zu arbeiten, als man Uhren genug hatte, um eine kleine Kiste voll nach Spanien senden zu können. Das ist der Anfang zu einem sehr großen Handel. Mit dieser Post sende ich die Kiste an Monseigneur le duc, damit er sehen kann, wie leicht es ist, eine Kolonie zu gründen, wenn man es aufrichtig will. In drei Monaten können wir genug Uhren haben, um sieben oder acht Kisten damit zu füllen; wir können dann Uhren haben, die würdig sind, in Ihrem Gürtel getragen zu werden, und Homer wird dann nicht mehr der einzige sein, der über diesen Gürtel gesprochen hat.

Voltaire blieb Choiseul auch in seinem Sturz und während seiner Verbannung hartnäckig treu, und nichts konnte ihn bei diesem Anlaß stärker betrüben als das unberechtigte Mißtrauen des Herzogs. Unter all den Tausenden Briefen Voltaires gibt es kaum einen schöneren und männlicheren als den, in dem er sich von Choiseuls Nachfolger die Beschützung seiner Kolonie in solchen Ausdrücken erbittet, daß sich der Brief zu einer Verherrlichung des gestürzten Ministers gestaltet. Man lese den Brief an den Herzog von la Vrillière vom 9. Mai 1771:

Man hatte begonnen, die Stadt zu gründen und der Grund zum Hafen war bereits gelegt, als ungefähr 200 Eingeborene aus Genf ankamen. Einige dieser waren nämlich von den Bürgern ermordet worden. Es sind fast lauter vortreffliche Uhrmacher. Ich nahm mich ihrer an und erbaute Häuser für sie mit einer Geschwindigkeit, die so groß wie mein Eifer war. Der Herzog von Choiseul billigte mein Vorgehen. Seine Majestät gestattete den Handwerkern, ihren Beruf auszuüben, ohne irgendwelche Abgabe zu zahlen. Man versprach auch dem Flecken Ferney alle Rechte, die die Stadt Versoix genießen sollte. Alles, was ich an Geld zur Verfügung hatte, lieh ich denn den Kolonisten; sie arbeiteten. Der Herzog von Choiseul war sogar so großherzig, verschiedene ihrer Uhren zu kaufen. Sie versorgen im Augenblick Spanien, Italien, Holland, Rußland und verdienen dadurch Geld für Frankreich. Die Verhältnisse haben sich ja seitdem geändert; aber ich hoffe, daß sich Ihr Wohlwollen mir gegenüber nicht verändern wird und daß Sie liebenswürdig meine Kolonie beschützen werden, wie sie der Herzog von Choiseul beschützte. Ich verdanke ihm alles. Ich werde bis zum letzten Augenblick meines Lebens von der ehrfurchtsvollen Dankbarkeit durchdrungen sein, die er von mir erwarten darf, und von der Bewunderung, die sein Seelenadel mir eingeflößt hat. Sie billigen meine Gefühle, Monseigneur, Sie haben mehr als irgendeiner ein Interesse daran, daß man nicht undankbar sei.

Selten hat sich wohl ein Mann von sechsundsiebzig Jahren mit so viel Grazie ausgedrückt wie Voltaire der Herzogin von Choiseul gegenüber, und mit solcher Würde und Festigkeit wie derselbe Voltaire in dem Briefe an den Herzog von la Vrillière, mit einer Festigkeit, die doch Wohlerzogenheit und Eleganz in keiner Weise beeinträchtigte.

XIII

Um eine Rehabilitierung der unglücklichen Toulouser Familie zu erwirken, mußte Voltaire zuerst eine Vollmacht der Witwe Jean Calas' haben. Man mußte sie bewegen, aus der Zurückgezogenheit herauszutreten, in der sie lebte, seit sie ihrer Töchter beraubt worden war; man mußte sie überreden, die Reise nach Paris zu unternehmen, wo der Prozeß ohne sie nicht eingeleitet werden konnte.

Zuerst schien Voltaire hier auf einen unüberwindlichen Widerstand zu stoßen. Die arme Frau war so verschüchtert, daß sie sich nur sicher fühlte, wo sie still und verborgen lebte.

Sie war zu niedergedrückt, um einen Kampf gegen das Parlament in Toulouse zu wagen. Sie erwähnte niemals den Namen ihres Mannes, sprach nur immer von dem Verlust ihrer Töchter, deren Wiedervereinigung mit der Mutter zu erstreben Voltaire aber nicht für richtig hielt, so lange der Prozeß zur Ehrenrettung nicht in Gang gesetzt war.

Voltaire stellte es Madame Calas so eindringlich als heilige Pflicht hin, den unschuldig Mißhandelten und Hingerichteten von der Schande zu befreien, die an den Namen Calas geheftet worden war, daß sie in den ersten Tagen des Juni 1762 ihren Mut zusammennahm und nach Paris reiste, wo Voltaire ihr in D'Alembert, Damilaville und seinem eigenen Neffen Abbé Mignot Ratgeber und Freunde gesichert hatte. Da er fürchtete, daß Madame Calas als einfältige Huguenottin nicht in der Lage sein würde, durch persönliches Auftreten Freunde zu gewinnen, hielt er sie vorläufig zurück und ließ sie sich nur selten in der Öffentlichkeit zeigen.

Die Advokaten Elie de Beaumont und Mariette hatten versprochen, den Prozeß zu führen, und aus reiner Begeisterung schlugen sie jedes Honorar aus. Aber sie konnten ihn nicht führen, ohne seine Akten zu kennen; und das Parlament in Toulouse weigerte sich klüglich, ihnen zu erlauben, Abschriften vornehmen zu lassen, verbot außerdem, irgend jemandem Einsicht zu gestatten.

Anfangs hatte Voltaire gehofft, daß sich der Kanzler ohne weiteres die Akten übersenden lassen würde; da das nicht geschah, sah er kein anderes Mittel als die Erregung der öffentlichen Entrüstung. Er schreibt (am 5. Juli 1762) an d'Argental:

Wir fordern ja nichts anderes, als daß man uns sagt, wofür man Calas zum Tode verurteilt hat. Was für ein Schrecken ist nicht solch ein geheimes Urteil ohne Anführung von Gründen! Gibt es eine furchtbarere Tyrannei als willkürlich Blut vergießen zu können, ohne jemandem Rechenschaft dafür zu schulden? – Das ist nicht Brauch, sagen die Richter. – Gut; Ihr Ungeheuer, dann muß das von nun an Brauch werden. Ihr schuldet Rechenschaft für das Blut, das Ihr vergießt!

Das Parlament gab natürlich nicht nach; da aber der Advokat Mariette im August dem Conseil ein Gesuch um Aufhebung des Urteils einreichte, darf man annehmen, daß die Vertrauten Voltaires in Toulouse es verstanden haben, sich die Akten heimlich zur Abschrift zu verschaffen.

Die Familie Lavaysse zeigte sich wenig tapfer. Der angesehene Advokat, der Vater des jungen Lavaysse, weigerte sich, im Namen seines Sohnes seine Zustimmung zu geben, da er dadurch seine Stellung in Toulouse sicher verlieren würde, und er nicht gern wo anders von vorn anfangen wollte. Der junge Lavaysse, der sich unter falschem Namen in Paris aufhielt, ließ sich schließlich von d'Argental bewegen, Mitunterzeichner zu sein.

XIV

Wenn Voltaire bei denen, die sich zu Besuch in Ferney einfanden, Teilnahme für die Familie wecken wollte, die von der französischen Justiz eine so unerhörte Behandlung erfahren hatte, dann stellte er ihnen gern die beiden Söhne Calas vor. Es war Pierre nämlich gelungen, aus dem Dominikanerkloster, wo er gefangen gesessen, zu entweichen und mit seinem jüngeren Bruder in Genf zusammenzutreffen. Voltaire ließ sowohl Pierre wie Donat in Châtelaine bei Les Délices wohnen, und er unterwarf sofort nach der Ankunft Pierre einem vierstündigen Verhör. Er schrieb darüber an Audibert in Paris: »Ich bringe Tage und Nächte damit zu, daß ich an alle diejenigen Briefe schreibe, die ihren Einfluß gebrauchen können, eine Gerechtigkeit zu erlangen, für die sich die Welt interessiert und die mir für die Ehre Frankreichs notwendig scheint. Wir haben Pierre Calas hier. Ich habe ihn vier Stunden hintereinander ausgefragt; ich schaudere und weine. Aber es gilt zu handeln.«

Als Richelieu, wie kürzlich geschildert, auf Besuch bei Voltaire war, stellte der Hausherr Pierre Calas dem Gast vor, und dieser Augenzeuge der Ereignisse verstand es, das Geschehene dem Herzog so zu schildern, daß dieser Mann, der gewiß nicht weich, aber bei allen seinen Fehlern ein grand seigneur war, zu dem jungen Calas sagte: »Sie können auf meinen Einfluß und meine Hilfe rechnen. Da Sie keinen Vater mehr haben, will ich Ihnen ein Vater sein.«

Ehe die Advokaten ihre Aktion begannen, wollte Voltaire nach seiner Gewohnheit die Stimmung durch Flugschriften vorbereiten, deren gemeinsamer Titel ist: Pièces originales concernant la mort des Sieurs Calas et le jugement rendu à Toulouse. Man kann sie in den Bänden seiner Werke unter Mélanges finden.

Die erste Schrift ist ein Auszug aus einem wirklichen Briefe von Madame Calas über das, was an jenem 13. Oktober geschah, von Voltaire nur mit Anmerkungen versehen. Das nächste kleine Aktenstück ist von Voltaire im Namen des jüngsten Sohnes verfaßt und trägt den Titel: Lettre de Donat Calas fils à la Dame veuve Calas, sa mère, datiert 22. Juni 1762. Der Brief ist zugleich rührend und scharfsinnig, rührend durch die Liebe und das Vertrauen, die der Sohn zu seinen Eltern an den Tag legt, scharfsinnig durch die Sicherheit, mit der Wahn und Willkür der törichten Anklage festgelegt werden, um deren willen der Vater gerädert und Friede und Selbständigkeit der Familie zerstört wurden.

Das nächste Stück wieder ist ein Beitrag, dessen Bestimmung war, die religiösen Vorurteile zu überwinden. Der Titel lautet Mémoire de Donat Calas pour son père, sa mère et son frère. Voltaire läßt hier den jungen Calas ohne Verleugnung seiner Konfession jeden Schein, als ob er Glaubenseiferer wäre, vermeiden. Er spricht mit so viel Ehrfurcht von der katholischen Religion, daß katholische Leser die Möglichkeit ins Auge fassen konnten, ihn zu bekehren; er äußert außerdem seine Treue für König und Vaterland mit so viel Wärme, daß jede Möglichkeit, ihn zu einem schlechten Franzosen zu stempeln, abgeschnitten wurde. Das Mémoire war den 22. Juli 1762 datiert.

Vom folgenden Tage ist die in Pierre Calas' Namen geschriebene kluge Deklaration, mit der Voltaire ein doppeltes Ziel verfolgte. Einmal wollte er zeigen, daß es sich hier nicht um das Schicksal eines einzelnen handelte, sondern um die Bedeutung, die für die Allgemeinheit immer darin liegt, daß sie über die Wahrheit aufgeklärt wird. Dann galt es, durch Mäßigung zu gewinnen, nicht gegen das Parlament in Toulouse loszudonnern, sondern das Vertrauen auszudrücken, daß dieses selbst, wenn es hinter seinen Irrtum kam, eifrig für die Genugtuung des Opfers eines Justizirrtums arbeiten würde.

Eine Parallele mit einem englischen Justizirrtum (Elisabeth Cannings Prozeß), der zur rechten Zeit verhindert wurde, diente zum Beweise, welchen Schaden die französische Geheimhaltung der Urteilsgründe, die in England unbekannt war, verursachen konnte. Der Titel ist Histoire d'Elisabeth Canning et des Calas.

Wenn das Tintenfaß nicht existiert hatte, würde Voltaire es gewiß erfunden haben.

Die kleinen Schriften machten in den protestantischen Ländern, England und Norddeutschland, stärkeren Eindruck als anfangs in Frankreich selbst; der Grund lag besonders darin, daß die Regierung Voltaires Feldzug mit größtem Unwillen verfolgte und überall auf die Schrift Pièces originales niederfuhr und ihren Verkauf verbot. Voltaire schrieb: »Man kann bei uns hundert Unschuldige rädern; Paris denkt nur an ein neues Theaterstück und an das Souper danach.« Paris dachte jedoch, wie der Graf von Saint-Florentin es wünschte, und dieser reaktionäre Minister, von dem sich Voltaire einbildete (oder anderen einredete), daß er ihn gewonnen hatte, war natürlich nur darauf bedacht, alles niederzuschlagen, was sich für die Familie Calas aussprach.

Die Eingabe Elie de Beaumonts, die von fünfzehn angesehenen Pariser Advokaten mitunterzeichnet war, beleuchtete die Schwäche der Beweise, denen Jean Calas unterlegen war, und die Ungesetzlichkeit des ganzen Prozesses. Die Advokaten, die der Eingabe beitraten, leugneten, daß jemand auf bloße Indizien hin wegen Mordes an einem Sohn verurteilt werden durfte, und erklärten, selbst wenn man entgegengesetzter Auffassung wäre, konnte Jean Calas dennoch nicht für schuldig erklärt werden. Zum Schluß führten sie aus, daß der Prozeß also wiederaufgenommen werden müßte.

Eine unerwartete Hilfe kam seitens einer geachteten katholischen Nonne. Schwester Anne Julie Fraisse, deren Obhut Nanette Calas anvertraut worden war, um sie zu bekehren, war durch die Mitteilungen des jungen Mädchens von der Unschuld der ganzen Familie überzeugt worden, und da sie in Paris einflußreiche Verbindungen hatte und da Nanette durch die Bestrebungen der Herzogin von Envilles freigelassen worden war, gab sie dem Mädchen einen Brief an den Präsidenten Castanier d'Auriac mit und bat ihn darin, sich der Familie warm anzunehmen. Dieser Brief erregte in Paris großes Aufsehen und zirkulierte in zahlreichen Abschriften.

Inzwischen blieben Voltaires Feinde nicht müßig. Saint James Chronicle brachte einen Brief Voltaires an D'Alembert, in dem nicht nur das Parlament in Toulouse sehr schlecht besprochen, sondern König Ludwig und das französische Ministerium furchtbar geschmäht wurden. Da sowohl der Herzog von Grafton wie der Herzog von Choiseul Voltaire den Artikel schickten, hatte er nur nötig, D'Alembert zu bitten, den Originaltext an Choiseul zu senden, damit dieser sehen konnte, daß man in dem auf der Post angehaltenen und abgeschriebenen Briefe durch Fälschung ein langes Stück eingefügt hatte, das Voltaire schaden und die Sache unmöglich machen sollte.

Daß diese nicht nach Recht, sondern aus politischen Gesichtspunkten heraus entschieden werden würde, wußte jeder, der kein Kind war. Voltaire begriff denn auch sehr gut, daß alles davon abhing, ob die Krone es zurzeit für politisch klug hielt, scharf oder entgegenkommend gegen das Parlament in Toulouse und gegen die Parlamente überhaupt aufzutreten. Das Parlament hatte gegen die Finanzedikte Widerstand geleistet. Aber Voltaire litt unter der Ungewißheit, ob die Krone hier Nachgiebigkeit für politischer halten würde.

Am 7. Mai 1763 bestimmte der Conseil jedoch einstimmig mit 83 Stimmen, daß das Toulouser Parlament die Prozeßakten einsenden sollte. Für Voltaire war das »ein großer Tag im Kalender der Philosophen«.

Das Parlament beantwortete die Aufforderung damit, daß es von Madame Calas 25 Bogen Stempelpapier und einen Vorschuß von 40 Dukaten für die Abschriften verlangte. Sie war gezwungen zu bezahlen. Voltaire schrieb (21. Mai 1763): »Endlich sind die infamen Akten von den infamen Richtern abgeschickt worden. Das Parlament in Toulouse hat zuerst den Mann gerädert, dann die Witwe geschunden … O, welche Schurken!«

XV

In der langen Zeit, die verging, bis das Urteil fiel, schrieb er unter sehr vielem anderen seine gewichtige und wertvolle Schrift Traité sur la Tolérance à l'occasion de la mort de Jean Calas, die streng anonym im Sommer 1763 herausgegeben wurde. Den Freunden teilte er mit, daß sie von »einem gutmütigen Priester« geschrieben sei. Der erste Versuch, einige Exemplare in Paris einzuschmuggeln, wurde nicht vor November, Dezember 1763 gemacht. Die Schrift wurde nur den der Sache Günstigen überbracht oder übersandt, den Herzögen von Choiseul und von Praslin, einigen Mitgliedern des Staatsrates und Madame de Pompadour. Voltaire wußte, daß ein halbes hundert Jahre früher jedes einzelne Exemplar verbrannt worden wäre, und er war zufrieden, wenn das Buch nur von einigen wenigen gelesen wurde, von den einzelnen, die er seine Leser nannte.

Voltaire, der genau wußte, wo sein Publikum einlenkte, geht nicht so weit vorzuschlagen, man solle den Protestanten gestatten, ihren Gottesdienst frei abzuhalten. Er spricht nur prinzipiell für die Toleranz, hält den Franzosen vor: da es Länder gibt, wo Angehörige verschiedener Konfessionen friedlich nebeneinander leben, könnte das auch ohne Schaden für das allgemeine Wohl in Frankreich geschehen. Und er entwickelt nicht nur den Gedanken, daß die Toleranz ungefährlich, sondern daß die Glaubensverfolgung die Frucht des Christentums sei.

Man stellt als Grundregel auf: »Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu,« und man fährt fort: »Glaube, was ich glaube, und was du nicht glauben kannst, oder ich erschlage dich.« In den aufgeklärtesten Ländern begnügt man sich doch zu sagen: »Glaube, oder ich verabscheue dich; glaube, oder ich tu dir Böses, soviel ich kann; du Scheusal! du hast nicht meine Religion, du hast also keine Religion; und so bist du ein Greuel für deine Nachbarn, deine Stadt, deine Provinz!«

Kurze Zeit nach dem Tode Franz I. hatten einige kirchlich gesinnte Mitglieder des Parlaments in der Provence den König um Truppen gebeten, um die Hinrichtung von 19 Ketzern, die das Parlament verurteilt hatte, zu vollziehen; sie kamen; und das Parlament ließ durch sie 6000 Menschen niedermachen, ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter; sie büßten dafür, daß sie Waldenser waren, in der Provinz Vaux geboren und dreihundert Jahre in einer unfruchtbaren Berggegend gelebt hatten, die sie urbar machten. Sie lasen frei in der Bibel und folgten der Bergpredigt. Andere Sünden hatten sie nicht begangen.

Voltaire weist darauf hin, wie tolerant sich Chinas Zivilisation gezeigt hat; wie äußerst selten Fälle religiöser Intoleranz im alten Griechenland gewesen sind, schließlich daß das Römische Reich, so mächtig und ausgedehnt es war, stets duldsam war, bis das Christentum seinen Einzug hielt. Cicero zweifelte an allem, Lucretius leugnete alles; niemand machte ihnen deshalb die geringsten Vorwürfe. Wo er von der Hölle spricht, sagt Cicero: Non est anus tam excors qui credat (Kein altes Weib ist so blödsinnig, daran zu glauben), Juvenal sagt darüber: Nec pueri credunt (Nicht einmal Knaben glauben etwas davon), der Senat und das römische Volk stellten das große Prinzip auf: Deorum offensæ diis curæ (Laßt Schmähungen der Götter die Sache der Götter sein). Noch weit später, als Paulus in Korinth von den anderen Juden vor dem Landeshauptmann von Achaja angeklagt wurde, antwortete Gallion: »Wenn es ein Frevel oder Schalkheit wäre, so hörte ich euch billig; weil es aber eine Frage ist von der Lehre und von den Worten und von dem Gesetz unter euch, so sehet ihr selber zu; ich gedenke, darüber nicht Richter zu sein.«

Voltaire versucht, seinen religiösen Lesern zu erklären, daß sich der Aberglaube zur Religion verhält wie die Astrologie zur Astronomie, und nichts anderes ist als eine verrückte Tochter einer sehr verständigen und würdigen Mutter. Er behauptet, daß weder große Kunst noch Beredsamkeit erforderlich sind, um zu beweisen, daß die Christen untereinander Duldsamkeit erweisen sollten: »Ja, ich gehe weiter; ich sage euch, daß man alle Menschen als seine Brüder betrachten soll. – Wie! Ein Türke sollte mein Bruder sein? Ein Chinese mein Bruder? Ein Jude? Ein Siamese? – Ja, ohne Zweifel. Sind wir nicht alle Kinder desselben Vaters und Geschöpfe desselben Gottes?«

Es ist bezeichnend, daß unter dem vielen, das während der Reaktion nach der französischen Revolution die Wut gegen Voltaire erregte, vor allem seine Verkündigung der Toleranz war. Diese Verkündigung wurde als besonders teuflisch aufgefaßt und paßte zum unglaublichen Bild, das Joseph de Maistre von ihm in Quatrième Entretien des Soirées de Saint-Pétersbourg entwirft: »Mit einem Wahnsinn ohnegleichen nannte sich dieser unverschämte Gotteslästerer den persönlichen Feind des Heilands … Andere Zyniker haben die Tugend in Verwunderung versetzt, er das Laster. Er tauchte in den Schlamm, wälzte sich darin, tat sich darin gütlich; seine Einbildungskraft begeisterte sich für die Hölle, die ihm die Kräfte lieh, sich bis an die Grenze des Bösen zu schleppen.«

Oder man lese, in welchem Tone Emile Faguet noch 70 Jahre später es zu einer Lüge Voltaires machen will, daß das Altertum tolerant gewesen sei. Man verfolge, mit welcher Leidenschaft er die wenigen Beispiele religiöser Unduldsamkeit im alten Hellas hervorhebt, die sich mit der christlichen Intoleranz vergleichen ließen. Gerade als ob Voltaire versucht hätte, die Verurteilung des Sokrates zu verschweigen! Und welches Wesen macht Faguet nicht aus seinen Ungenauigkeiten! Es war nur natürlich, daß Voltaire einen Kaiser wie Julian eher als Rationalisten denn als Mystiker betrachtete; doch auch Julian war kein Verfolger. Und in ihrem Pantheon überließen die Römer Plätze einer überraschenden Anzahl von Göttern.

Mit der steigenden Reaktion gegen Voltaire im 19. Jahrhundert wurde auch sein Grundgedanke, die Toleranz, zu etwas Verabscheuenswertem, Verwerfbarem gemacht. In der dänischen Literatur feuert in der Mitte des Jahrhunderts Frederik Paludan-Müller die folgende Salve ab in seinem Ahasverus:

Du mit der Toleranz, dem Trank,
Der süßlich ist, nicht kalt, nicht heiß,
Den, wer das Kräftige zu schätzen weiß,
Vor Ekel wieder von sich speit.

Hier wie bei Joseph de Maistre ist der Lügner Antichrist der Verteidiger der Duldsamkeit und der Vertreter Voltaires.

Das ganze Credo des Voltaireschen Deismus liegt in dem Schlußgebet, in das die anonyme Schrift über die Toleranz mündet:

Ich wende mich daher nicht mehr an die Menschen, sondern an Dich, Gott aller Wesen, aller Welten, aller Zeiten. Wenn es schwachen Geschöpfen, die in dem unermeßbaren Ganzen verloren sind und nicht vom Rest des Weltalls getrennt werden können, erlaubt ist, wenn es ihnen zugestanden ist, Dich um etwas zu bitten, Dich, der alles gegeben hat, Dich, dessen Bestimmung unveränderlich, ewig ist, so halte uns Deines Mitleids mit den Irrtümern für wert, die mit unserer Natur zusammenhängen! Daß unsere Irrtümer kein Unglück über uns bringen! Du hast uns kein Herz gegeben, einander zu hassen, keine Hände, um einander umzubringen. Gib, daß wir uns gegenseitig helfen, die Last eines schmerzlichen und vergänglichen Lebens zu tragen! Laß die geringen Unterschiede in der Kleidung, die unsere gebrechlichen Körper verhüllt, in unserer unzureichenden Sprache, in unseren lächerlichen Gebräuchen, in unseren unvollkommenen Gesetzen, unseren törichten Ansichten, unserer Stellung in der Gesellschaft, die uns so verschieden scheinen, Dir aber so gleich, laß all die geringen Unterschiede, die die Atome, die Menschen heißen, voneinander trennen, nicht Signale zum Haß und zur Verfolgung sein! …

Möchten sich alle Menschen erinnern, daß sie Brüder sind! Möchten sie alle die Vergewaltigung der Seelen verabscheuen, wie sie die Räuberei verabscheuen, die die Arbeit und den friedlichen Fleiß ihrer Früchte beraubt! Sollte das Unglück des Krieges unvermeidlich sein, so laß uns wenigstens nicht im Schoße des Friedens einander hassen und zerreißen, und laß uns den Augenblick, den wir zu leben haben, benutzen, in tausend Sprachen gleichmäßig Deine Güte zu segnen, die uns diesen Augenblick geschenkt hat!

XVI

Gegen welche Gefühllosigkeit für das Leiden anderer und gegenüber dem ganzen barbarischen Strafsystem Frankreichs Voltaire hierbei anzukämpfen hatte, zeigt der Umstand, daß mit Ausnahme von La Bruyère, dessen Auslassungen in der Ouverture angeführt sind, nicht ein einziger der ersten Geister Frankreichs in dem sogenannten großen siebzehnten Jahrhundert sich gegen die Dummheiten und den Wahnsinn in der Strafgesetzgebung ausgesprochen hat.

Sogar die Folter findet man so natürlich, daß die größten, berühmtesten Dichter über sie scherzen, während der mehr als anderthalb Jahrhundert ältere Shakespeare sie entschieden verdammt, wenn er Portia im Kaufmann von Venedig sagen läßt:

auf der Folter,
Wo sie, gezwungen, sagen, was man will.

Molière läßt seinen Geizhals im vierten Akt, siebente Szene von L'Avare, als er Geld vermißt, ausrufen:

Ich werde das Gericht holen. Meinen ganzen Hausstand lasse ich auf die Folter spannen, Mägde, Diener, Sohn, Tochter und – mich selbst dazu.

Bei Racine ein entsprechender spaßhafter Dialog in Les Plaideurs (III. 4):

Daudin: N'avez vous jamais vu donner la question?
Isabelle: Non, et je ne le verrai, que je crois, de ma vie.
Daudin: Venez, je vous en veux faire passer l'envie.
Isabelle: Hé, monsieur! peut-on voir souffrir des malheureux?
Daudin: Bon! cela fait toujours passer une heure ou deux.

Im Jahre 1663 war ein gewisser Simon Morin durch Urteil des Pariser Parlaments lebendig verbrannt worden, weil er sich in religiösem Wahnsinn für Jesus Christus gehalten hatte. Nicht ein Schriftsteller im Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten erhob seine Stimme gegen ein solches Urteil, ja, kein Werk des sogenannten großen Jahrhunderts enthält eine Anspielung auf den Prozeß.

Von dem Augenblick an, da hundert Jahre später Voltaire mit seinem Anhang versuchte, das Prinzip der Menschlichkeit in der Rechtspflege zur Geltung zu bringen, erhoben sich der ganze Klerus und alle Kirchengläubigen gegen ihn. Nicht ein französischer Priester und nicht ein Frommer Frankreichs rührten einen Finger für die Familie Calas oder gaben einen Sou für den Unterhalt der Familie, die infolge der Handhabung der französischen Gerechtigkeit dastand, entblößt, von allem, sogar vom täglichen Brot. Und das ist um so merkwürdiger, als die niedere Geistlichkeit, die den Verbrecher zur Richtstätte begleitete, ja, ihm aufs Schafott folgte, besser als jeder andere wußte, was die Opfer dieser Rechtspflege litten.

Die Masse der Bevölkerung nahm niemals Anstoß an einer Strafe, wenn sie nur grausam war. Sie verwarf nicht eine einzige Art der Strafe als unmenschlich, dagegen konnte es auf dem Grève-Platz zu Tumulten kommen, wenn die Volksmasse etwas zu hart im Verhältnis zu dem Vergehen fand, wie im Oktober 1770, als zwei Brüder Cardon gerädert wurden, weil sie im Walde von Vincennes einen Mann überfallen und ihm eine Summe von 15 Francs geraubt hatten, oder wie noch im Jahre 1783, als ein Dienstmädchen wegen eines einfachen Hausdiebstahls gehängt wurde.

Diderot hat behauptet (in Jacques le Fataliste III), daß die Bevölkerung nur aus Neugier, nicht aus Grausamkeit zu allen Hinrichtungen strömte; er meint, sie ließ sich von dem Sehenswerten auf dem Schafott und dem Stoff, den man dort für spätere Unterhaltungen sammelte, anlocken. Voltaire selbst hat sich mehrfach dahin ausgesprochen, daß nach seiner Überzeugung nicht reine Schaulust, sondern gleichgültige Neugier die Triebfeder war. Er erwähnt die oben angeführte Stelle aus Les Plaideurs, als Daudin der jungen Isabelle vorschlägt, ihr zu zeigen, wie man auf der Folter gemartert wird, »das vertreibt einem immer eine oder zwei Stunden«. Er weiß jedoch sehr gut, welche Anziehung der Anblick von Leiden auf seine Landsleute ausübte. Man vergleiche im Dictionnaire philosophique den Artikel Curiosité:

Wenn die Folter ein öffentliches Schauspiel wäre, so wäre die ganze Stadt Toulouse zweimal hinzugeeilt, um den ehrwürdigen Calas auf Verlangen des Generalanwalts die abscheulichsten Qualen aushalten zu sehen. Weiße Bußprediger, graue und schwarze Bußprediger, Frauen, Kinder, Mädchen, Dichter, die von der poetischen Akademie in Toulouse gekrönt worden, öffentliche Frauenzimmer, Studenten, Lakaien, Dienstmägde, Doktoren des kanonischen Rechts, alle wären sie gekommen. Ebenso würde man sich auch in Paris zerquetscht haben, um zu sehen, wie man den unglücklichen General Lally mit einem sechs Zoll langen Knebel im Mund in einer Karre zur Richtstätte schleppte.

Wenn aber diese Tragödien für Kannibalen, die man gelegentlich für die leichtsinnigste und in allem, was die Grundsätze der Gerechtigkeit betrifft, unwissendste Nation aufführt, zu oft gespielt, wenn man diese Schauspiele, die Tiger für Affen geben, wie St. Bartholomäus und seine Wiederholungen im kleineren Maßstabe, täglich aufführte, dann würde man ein solches Land bald verlassen; voller Entsetzen würde man es fliehen; man würde niemals in dieses Land der Hölle zurückkehren, in dem eine derartige Barbarei vorkomme.

Voltaire drückt dasselbe fast noch stärker in einem Briefe an den dem Ketzertod entgangenen d'Etallonde de Morival aus, den Friedrich der Große auf seine Verwendung hin in seine Dienste genommen hatte (26. Mai 1767): »Unsere Nation ist leichtfertig, aber sie ist grausam. Es gibt in Frankreich vielleicht sieben- oder achthundert Personen der guten gebildeten Gesellschaft, die Blüte der Nation, durch die sich die Fremden täuschen lassen. Unter diesen wenigen gibt es immer zehn oder zwölf, die mit Erfolg eine Kunst pflegen. Und so beurteilt man die Nation nach diesen und läßt sich vollkommen irreführen. Unsere alten Priester und Beamten sind genau wie die Druiden des Altertums, die Menschen opferten; die Gebräuche ändern sich nicht.«

Hätte Montesquieu nach der Deklaration von 1757 noch gelebt, dann hätte er wegen unerhörter Gotteslästerung, die sich gegen den Papst und gegen das Abendmahl richtete, zu schwerer Strafe verurteilt werden können. Es ist jedoch nicht sicher, daß er wirklich verurteilt worden wäre; es ging nämlich nach dem Ansehen der Person. Was die Literatur betrifft, so herrschte überhaupt die wildeste Inkonsequenz. Obgleich sowohl Helvetius' De l'Esprit wie Rousseaus Emile vom Henker verbrannt worden waren, lagen sie in allen Pariser Schaufenstern zum Verkauf aus. In der Regel verbrannte nämlich der Henker überhaupt kein wirkliches Exemplar des Buches, das verurteilt worden war; das Exemplar behielt eins der Parlamentsmitglieder, die das Buch zu Scheiterhaufen und Feuer verdammt hatten; der Henker verbrannte tatsächlich wertlose Papiere, alte Bibeln oder Dokumente aus alten Rechtsfällen. Inmitten der offiziellen Barbarei gab es allerlei Komödie und Humbug, wie in Rußland unter dem Zaren.

Im letzten Absatz seines Buches über die Toleranz erwähnt Voltaire einen Brief, den er aus Toulouse erhalten habe, worin ihm damit gedroht werde, daß seine Schrift durch Parlamentsurteil öffentlich verbrannt werden wird. Er antwortete, daß ihm das gleichgültig sei. »Denn diese Schrift über die Toleranz ist eine Bittschrift, die im Namen der Menschheit in Demut an die Mächtigen der Erde gerichtet wird. Sie ist nur ein Saatkorn; aber einmal wird sie zur Ernte reifen.«

XVII

Im Jahre 1762 verordnete das jansenistische Pariser Parlament die Einziehung aller dem Jesuitenorden gehörenden geistlichen Güter zur weltlichen Verwendung und ein königliches Edikt vom November 1764 vertrieb die Jesuiten aus Frankreich. Dieser Sieg, den die Parlamente über die Jesuiten gewannen, machte sie jedoch übermütig und bestärkte sie in ihrem Widerstand gegen die Anerkennung von Steuerverordnungen, die teure Kriege für die Krone notwendig gemacht hatten. Besonders gefährlich war es für die Krone, daß die Parlamente begannen, nach einer Vereinigung, einer gemeinschaftlichen Organisation zu streben.

Das Jahr 1764 brachte endlich die Entscheidung des Conseils in der Angelegenheit Calas. Im Jahre vorher waren wieder Deputierte aus Toulouse nach Paris gekommen, um die drohende Aufhebung des Urteils zu verhindern. Jetzt aber hatte der Conseil keinen Grund zur Rücksichtnahme mehr; denn inzwischen war das Parlament in Toulouse zum offenen Widerstand gegen die Regierung vorgegangen. Als der König im September 1763 den Herzog von Fitz-James als königlichen Kommissar nach Toulouse gesandt hatte, um die Anerkennung der Finanzedikte durchzusetzen, hatte das Parlament als Antwort einen Haftbefehl gegen den Herzog ausgestellt. Ja, sein Leben schien bedroht, so daß er sich durch die Flucht rettete.

Aber damit hatte sich das Parlament in Toulouse sogar das Wohlwollen des Pariser Parlaments verscherzt. Denn dieses war ein Pairgericht, und kein anderer Gerichtshof im Lande durfte sich die Macht anmaßen, einen Pair von Frankreich anzuklagen oder gefangen zu setzen. Am Hofe betrachtete man diese Dreistigkeit des Toulouser Gerichts als eine dem ganzen französischen Adel zugefügte Kränkung, und die Mitglieder des Conseils, die es mit dem Hofadel hielten, ergriffen die Gelegenheit zur Vergeltung am Parlament in Toulouse.

Der Referent des Staatsrats für Bittschriften, Herr de Fargès, verlangte das Toulouser Parlament wegen seines ungerechten und barbarischen Verfahrens im Prozesse Calas zur Rechenschaft gezogen, und als er vom Conseilpräsidenten aufgefordert wurde, so starke Ausdrücke zurückzunehmen, erklärte er, daß er für seine Worte einstehe; der Fall läge nicht so, daß Anlaß zur Rücksichtnahme vorläge.

Nach Untersuchung der Beschaffenheit der Akten kassierte nun der Conseil wegen Gesetzesübertretung sowohl das Urteil der Capitoule vom 18. November 1761 wie die Urteile des Toulouser Parlaments vom 9. und 18. März 1762. Dadurch, daß der Conseil den Fall den Staatsratsreferenten überwies anstatt eine Revision zu fordern, fügte er auch den übrigen Parlamenten einen Schlag zu; denn dadurch wurden Zweifel an ihrer Unparteilichkeit ausgedrückt. Daß das Parlament den Spruch als gröbste Kränkung auffaßte, versteht sich von selbst. Voltaire empfing einen Schwarm von anonymen Briefen, in denen alle Mitglieder der Familie Calas für schuldig erklärt wurden und deren Schreiber bedauerten, daß man sie nicht alle gerädert hätte, dann aber einen anderen Schwarm von Briefen, die solche Drohungen gegen ihn enthielten, der in der Öffentlichkeit – nicht mit Unrecht – als Urheber der ganzen Bewegung galt, daß er froh war, sich nicht im Gerichtsgebiet von Toulouse und in der Gewalt des Toulouser Parlaments zu befinden.

XVIII

Als der Prozeß vor das Gericht der Staatsratsreferenten kam, war es möglich, alle für die Unschuld der Familie Calas sprechenden Zeugnisse vorzubringen, die verbrecherischerweise zurückgehalten worden waren. Von vielen Seiten wurde nun bezeugt, welch gerechter, milde denkender Mann der alte Calas gewesen, welches schöne Familienleben im Hause geführt worden war, wie Marc-Antoine bis zur letzten Stunde als übereifriger Calvinist aufgetreten sei. In einem vorgelegten Briefe aus dem Jahre 1761 klagte er sogar seinen Bruder Louis als abtrünnig an.

Voltaire selbst nahm noch einmal das Wort. Wenige Tage, nachdem das Urteil gefällt worden war, erschien öffentlich als Flugschrift in Paris sein schöner Brief an Damilaville (vom 1. März 1765), aus dem einige Sätze über den ersten Eindruck von Donat Calas angeführt worden sind. Der Brief durchläuft noch einmal mit außerordentlicher Beredsamkeit und Klugheit die ganze Angelegenheit vom ersten Keim, und verbindet sie mit der ähnlichen gegen die Familie Sirven, mit der wir uns noch nicht beschäftigen konnten.

Bereits im Februar 1765 war David de Beaudrigue abgesetzt worden. Der Vorwand war eine Eigenmächtigkeit, der er sich schuldig gemacht hatte. Schon im März desselben Jahres wurde das Urteil gefällt.

Am 28. Februar hatten sich alle Mitglieder der Familie Calas als Gefangene in der Conciergerie gemeldet, wo Damilaville ihr ständiger Tröster war.

Jean Calas wurde als unschuldig erkannt und erhielt eine Genugtuung, Madame Calas, Pierre Calas, Lavaysse, Jeanne Viguier wurden vollkommen freigesprochen.

Voltaire weinte Freudentränen, als er in Ferney die Nachricht erhielt, und er umarmte den jungen Donat Calas, der gerade bei ihm war. Er meinte, niemals eine reinere Freude gefühlt zu haben, und er hatte wohl auch niemals einen deutlicheren Sieg für die Menschlichkeit gewonnen. Noch ehe er die Einzelheiten des Urteils kannte, schrieb er einen schönen, ehrerbietigen Brief an Madame Calas (ohne Datum, aber vom 14. oder 15. März).

Man sah davon ab, Schadenersatz von den Richtern in Toulouse zu verlangen, und auch Voltaire ließ diese Forderung fallen. Man fürchtete die Rache, die sie dann an der Familie Calas nehmen würden. Auch die Krone fand es nicht politisch, so weit zu gehen. Das Pariser Parlament hatte dem Freispruch alle denkbaren Hindernisse in den Weg gelegt. Der Maler Carmontelle hatte eine Zeichnung der Familie Calas in der Conciergerie gemacht, und als Grimm sie in Kupfer hatte stechen lassen, um sie zum besten der Familie zu verkaufen, verbot das Parlament aufs strengste den Verkauf, obgleich das gesetzeswidrig war, da Grimm das Privilegium dazu erhalten hatte. Der Grund war, daß dadurch die ketzerische Sache der Protestanten gefördert werden könne. In Toulouse wurde das Urteil der Staatsratsreferenten nicht einmal angeschlagen. Doch dies war ja eine leere Demonstration.

Zum erstenmal, seit der Fanatismus raste, hatte, wie Voltaire schrieb, die Stimme der Weisen die Stimme der Frommen zum Schweigen gebracht.

Natürlich blieb man dabei, überall die Schuld der angeklagten Familie zu behaupten, ja man behauptete sogar, daß Voltaire selbst im Stillen von ihrer Schuld fest überzeugt war. Das wiederholte sich genau in den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts im Dreyfus-Prozeß, wo die Schuld des unschuldig Verurteilten aufs heftigste behauptet und der gute Glaube seiner Verteidiger bezweifelt wurde.

Wie zu erwarten war, machte sich Fréron am eifrigsten geltend. Er gab vor, einen Brief von »einem protestantischen Philosophen« mit der Bitte um Aufnahme in seine Zeitschrift erhalten zu haben ( L'Année Littéraire 1765, Band III, 146); keiner, behauptet er, habe um das Schicksal der unglücklichen Familie mehr getrauert als er, aber es komme auf eine Wertung der schönen Schlußfolgerungen des Herrn de Voltaire an.

In Wirklichkeit war der Briet voller Zweifel an der Unschuld der Familie Calas und enthielt eine Art Verteidigung der Behörde in Toulouse, setzte nach bestem Vermögen die Verdienste Voltaires in der Angelegenheit herab und beleidigte ihn aufs herzlichste. »Unter diesen Umständen«, schrieb Fréron, »ist es Herrn de Voltaire in seinem Poetenkopf heiß geworden. Ihn hat nicht so sehr das Gefühl der Menschlichkeit hingerissen wie der Drang, sein Dasein wieder in Erinnerung zu bringen und etwas zu tun, damit die Leute von ihm sprechen.«

»Man muß der erbärmlichste Wicht sein«, schrieb Grimm ( Correspondance littéraire 1. Oktober 1765), »um die Unschuld einer so grausam mißhandelten Familie anzugreifen, nur weil zu ihren Verteidigern ein Mann zählt, den herabzusetzen man ein Interesse hat.«

Voltaire brauchte Fréron nicht selbst zu antworten. Andere antworteten für ihn. Einer von diesen, der Marquis d'Argens, Brigadier im königlichen Heer, regte sich über die Gemeinheit des Journalisten so auf, daß er an Voltaire einen Brief über Fréron schrieb und drucken ließ, über den Grimm sagt, daß jeder Mann, der nicht den letzten Funken Ehrgefühl verloren hatte, nachdem er ihn gelesen, den Schreiber entweder niederschlagen oder von dessen Hand sterben müsse. Fréron rührte sich natürlich nicht.

Um dieselbe Zeit wurde diesem eine schimpfliche Kränkung von einer Frau zuteil, die er beleidigt hatte. Ein Kritiker, wie Fréron, würde ja nicht vollkommen gewesen sein, wenn ihm die geschlechtliche Reinheit nicht stark auf dem Herzen gelegen hätte. Er haßte die Schauspielerin Mademoiselle Clairon, weil er ihre Freundschaft zu Voltaire kannte, pries also eine andere Schauspielerin Mademoiselle d'Oligny wegen ihres züchtigen Lebenswandels mit derartigen Anspielungen auf eine andere Schauspielerin, deren Jugendleben unkeusch gewesen war, daß er die Clairon deutlich bezeichnete. Alle Schauspieler nahmen für ihre Kameradin Partei und wandten sich ihretwegen an den Marschall von Richelieu, der sich wieder an den König wandte, und dieser setzte für Fréron eine harte Gefängnisstrafe fest. Er stellte sich jedoch krank und bettlägerig, als die Polizei ihn holen wollte, benutzte die Frist, um die klerikale Königin anzurufen und erlangte es, daß diese ihn »wegen seiner Frömmigkeit und seines Eifers im Kampf gegen die Philosophen« begnadigte.

Seine vorletzte Handlung gegen Voltaire war die Herausgabe des sogenannten Kommentars von La Beaumelle zur Henriade, in der in Wirklichkeit einige Gesänge vollständig umgeschrieben und nach der Behauptung des Verfassers verbessert waren. Diese freche Fälschung rief verschiedene Verteidiger Voltaires in die Arena, so den jungen François de Neufchâteau, der sich Voltaires Autorisation erbat, »diese Kanaille auf Tod und Leben zu verfolgen«. Voltaire war nun jedoch diesen Angriffen gegenüber endlich gleichgültig geworden, antwortete nicht selbst und bat mit Dank für die Teilnahme Neufchâteau, von jedem rechtlichen Schritt abzusehen.

Frérons letzte Handlung gegenüber dem Manne, den er ein Menschenalter hindurch verfolgt hatte, erfolgte, als man Voltaire zu Lebzeiten noch eine Statue errichten wollte; der Kritiker bat, einen Beitrag senden zu dürfen. Er erhielt eine Absage.

Als er 1776 gestorben war, schrieb die Witwe mit köstlicher Dreistigkeit an Voltaire und bat ihn, Frérons Tochter zu adoptieren, wie er auch Corneilles adoptiert hatte. Voltaire fand den Vergleich zwischen Corneille und Fréron nicht treffend genug.

XIX

Unmittelbar im Anschluß an sein Werk über die Toleranz schrieb Voltaire seine originelle und witzige Fabel Gespräch zwischen einem Kapaun und einer Poularde (1763), die das Vorbild für eine Unmenge von Gesprächen zwischen Tieren geworden ist. Dessen einfacher Sinn ist: die Menschen sind grausame Bestien. Sie behandeln die Hühner so herzlos wie die Menschen, entmannen die Männchen, nehmen den Weibchen die Gebärmutter, blenden, mästen, schlachten, braten Tiere aus Rücksicht auf ihren verwöhnten Gaumen, wie sie aus haßerfülltem Fanatismus Menschen quälen, martern, rädern und aufs Rad flechten. Ihr Gefühl für die Tiere ist das gleiche wie für ihre Nächsten. Die Fabel fängt an:

Kapaun:

Mein Gott, kleine Henne, wie traurig siehst du aus! Was fehlt dir?

Poularde:

Lieber Freund, mir fehlt und mangelt nur allzu viel. Eine verfluchte Dienstmagd nahm mich auf die Knie, jagte von hinten her eine lange Nadel in mich hinein, bohrte sie in die Gebärmutter, rollte diese um die Nadel, zog sie heraus und warf sie der Katze hin, die sie auffraß. Jetzt kann ich mich bei den Liebesbeweisen des Hahnes nicht mehr freuen und kann keine Eier mehr legen.

Kapaun:

Ach, du Gute! Ich habe mehr als du verloren. Mit mir haben sie eine noch grausamere Operation vorgenommen. Keiner von uns kann in dieser Welt noch Trost finden. Dich haben sie zur Poularde gemacht, mich zum Kapaun. Der einzige Gedanke, der meinen bedauernswerten Zustand etwas mildert, ist der, daß ich an einem dieser Tage gerade am Hühnerhof ein Gespräch zwischen zwei italienischen Abbés mit anhörte, denen man dieselbe Schmach wie uns zugefügt hatte, damit sie eine hellere Stimme bekämen, wenn sie vor dem Papst sangen. Sie sagten, die Menschen hätten begonnen, einander zu beschneiden und endeten damit, sich gegenseitig zu kastrieren. Sie verfluchten das Schicksal und die Menschheit.

Poularde:

Wie? Damit wir eine hellere Stimme bekommen, beraubt man uns also unserer edelsten Teile?

Kapaun:

Ach, du arme Poularde, uns will man fett machen und unser Fleisch soll im Geschmack feiner werden.

Poularde:

Was heißt das? Wenn wir fetter werden, werden sie es denn auch?

Kapaun:

Ja, denn sie haben die Absicht, uns zu essen.

Poularde:

Uns zu essen! Die Ungeheuer!

Kapaun:

Das ist ihre Gewohnheit. Sie setzen uns auf einige Zeit in ein Gefängnis, lassen uns einen gewissen Teig schlucken, den sie auf eine Weise herstellen, die ich nicht kenne, stechen uns die Augen aus, damit wir uns nicht zerstreuen lassen, sondern nur futtern, und wenn endlich der Festtag kommt, reißen sie uns die Federn aus, schneiden uns den Hals durch und lassen uns braten. Wir werden für sie auf einer großen Silberschüssel angerichtet; jeder von ihnen sagt, was er von uns denkt, hält Trauerreden über uns. Der eine sagt, daß wir wie Nußkerne riechen, der andere preist unser saftiges Fleisch. Man lobt unsere Keulen, unsere Flügelknochen, unser Hinterteil, und damit ist unsere Geschichte in diesem Erdenleben für immer zu Ende.

Poularde:

Was für abscheuliche Schurken! Ich werde fast ohnmächtig. Wie! Man will mir die Augen ausreißen! Man will mir den Hals abschneiden! Ich soll gebraten und gegessen werden! Dieses Verbrecherpack kennt also kein Gewissen?

Kapaun:

Nein, meine Freundin, die beiden Abbés, die ich erwähnte, sagten, die Menschen machten sich niemals ein Gewissen bei dem, was sie aus Gewohnheit tun.

Der Prozeß um Calas, dessen Ruf über die Erde ging, hatte zwar nicht zur Folge, daß die Protestanten in Frankreich gleiches Recht mit den Katholiken erhielten. Aber Jean Calas war der letzte französische Protestant, den katholischer Fanatismus auf das Schafott brachte.

Die Familien Calas und Sirven sind die beiden berühmtesten Fälle, in denen Voltaire einschritt.

Doch in nicht wenigen anderen Fällen wurde er der Retter, ohne daß er dafür Beachtung erntete.

So gelang es ihm, im Jahre 1764 Claude Chaumont zu befreien, der auf der Galeere saß, weil er das Verbrechen begangen hatte, einem protestantischen Gottesdienst beizuwohnen. Der Herzog von Choiseul schritt hier auf Voltaires Fürsprache ein, konnte jedoch bei weitem nicht so viele befreien, wie er wünschte, da er Rücksicht auf den königlichen Hausminister nehmen mußte, den Grafen von Saint-Florentin, dessen Rechtgläubigkeit jede Probe bestand. Doch glückte es Voltaire noch, den Protestanten Paul Achard zu befreien, der neunzehn Jahre auf der Galeere zugebracht hatte, und den oben besprochenen Jean Pierre Espinas, der dreiundzwanzig Jahre dort zugebracht hatte, weil er einen protestantischen Pfarrer einen Abend und eine Nacht beherbergt hatte. Was Espinas an Vermögen besessen, war eingezogen worden mit Ausnahme eines Drittels, das unter seinen Verwandten verteilt worden war. Nach Espinas Befreiung setzte Voltaire es 1766 durch, daß seine Familie die Zinsen seines ganzen Vermögens als Jahresgehalt ausgezahlt erhielt. Die letzten Hugenotten, die noch auf den Galeeren ruderten zur Strafe, weil sie einem protestantischen Gottesdienst beigewohnt hatten, vermochte der Standhafte erst 1775, ein paar Jahre vor seinem Tode zu befreien, unter der Regierung des folgenden Königs, als sein Schüler Turgot Minister geworden war.

XX

Der Prozeß Calas war noch im Gange, als zu allem Unglück noch ein Fall derselben Art auftauchte und es Voltaire erschwerte, das Interesse um den erst eingeleiteten Prozeß zu sammeln. Er war ja nun die Stelle geworden, zu der alle Klagen über den Fanatismus des Richterstandes und Notschreie aller ungerecht Verurteilten drangen.

Die Familie Sirven war wie die Familie Calas angeklagt worden, und man versuchte, beide Fälle zu verbinden, um der Bevölkerung die Überzeugung beizubringen, daß die Protestanten jedes ihrer Kinder ermordeten, das zum Katholizismus neigte und damit umging, die Religion zu wechseln. Daß die Unschuld der Familie Sirven offenbar für jeden war, der gesunden Verstand hatte, machte die Angelegenheit für Voltaire nicht leichter. Im Gegenteil, sie bot so große Schwierigkeiten, daß Sirvens Freisprechung neun Jahre seines Lebens beanspruchte, während die Genugtuung für Calas nur drei erfordert hatte.

Pierre Paul Sirven in der Stadt Castres in Languedoc, gehörte zu den angesehensten Familien der Provinz. Er war verheiratet und hatte drei Töchter. Von Beruf war er Landmesser und Feudiste, d. h. er hatte das Amt, die Lehnsverzeichnisse in Ordnung zu halten, in denen das Inventar und die Steuerabgaben der Gutsbesitzer aufgeführt waren. Die älteste Tochter hatte einen gewissen Périer geheiratet; Elisabeth und Jeanne waren unverheiratet.

Am 6. März 1760 verschwand die Tochter Elisabeth, die etwas schwachsinnig war, und die der geringste Vorfall außer Fassung brachte, plötzlich aus dem Hause. Bei ihrer Hilflosigkeit war sie stets Gegenstand der besonderen Sorge der Eltern gewesen. Der Tag verging mit vergeblichem Suchen. Am Abend wurde der Vater zum Bischof von Castres gerufen, der ihm mitteilte, Elisabeth hätte dem Bischof ihren brennenden Wunsch erklärt, die Religion zu wechseln und daß er sie deshalb in das Kloster der Schwarzen Damen gegeben habe, damit sie dort den Unterricht bekäme, den sie ersehnte. Der Vater verstand sofort, daß seine Tochter unter dem Einfluß einer glaubenseifrigen Schwester des Bischofs gehandelt hatte. Er antwortete mit großer Zurückhaltung, daß er bisher keine Ahnung von dem Wunsche Elisabeths gehabt habe, den katholischen Glauben anzunehmen. Dieser Wunsch schmerzte ihn natürlich, aber er glaubte nicht das Recht zu haben, sich ihm zu widersetzen; er wußte ja auch, daß sie in gute Hände gekommen war.

Der Klosteraufenthalt verschlimmerte den Zustand der jungen Schwachköpfigen noch mehr; sie gab bald Zeichen vollkommener Geisteszerrüttung von sich. Sie hatte Wahngesichter, sprach mit Engeln, riß sich in Askese alle Kleider ab, bat, daß man sie peitschte, um Buße zu tun. Die Dienstmagd im Kloster gab ihr einige Hiebe, worauf sie schrie, sie wollte keine mehr haben. Ihr Zustand besserte sich so wenig, daß man sie auf Befehl des Bischofs nach siebenmonatigem Aufenthalt im Kloster wieder nach Hause schickte. Sie trug dann auf dem Körper die Spuren der erhaltenen Schläge. Anfälle von Wahnsinn wurden häufiger und gingen manchmal in Wutausbrüche über, so daß man gezwungen war, sie zu bewachen oder sie festzuschnallen.

Doch als dies ruchbar wurde, machte man daraus Mißhandlung und unberechtigte Freiheitsberaubung, und die Schwarzen Damen zeigten deshalb Sirven bei dem Intendanten der Provinz an, so daß er den Befehl erhielt, seine Tochter die Kirche und die Schwarzen Damen im Kloster besuchen zu lassen. Im Vorgefühl drohender Gefahr erklärte Sirven darauf sofort, wenn seine Tochter religiösen Unterricht erhalten solle, bäte er, sie wieder ins Kloster zu nehmen; er würde ihrem Religionswechsel keine Hindernisse in den Weg legen. Nachdem eine ärztliche Untersuchung vorgenommen war, verzichteten die Behörden in Castres jedoch darauf.

Im Juli 1761 zog die Familie Sirven nach St. Alby, fünfzig Meilen von Castres, wo Sirven für einen Herrn d'Esperandieu arbeiten sollte, der auch eine Wohnung für ihn und die Seinen im Dorf instand setzen ließ. Mehr als ein Vierteljahr verlief ruhig, und Sirven durfte glauben, man hätte die Familie vergessen, als eines Tages im Anfang November der Abbé Bel, Vikar in Aignes-Fondes, in Begleitung zweier Konsuln aus Saint-Alby in die Wohnung drang, Elisabeth rufen ließ und die Mutter in gebieterischem Tone aufforderte, ihrer Tochter volle Freiheit zu lassen, in die Kirche von Saint-Pierre de Frontze zu gehen, dort den Gottesdienst zu hören und Religionsunterricht zu nehmen. Madame Sirven antwortete, daß sie niemals daran gedacht hatte, sich Elisabeths religiöser Berufung zu widersetzen, daß sie es aber aus gewissen praktischen Gründen, die sie dem Abbé später nennen würde, untunlich fand, ihre Tochter so weit allein gehen zu lassen.

Als Sirven heimkam, und darüber erschrak, was dieser Besuch wohl bedeuten könne, suchte er die Konsuln auf, um sie nach dem Zweck zu fragen; sie wußten darüber jedoch nichts. Er wandte sich dann an den Vikar, der ihm antwortete, er hätte nur auf Befehl des Gemeindepriesters gehandelt. Doch Sirven fühlte hinter all dem eine versteckte Verschwörung gegen sich, sagte das dem Vikar und den Konsuln glatt heraus und war fest entschlossen, bei seiner Rückkehr am 16. Dezember dem Bischof sofort seine Tochter Elisabeth zu überbringen.

Er begab sich zum Abbé Bel, um ihm seine Absicht mitzuteilen und von ihm zu erfahren, ob er keinen Auftrag erhalten habe, der ihn betraf. Darauf gingen sie zusammen ins Schloß, wo sie bei Herrn d'Esperandieu mit Madame d'Esperandieu und der Familie zu Abend aßen. Ein Herr Carcenac kam zum Nachtisch und ging mit dem Abbé um elf Uhr fort. Sirven blieb noch Dreiviertelstunde mit der Frau zusammen, um Dokumente durchzusehen, und wurde dann von einem Diener in sein neben der Wohnstube liegendes Schlafzimmer geführt. Er stand am Morgen um 7 Uhr auf und wartete in der Wohnstube auf die Frau des Hauses, die ihn bitten wollte, eine Besorgung in Castres zu erledigen. Es war ungefähr eine Stunde vergangen, als ein Eilbote vom ersten Konsul in Saint Alby ihm mitteilte, daß seine Tochter Elisabeth mitten in der Nacht verschwunden sei und daß man nicht ahnte, wo sie sich aufhalte.

Sirven machte sich sofort auf den Weg und kam vor 10 Uhr nach Saint-Alby. Seine Frau war vor Sorge außer sich, so daß sie kaum sprechen konnte, und einer der Anwesenden mußte ihm die Geschehnisse der Nacht erzählen: zwischen 12 und 1 Uhr war Elisabeth aufgestanden, war durch das Schlafzimmer der Mutter gegangen und hatte auf deren Frage geantwortet, sie wolle Holz holen. Als sie nicht zurückkam, hatte ihre Schwester Jeanne sie vergebens gesucht. Von den Leuten, die im Erdgeschoß des Hauses wohnten, hatte man erfahren, daß die Haustür aufgeschlossen worden war und daß einer hinausgegangen war.

Sirven verbrachte nun mehrere Tage mit unnützen Versuchen, die Tochter zu finden. Schließlich kam die Familie auf den Gedanken, daß sie sich wieder zu den Schwarzen Damen begeben hätte, und daß sie sich in ihrem Kloster verbarg.

Am 3. Januar 1762 war Sirven geschäftlich nach Burlats gefahren, als er durch die Nachricht nach Saint-Alby zurückgerufen wurde, in der Nacht hätten Kinder, die mit Strohfackeln auf die Vogeljagd gingen, beim Schein einiger brennenden Strohhalme, die in den Brunnen gefallen waren, dort drinnen eine Leiche entdeckt. Am nächsten Morgen wurde ein Bote nach Mazamet geschickt, wo der Procureur fiscal des Ortes wohnte. Dieser Procureur war ein kleiner Kaufmann, dem es schlecht gegangen war und der von der Gemeinde zum Justizanwalt gewählt worden war. Da das Gehalt eines Dorfrichters gering war, erhielt er zugleich das Gehalt eines Schullehrers, obgleich er keinen Unterricht erteilte.

Trinquier war stolz auf seine Würde, doch nicht so stolz, als daß er nicht bereit gewesen wäre, jedem Wink, der ihm von oben gegeben wurde, zu gehorchen. Und an solchen Winken fehlte es nicht. Man hatte in Toulouse ein starkes Interesse daran, den Verdacht gegen die Familie Calas durch ein weiteres Beispiel von protestantischer Ermordung abtrünniger Kinder zu stärken.

Anfangs zweifelte niemand daran, daß das geistig irre junge Mädchen selbst in den Brunnen gesprungen war. Vom 6. bis zum 10. Januar wurden alle Bewohner des Dorfes vernommen, und von fünfundvierzig Zeugen war nicht einer der Familie Sirven ungünstig. Dann äußerte der eine oder der andere den Verdacht, daß Elisabeth Sirven zur Märtyrerin ihres Hanges zum Katholizismus geworden wäre, und sofort breitete sich der Verdacht aus. Es ging eine Ansteckung vom Calasprozeß aus. Die oberste Amtsperson Landes wollte nicht hinter David de Beaudrigues zurückstehen und erhielt vom Generalanwalt in Toulouse eine schriftliche Aufforderung, gegen die Familie Sirven schonungslos vorzugehen.

Da der Hausherr nachweislich den Abend und die Nacht auf dem Schlosse bei Herrn d'Esperandieu zugebracht hatte, konnte er unmöglich persönlich seine Tochter in den Brunnen geworfen haben. Die 63jährige Mutter war klein und schwach, die älteste Tochter war schwanger, Elisabeth ungewöhnlich groß und stark. Die Damen der Familie konnten sie unmöglich zum Brunnen geschleppt haben, mindestens nicht, ohne daß man einen Laut hörte; aber die Bewohner des Hauses hatten nichts gehört, und sie hatten deutlich gesehen, daß nur eine Person aus der Tür ging, die Elisabeth gewesen sein mußte, da weder die Mutter noch eine der Töchter sich mit der Leiche auf dem Rücken hatte hinausschleichen können.

Da der Fiskalanwalt Trinquier nur darauf hinarbeitete, ein Urteil über die Familie zustande zu bringen, nahm er auf diese Verhältnisse keine Rücksicht, ließ keine Zeugen laden, die Sirvens Alibi und keine, die die Stille im Hause Sirven beweisen konnten. Der Advokat der Familie, Jalabert, beklagte sich bei Landes darüber. Dieser riet, Sirven sollte als partie civile auftreten. Dies geschah, und am 15. Januar wurden siebzehn Zeugen vernommen, durch deren Aussagen sowohl Sirvens Alibi wie Elisabeths Verrücktheit glaubhaft gemacht wurden. Da noch mehrere Vernehmungen am 20. Januar abgehalten werden sollten, versuchte Trinquier einen Verhaftbefehl gegen die Familie Sirven und den Erlaß eines Monitoriums wie in der Sache Calas zu erwirken.

Hierauf wollte Landes nicht sofort eingehen; er gab aber nach, als bekannt wurde, daß der Advokat Jalabert den Ärzten, die die Leichenschau vorgenommen hatten, Geld angeboten hatte, wenn sie ihm ihr Gutachten mitteilen würden. Das war in Trinquiers Augen ein Beweis der Schuld, obwohl das Urteil der Ärzte ja längst abgegeben war und durch die Mitteilung nicht geändert werden konnte. Am 19. Januar erfolgte so der Haftbefehl.

XXI

Sobald Madame Sirven von dem Erlaß erfuhr, eilte sie mit ihren Töchtern nach Castres zu ihrem Mann, um ihn zu warnen, da eine berittene Polizeiwache den Befehl erhalten hatte, sie alle vier zu verhaften.

Im Bewußtsein seiner Unschuld nahm Sirven die Nachricht mit großer Ruhe auf; aber Freunde, die es gut mit ihm meinten, machten ihn auf die Notwendigkeit einer Flucht aufmerksam, um der drohenden Festnahme zu entgehn.

Alle vier wanderten denn mitten in der Nacht in einem greulichen Wetter, in Regen und Finsternis fort, auf Wegen, auf denen sie in Schlamm und Schmutz versanken. Nach fünf Stunden kamen sie nach Roquecombe, obwohl sie nur anderthalb französische Meilen (etwas weniger als eine Meile) zurückgelegt hatten.

Am härtesten fühlten die Unglücklichen die Notwendigkeit, sich zu trennen, damit sie leichter unerkannt blieben. Sirven verbarg sich zunächst drei Tage in einer Meierei bei einem Edelmann, den er kannte. Da er sich dort nicht sicher fühlte, als er erfuhr, daß sich unmittelbar nach seiner Flucht Reiterei vor seinem Hause eingefunden und alles feste und bewegliche Eigentum beschlagnahmt hatte, flüchtete er in die Berge hinauf, die zum Marquisat Arétat gehörten, vier französische Meilen von Castres, und blieb dort einen Monat.

Seine Familie machte sich aus Furcht, der Polizei in die Hände zu fallen, ihrerseits auf den Weg, und kam nach sechs Tagen zur Baronie Monredon, die noch dichter bei Castres lag als Arétat, und wo sie die Notwendigkeit fühlten, daß auch die Frauen getrennt flüchten mußten. Die alte Mutter wanderte auf einem Wege fort; die älteste Tochter, deren Schwangerschaft nun stark vorgeschritten war, auf einem anderen, und die junge Jeanne auf einem dritten. Sie kamen auf ungeheuren Umwegen nach Nîmes, wo sie von jemand empfangen wurden, dem sie empfohlen waren. Von dort aus ritten sie auf unwegsamen Bergpfaden wieder auf Umwegen, um nicht ergriffen zu werden, über die Rouergueberge und die Cevennen. Man bekommt einen Begriff von den Strapazen, wenn man liest, daß die schwangere Marie-Anne in den zweieinhalb Monaten, die die Reise dauerte, elfmal vom Pferde fiel.

Sirven selbst, der in der Felsgegend Zuflucht gesucht hatte, erhielt dort täglich ängstigende Nachrichten. Er mußte sich wieder auf den Weg machen, um aus Frankreich zu kommen. In der härtesten Jahreszeit wanderte er über den Schnee der Rouergue- und Velayberge, ging über die Grenze, erreichte Genf und kam im Anfang April nach Lausanne, wo erst im Juni seine Frau und seine beiden Töchter zu ihm stießen.

Das erbärmliche Provinzgericht erließ gegen die unglückliche Familie ein erstes Monitorium, das ohne Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse diensteifrig von dem gegen die Familie Calas abgeschrieben schien, dann ein zweites, dann ein drittes. Ja, der Richter in Mazamet erdreistete sich, den Advokaten Jalabert zu fragen, warum er, der sich zum katholischen Glauben bekannte, sich zum Verteidiger einer Sache machte, die diesem Glauben gerade entgegengesetzt war.

Dieser Jalabert konnte nicht ahnen, daß man aus seiner nebensächlichen Unvorsichtigkeit, den Ärzten Geld für die Mitteilung ihres Gutachtens zu bieten, Aufhebens machen würde. Denn die Ärzte selbst hielten sein Ersuchen für ganz unschuldig; sie luden ihn darauf zu Mittag ein, und als er ablehnte, tranken sie Wein mit ihm, sie sahen in seinem Vorschlag nur Neugier und Eifer für seine Klienten.

Außer diesem sehr mageren corpus delicti, das dieses Angebot abgab, hatte man noch zwei. Das eine war das Gutachten der Ärzte, in dem ursprünglich nichts über die Todesursache stand, später aber nach Aufforderung hinzugefügt wurde, daß Elisabeth erwürgt und danach in den Brunnen geworfen war. Das wurde durch den Umstand zu beweisen gesucht, daß sich weder im Magen noch im Darmkanal Wasser befand. Die Fakultät in Montpellier schrieb über diesen Bericht vernichtend, daß gerade die Beobachtungen, die darin mitgeteilt waren, zu der Gewißheit führen mußten, daß Elisabeth nicht erwürgt worden war, sondern ihren Tod im Brunnen gefunden hatte, und die Fakultät beschuldigte die Gerichtsärzte grober Unwissenheit, da sie überhaupt nicht wußten, auf welche Weise die Frage entschieden werden mußte, nämlich durch die Untersuchung, ob in der Luftröhre und in den Lungen, Wasser war, da der Ertrinkende Wasser statt Luft einatmet und daran erstickt. Das schlimmste für die Ärzte war, daß sie nicht einmal aus Unwissenheit gesündigt hatten, sondern aus »Dienstwilligkeit«, wie einer von ihnen, Gallet-Duplessis, später offen gestand. Er hatte sein Urteil gegen besseres Wissen abgegeben.

Das dritte Corpus delicti war das unaufgeklärte Verschwinden der Leiche. Sie war in einem Rathaussaal liegen geblieben, wo sie einen derartigen Pestgestank verbreitete, daß die sechs Füsiliere, die sie bewachten, es nicht aushalten konnten. In der Nacht zwischen dem 5. und 6. Januar 1762 war die Leiche spurlos verschwunden. Man folgerte: Sirven hat sie fortschaffen lassen, um sich der Strafe zu entziehen – was sinnlos war, da sie ja in wenigen Tagen doch beerdigt worden wäre und da das Gutachten der Ärzte längst vorlag.

Wenn man das fast Unmögliche annimmt, daß Sirven bei der Entfernung, in der er sich befand, sie hatte fortschaffen lassen, konnte das doch keinen anderen Sinn als den haben, daß er ihre Beerdigung auf einem katholischen Kirchhof vermeiden wollte, was ja auch wieder töricht war, da er freiwillig seine Zustimmung zum Religionswechsel der Tochter gegeben hatte.

Dieselben Gesetzwidrigkeiten fanden nun statt wie im Calasprozeß: nur belastende Zeugen durften sich melden, ebenso waren in den Monitorien die Personen, gegen die man Beweise suchte, deutlich bezeichnet, und eine Reihe unbeweisbarer Annahmen als Tatsachen hingestellt. Die Aufnahme der Vernehmungen dauerte so lange, daß sie erst im Februar 1763 schloß; und Trinquier hielt die Sache noch ein ganzes Jahr hin, bevor er seinen Antrag beim Gericht stellte, Sirven rädern, darauf lebendig verbrennen zu lassen und dann seine Asche in alle Winde zu streuen. Madame Sirven sollte gehängt werden, und beide Töchter sollten der Hinrichtung der Eltern beiwohnen, darauf des Landes verwiesen werden.

Die Entscheidung lag in den Händen von Landes. Er erklärte die Angeklagten für schuldig, prüfte in einer einzigen Morgenstunde die Zeugenaussagen von einigen hundert Zeugen und ließ das Urteil sprechen. Die Angeklagten wurden am 29. März 1764 trotz ihres Ausbleibens (in contumaciam) verurteilt. Sirven sollte nicht gerädert und verbrannt, sondern gehängt werden, seine Frau ebenso. Die Töchter sollten dem Tod ihrer Eltern am Galgen beiwohnen. Die Flucht der Familie wurde von Landes als Beweis ihrer Schuld betrachtet.

Voltaire rief ihm zu: »Du Elender, verlangtest du vielleicht, daß sie dort bleiben sollten, damit du deine wahnsinnige Wut über sie ergehen lassen könntest?«

Das Urteil in contumaciam bedurfte keiner eigentlichen Bestätigung durch das Parlament in Toulouse, da den so Verurteilten keine Berufung gestattet war. Das Gericht gab nur durch einen Bescheid (die sogenannte délibération) dem Untergericht die Erlaubnis, das Urteil zu vollstrecken. Das geschah am 11. September 1764. Auf dem Marktplatz in Mazamet wurden zwei Puppen am Galgen aufgehängt, die Sirven und seine Frau darstellten. Die beiden Töchter sahen dem Schauspiel in Gestalt zweier anderen Puppen zu.

Rechtlich sollte es jedoch den Anschein erwecken, als hätte das Parlament das Urteil des Untergerichts nicht bestätigt. Voltaire schrieb in seinem Ekel vor dieser Sophisterei an Elie de Beaumont (26. September 1765): »Die Erlaubnis zu erteilen, daß ein Mensch entehrt und sein Vermögen eingezogen wird, soll kein Urteilsspruch sein! Das Urteil des Untergerichts muß dem Parlament doch gerecht oder ungerecht vorkommen. Wenn es die Vollstreckung gebietet, dann bestätigt es entweder etwas Gerechtes oder etwas Ungerechtes.«

XXII

Sobald sich die Familie Sirven auf Schweizer Boden befand, wurde sie bei Voltaire eingeführt. Er schrieb drei Jahr später (1. März 1765) an Damilaville darüber: »Stellen Sie sich vier Schafe vor, die von den Schlächtern beschuldigt werden, ein Lamm aufgefressen zu haben. So viel Unglück und Unschuld läßt sich nicht beschreiben.«

Voltaire wagte übrigens nicht sofort, sich der Familie anders anzunehmen, als dadurch, daß er ihr seine Zeit und seine Börse zur Verfügung stellte. Sonst wäre es ihm unmöglich geworden, die Sache Calas zum glücklichen Ende zu führen. Einmal konnte das katholische Publikum, wenn die Fälle sich wiederholten, leicht zu dem Glauben gebracht werden, daß doch etwas Wahres daran war, daß die Protestanten Kindermörder waren, und dann konnte das Interesse für beide Familien erlahmen; für das Haus Calas, weil das begangene Unrecht nicht länger vereinzelt dastand, für das Haus Sirven, weil niemand wirklich ins Gefängnis gesperrt oder gehängt worden war.

Er begnügte sich vorläufig, freigebig wie immer, die Armen zu unterhalten, denen das französische Rechtswesen alles genommen hatte, was zur Aufrechterhaltung des Lebens nötig ist.

Die Schriftsteller, und das sind nicht wenige, die Voltaire höhnisch beurteilt haben wegen des Eifers, den er seinerzeit an den Tag legte, als es galt, ein Vermögen zu verdienen und später, es zusammenzuhalten, während er gleichzeitig sowohl die Honorare seiner sämtlichen Bücher wie seine Theatereinnahme verschenkte, sollten doch bedacht haben, wie ungeheuer nützlich für die Menschheit es war, daß ein Vermögen, das nur für die besten Zwecke, für eine wahre Verschwendung von Wohltaten verwandt wurde, dies eine Mal in der Weltgeschichte in den Besitz eines alle überragenden Schriftstellers kam, der, statt bei den Machthabern um ihre Gunst zu betteln oder statt aus Angst, ein elendes Jahresgehalt zu verlieren, schweigen zu müssen vor seinen Zeitgenossen, wie ein ungekrönter Fürst schirmend stand, und nicht nur durch seine Feder, also durch ein geistiges Mittel beschützte, sondern auch dadurch, daß er zahlreichen Unglücklichen und zahlreichen ungerecht Behandelten Obdach, Nahrung, Kleider und die Möglichkeit schenkte, sich selbst wieder emporzuarbeiten.

Diesmal waren die Schwierigkeiten, auf die Voltaire stieß, ungeheuer. In der Angelegenheit Sirven gab es keine Handhabe, zuzupacken. Voltaire setzte den Ruf, den er als Verteidiger für Calas gewonnen hatte, aufs Spiel, falls er eine Niederlage erlitt, und wie war die zu vermeiden? Alle, die ihn haßten, und es doppelt wegen seines letzten Triumphes taten, lauerten ihm in diesem Hohlweg auf, um ihn niederzumachen und den Eindruck des früheren Sieges auszulöschen.

Das Publikum war außerdem gleichgültig. Sollte sein Interesse geweckt werden, mußten mindestens ein paar Mitglieder des Hauses Sirven zum Rädern oder Hängen ausgeliefert werden. Dazu kam, da sie alle trotz ihres Fernbleibens verurteilt worden waren, daß sie, um eine Wiederaufnahme und Erklärung ihrer Unschuld zu erreichen, sich zuerst als Gefangene beim Gericht in Mazamet und in zweiter Instanz beim Parlament in Toulouse melden mußten, das bloß um sich für die Schmach zu rächen, die es durch den Freispruch von Calas und seiner ganzen Familie erlitten hatte, sämtliche Sirvens rädern oder aufknüpfen lassen würde. Sollte irgend etwas erreicht werden, mußte Voltaire erwirken, daß die Angelegenheit vor ein ganz anderes Gericht kam.

XXIII

Er stellte sich als Macht gegen Macht, als er eine Verhandlung mit dem Parlament in Toulouse begann. Er wollte die Sirvens sich dort nur einfinden lassen, wenn man ihm von vornherein Sicherheit dafür gab, daß man sich von ihrer Unschuld überzeugen lassen wollte. – Als sich das Parlament nicht im voraus binden wollte, ließ er dem Vizekanzler Maupeou eine Bittschrift überreichen. Dieser stellte eine Begnadigung in Aussicht. Aber mit einer Begnadigung war Voltaire so wenig wie der Wahrheit und der Gerechtigkeit gedient.

Die Pariser Freunde wurden in Bewegung gesetzt, Elie de Beaumont versprach wieder, eine Eingabe zu verfassen. Alle Protestanten in Frankreich schlossen darauf einen Kreis um Voltaire, der es übernahm, »ganz Europa für die Sirvensche Sache in Bewegung zu setzen«. Auf seine Veranlassung hatte Sirven selbst eine Darstellung geschrieben. Voltaire sandte diese an Elie de Beaumont mit den Worten: »Die Unschuld der Familie Sirven liegt noch deutlicher zutage als die der Familie Calas: hier gibt es auch nicht das geringste Indizium für eine Schuld. Man schämt sich, ein Mensch zu sein, wenn man sieht, daß in demselben Land an einem Orte komische Opern aufgeführt werden, an einem anderen Orte der Fanatismus dem Henker das Schwert in die Hand drückt.«

Elie de Beaumont sandte Voltaire ein ganzes Paket Fragen, auf die er Antwort wünschte. Es war nicht leicht, diese Antworten von Sirven zu bekommen; einerseits wußte der zu unrecht Verurteilte nicht Bescheid, da der Prozeß in seiner Abwesenheit geführt worden war; andererseits war er an sich nicht besonders begabt, und durch das Unglück, das auf ihn herunter gehagelt war, unklar und verwirrt geworden. Sein Vermögen war konfisziert, seine älteste Tochter war durch die Strapazen, die sie während ihrer Schwangerschaft ausgestanden hatte, vollkommen niedergebrochen. Seine Frau, deren Leben die Qualen abgekürzt hatten, war im Frühjahr 1765 gestorben.

Es galt, wie in dem anderen Prozeß, zu allererst Einblick in die Akten des Falles zu erhalten. Nach einiger Mühe erhielt man Abschriften der Akten vom Gericht in Mazamet. Das Parlament in Toulouse weigerte sich dagegen bestimmt, eine Abschrift herzugeben. Voltaire dachte zuerst daran, einen feierlichen Einspruch in Toulouse niederzulegen, um den Fall leichter vor ein anderes Gericht zu bekommen. Dann erwog er, Sirven selbst nach der Stadt reisen zu lassen, um eine Abschrift seines Urteils zu erhalten. Er verzichtete darauf in Hinblick auf die zweifellose Gefahr dabei.

Endlich nach zweijähriger Anstrengung kam Voltaire – unbekannt wie, vielleicht durch Bestechung – in den Besitz einer Abschrift.

Wieder mußte der Feurige und Ungeduldige sehen, wie die Zeit verloren ging. Er hatte große Hoffnung auf die Eingabe Elie de Beaumonts gesetzt. Aber dieser übereilte sich nicht damit, sie auszuarbeiten. Er sah, daß das Publikum das Interesse für Religionsprozesse verloren hatte, und da also für ihn kein Ruhm zu gewinnen war, machte er sich nicht eilig dahinter.

Im Januar 1766 erhielt Voltaire endlich einen Entwurf zu der Eingabe, las ihn mit größter Zufriedenheit, ließ Sirven kommen und, wie er dem Advokaten schrieb, er mußte fürchten, daß Sirvens Freudentränen die Schrift verlöschen würden. In einem Brief an Beaumont nannte er dessen Eingabe für Calas »ein Werk der Beredsamkeit«, aber diesen Entwurf »das Meisterwerk eines Genies«. An d'Argental schrieb er (10. Februar 1766): »Dieser Fall bewegt meine ganze Seele. Tragödien, Komödien und Theater sind nichts für mich. Die Zeit geht so langsam. Ich möchte, Elies Eingabe wäre bereits verbreitet, so daß ganz Europa davon widerhallte.«

Aber das Phlegma Elie de Beaumonts stand im lebhaftesten Streit mit Voltaires Feuergeist. Aus Gründen, die erst viel später klar wurden, lag ihm nichts daran, sein Gesuch druckfertig zu machen, und es fiel nun Voltaire zu, Sirven zu trösten und ihm Mut einzuflößen, während er zugleich vermeiden mußte, Beaumont seine Ungeduld merken zu lassen; er konnte sonst Gefahr laufen, daß dieser die Angelegenheit ganz fallen ließ, und daß man dann mit einem neuen, weniger bekannten Rechtsanwalt von vorn anfangen mußte.

XXIV

Inzwischen versuchte er, Sirven vornehme und einflußreiche Beschützer zu verschaffen. Grimm gab ihm eine Liste derjenigen, die man in Deutschland gewinnen konnte. Voltaire schrieb an den Landgrafen von Hessen-Cassel, die Markgräfin von Baden, die Herzogin von Sachsen-Gotha, die Prinzessin von Darmstadt, die Fürstin von Nassau-Saarbrücken, die ihm alle Geldbeträge sandten. Madame Geoffrin, die auf Besuch zu Stanislaw Poniatowski nach Warschau gereist war, sandte von dem polnischen König 200 Dukaten an die Familie Sirven. Die Kaiserin Katharina sandte eine bedeutende Summe mit der Hinzufügung: Weh den Verfolgern! (Malheur aux persécuteurs!) Friedrich der Große sandte tausend Taler und erklärte sich bereit, der Familie einen Wohnsitz in Preußen zu geben. Christian der Siebente von Dänemark sandte einen Brief mit einer runden Summe.

In der Hoffnung, daß Elie de Beaumonts Gesuch unmittelbar vor der Herausgabe stand, legte Voltaire seinen Briefen an diejenigen, die er zu interessieren strebte, die kleine Schrift bei Avis au public sur les parricides imputés aux Calas et aux Sirven, und er gab sich schon der Hoffnung auf einen baldigen Sieg hin, als er von einem unerwarteten Schlag getroffen wurde durch einen neuen und noch furchtbareren französischen Rechtsfall, dessen Spitze ganz absichtlich gegen ihn selbst gerichtet schien. Nun mußte er seine Fähigkeit bezweifeln, die Sirvensche Angelegenheit zu einem glücklichen Ende zu bringen.

Der junge Chevalier de la Barre war am 1. Juli 1766 auf dem Marktplatz in Abbeville wegen Gotteslästerung gerädert worden.


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