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Ferney

I

Im Leben eines jeden Menschen kommt verhältnismäßig früh ein Augenblick, wo er von den andern nicht mehr als sonderlich jung betrachtet wird, wo er aufhört zu sein, was er zu sein pflegte: fast in jedem Kreise der jüngste. Er selbst merkt in der Regel wenig davon, daß er mit den Jahren, die dahingehen, auffallend älter wird; er erfährt es von anderen. Das geht so schnell. Es ist doch erst so kurze Zeit her, daß er überall der früh gereifte, der aufgeweckte Liebling, der viel Versprechende war. Da trifft er denn eines Tages einen Altersgenossen und ist überrascht zu sehen, daß der andre nicht mehr jung ist. Sein Genosse war erst im Leutnantsalter, dann sieht er ihn als Hauptmann. Eines schönen Tages ist er Oberst.

Dann folgt die Zeit, in der die Jahre, die sich bis dahin mit würdiger Langsamkeit vorwärts bewegten, im Sturmschritt zu laufen beginnen, als hätten sie eine fast unpassende Eile. Ein früherer Schulkamerad, den er trifft, erscheint grotesk – und er betrachtet sich verwundert im Spiegel.

Weniger als irgend ein anderer hatte sich Voltaire an die fliehende Jugend geklammert. Wir haben gesehen, wie er der Zeit des Alters vorgegriffen, und sich bereits in den Vierzigern hartnäckig alt nannte, doch wohl meist, um andere daran zu hindern, ihn sein Alter hören zu lassen, um ihnen zuvorzukommen oder sie eher zum Widerspruch zu zwingen.

Es ist unmöglich, daß ihm um diese Zeit die folgende Erscheinung nicht aufgefallen sein sollte: ständig besuchten ihn Männer, die ihm teure und bekannte Namen trugen; aber es waren nicht die, deren Anblick und Person er immer mit diesen Namen zu verbinden gewohnt gewesen war; es waren ihre Kinder, und diese Söhne waren manchmal so alt, wie die Väter gewesen waren, als er mit ihnen verkehrte. Seine ganze frühere Umgebung rückte in der Zeit gleichsam zurück und wurde Vergangenheit, während er selbst sich beständig als Gegenwart, ja als Zukunft fühlte.

Man wird sich erinnern, wie nahe Voltaire in jüngeren Jahren dem Marschall von Villars und seiner Frau gestanden hatte. Eines Tages kam der Sohn des Marschalls, der Herzog von Villars, Gouverneur der Provence, der in Aix ein Leben in fürstlicher Pracht führte. Er war 1760, als er zu Voltaire kam, nicht weniger als 58 Jahre alt, hatte Haltung und Wesen eines großen Herrn, war aber in hohem Grade durch Vergnügungen und Laster verbraucht. Er hegte eine Leidenschaft für das Theater, hatte bereits in seiner Jugend auf dem Gut seiner Eltern Komödie gespielt. Er war der Meinung, daß äußerst wenige so wie er Verse vorzutragen verständen, bedachte sich auch keinen Augenblick, bei Voltaire den Tschengis-Khan in l'Orphelin de la Chine mit Madame Denis als Partnerin zu spielen. Die Aufführungen, in denen er mitwirkte, fanden nur vor verschlossenen Türen statt, da er fürchtete, sonst seine Würde als Gouverneur einer Provinz preiszugeben.

Nach ihm kam der junge und gewinnende Chevalier de Boufflers, der bereits 26jährige Sohn der liebenswürdigen Marquise, die den Hof des polnischen Königs in Lunéville zierte. Er war ein junger Meister in Schelmenstreichen mit vielen kleinen Talenten. Er schrieb zierliche Verse, versicherte seiner schönen Mutter bald, daß sie so hoch über anderen Frauen stand wie Seraphe über Engeln, quälte diese bewunderte Mutter bald mit ihrer Zündbarkeit, bald die Damen überhaupt mit jenem wunderlichen, ihm umfaßbaren Wesen, das sie ihr Herz nannten, und dem er, wenn er von dessen Sehnsucht und Bedürfnissen, Befriedigungen und Freuden hörte, einen anderen Namen zu geben geneigt war. Er hatte sich in der Schweiz, um das Land gründlich studieren zu können, für einen armen französischen Zeichner ausgegeben, der von seiner Kunst lebte, hatte in Vevey einen kleinen Roman erlebt, hatte sich während dieser Odyssee in Lausanne wie auf Kirkes verzauberter Insel gefühlt, und hatte dort einer schönen Dame eine Zeichnung des Teufels mit Horn und Schwanz gesandt, die er mit folgendem Vierzeiler begleitete:

Ce n'est point sans raison, marquise trop aimable,
Que j'envoyai chez vous la diable et son portrait,
Je ne sais s'il vous tenterait,
Mais vous, vous tenteriez le diable.

Von seiner Jugend an war es dem Chevalier als das höchste Glück erschienen, Voltaire kennenzulernen. Er stellte sich also in Ferney vor und wurde wie der Sohn seiner Mutter empfangen, der in das Heim eines alten Freundes und Verehrers der Marquise de Boufflers gehörte. Er blieb denn auch mehrere Monate dort. Er war entzückt von dem Ort und dessen Besitzer, ließ es sich als Gleichaltriger wohl sein im Verkehr mit der jungen schönen und witzigen Madame Cramer, der Frau des Buchdruckers und Verlegers Voltaires, des stattlichen und hübschen Philibert Cramer, Liebhaber des Haustheaters, der als Lebemann und Weinkenner im fünften Gesang von La Guerre de Genève besungen worden ist. Doch am lebhaftesten bewunderte der junge Boufflers den Hausherren selbst. Er schreibt aus Ferney über Voltaire:

Sie können sich keine Idee von dem Geld machen, das er ausgibt, und von dem Guten, das er tut. Er ist König und Herr über das Land, das er bewohnt; er schafft Glück für seine Umgebung und ist ein ebenso guter Familienvater wie er ein guter Dichter ist. Wenn man ihn teilte und ich auf der einen Seite den Mann sähe, den ich gelesen habe, auf der anderen den, den ich sprechen höre, dann weiß ich nicht, welchen ich am eifrigsten suchen würde. Seine Buchdrucker mögen machen, was sie wollen, er ist und bleibt selbst die beste Ausgabe seiner Bücher. Das Haus ist übrigens entzückend, die Lage vorzüglich, das Essen ausgesucht, meine Wohnung herrlich.

Als Antwort auf Boufflers jugendlich respektloses Gedicht Le Cœur schrieb ihm Voltaire fünf schöne Strophen, von denen eine lautet:

Hélas! faibles humains, quels destins sont les nôtres,
Qu'on a mal placé les grandeurs!
Qu'on serait heureux, si les cœurs
Etaient faits les uns pour les autres.

Kein Besuch kann doch Voltaire einen stärker überwältigenden Eindruck vom Lauf der Jahre und von der Verschiebung der zeitgenössischen Gestalten gemacht haben als der des jungen Grafen Lauraguais, eines etwas überspannten aber geistreichen Dichters, der sich im September 1761 in Ferney einfand, um Voltaire seine Tragödie Clytemnestre zu widmen und sich als – Enkel der lustigen Herzogin von Lauraguais vorstellte, der Ludwig der Fünfzehnte vor garnicht allzu langer Zeit seine Gunst geschenkt hatte.

Der Graf von Lauraguais schrieb Verse, sogar gute Verse; er war der Geliebte des aufsteigenden Opernsterns Sophie Arnould und er interessierte sich so leidenschaftlich für das gesamte Theaterwesen, daß er die Fürsorge für das Kostüm auf dem französischen Nationaltheater erneuerte und schließlich der Befreier des französischen Bühnenraums von den vornehmen Zuschauern wurde, die den Platz füllten und die Bewegungsfreiheit hinderten. Mit einer Summe von 30 000 Livres hielt er die Schauspieler für den Verlust schadlos, den sie dadurch erlitten.

Voltaire, der sein ganzes Leben hindurch die hartnäckige Unsitte bekämpft hatte, die gelegentlich die ergreifendsten Szenen ins Lächerliche zogen, dankte Lauraguais mit feurigen Worten für seine Wohltat in der Zueignung von L'Ecossaise, ohne doch seinen eigenen Namen als Verfasser zu nennen.

Lauraguais hatte andere gute Eigenschaften, so unterstützte er verdienstvolle, aber arme Schriftsteller. Oft spricht Voltaire von dem Jahresgehalt, das er Du Marsais gab, dem hervorragenden Enzyklopädisten, der vom Bischof von Soissons verfolgt wurde. Lauraguais hat seine Ankunft bei dem Patriarchen geschildert:

Kaum hatte er mich mit diesen Armen umfangen, die sich in meiner Kindheit so oft vor mir geöffnet hatten, und den Briefwechsel erwähnt, mit dem er mich ausgezeichnet, seit wir uns in Berlin wiedergesehen, als er mich durch sein Schloß führte, mir Weihwasser am Eingang seiner Kirche gab und sagte: »Nun wollen wir in den Garten hinuntergehen.« Als ich verwundert war, dort einen Esel zu finden, der sich im Grünen gütlich tat, sagte er: »Erkennen Sie Fréron nicht wieder?« Ja, antwortete ich, man könnte wegen des Körperbaus wohl etwas dagegen einwenden, aber die Ähnlichkeit im Gesicht ist treffend. Ich bin überrascht, ihn bei Ihnen zu finden; ich glaubte nicht, daß Sie sich so gut mit ihm standen. Seine Person, war die Antwort, gedeiht am besten bei Herrn Ramponneau in Paris (Gastwirt in Courtille), aber sein Gesicht befindet sich besser bei mir. Wie Sie mich sehen, bin ich nicht ganz so, als wenn man mich liest. Ich habe manchmal Zorn nötig, und diese Fratze gibt mir dann den nötigen Zorn.

II

Gewissermaßen mußte sogar der Besuch, den der Jugendfreund Marschall von Richelieu gleichzeitig in Ferney machte, wie ein Memento der fliehenden Zeit wirken. Sobald Richelieus Ankunft gemeldet wurde, ging ihm Voltaire in Festtracht mit seinem ganzen Hausstand entgegen. Er, der aus Preußen verjagte, aus Paris verwiesene, der heimlos umhergeschweift war, freute sich, den Sieger von Mahon bei sich aufzunehmen, ihm fürstliche Gastfreundschaft als Lehnsherr eines kleinen Landesgebiets erweisen zu können, das ganz sein eigen war.

Während des Aufenthalts des Marschalls verließen die Herzogin von Enville, ihr Sohn, Graf d'Harcourt, und der Herzog von Villars Ferney nicht; ebensowenig Cramer und andere liebenswürdige Mitglieder der guten Genfer Gesellschaft. Madame Ménage und Madame Cramer waren zwei anziehende Damen. Der Marschall blieb fünf Tage bei Voltaire. Man hatte ihm das Schloß in Tournay ganz überlassen und begleitete ihn jeden Abend in großem Aufzuge dorthin. Voltaire bot alles, was er an Witz besaß auf, um den Aufenthalt Richelieus festlich zu gestalten. Und dieser hatte die Fähigkeit seiner Jugend bewahrt, sich beim schönen Geschlecht beliebt zu machen. Voltaire fand ihn eines Tages vor Madame Ménage auf den Knien. Dann ergriff ihn plötzlich eine Leidenschaft für Madame Cramer. Es wurde eine ganze Intrigue ins Werk gesetzt, damit Richelieu mit dieser Pariserin, die in das calvinistische Genf verschlagen worden war, allein bleiben konnte. Ihr Mann, Philibert, wurde nach der Stadt geschickt, um dort über Nacht eine poetische Epistel drucken zu lassen, die Voltaire zur Huldigung des Marschalls geschrieben hatte, so daß dieser sie am Morgen beim Erwachen haben konnte.

Richelieu hatte sich jedoch noch nicht einmal Madame Cramers Einwilligung versichert, so sehr verließ er sich trotz seiner 66 Jahre auf seine gewohnte Unwiderstehlichkeit. Als aber Philibert Cramer richtig nach Genf gegangen war, um dort die Nacht über zu bleiben, und Richelieu sich dessen schöner Frau näherte, lachte diese ihm ins Gesicht. Sein einziger Trost war, daß er am Morgen den Ehemann, das frisch gedruckte Gedicht in der Hand, über die Schwelle seines Schlafzimmers treten sah.

Diese erotische Niederlage Richelieus, vielleicht seine erste, mußte auf ihre Weise Voltaire daran erinnern, daß die Jahre über sie beide hinweg gegangen waren, und sogar dem Ideal der Frauen ihr Zeichen aufgedrückt hatten.

Daß wir übrigens von diesem Korb wissen, den der übermütige Verführer empfing, liegt an ihm selbst; er fand die Geschichte so lustig, daß er sie in Paris ohne weiteres seinen Freunden erzählte.

III

Ein Gast, den Voltaire zum erstenmal sah und von dem ein Ruf ausging, war der spätere österreichische Feldmarschall Fürst Charles Joseph de Ligne, »der Günstling aller Könige, Hofmann an allen Höfen, Freund aller Philosophen«, wie er von seiner Zeit genannt wurde. Er war damals 28 Jahre alt; aber überall führte man schon seine witzigen Einfälle und geistreichen Antworten an. Im Gespräch war er bezaubernd, ungefähr wie Fürst Pückler nach ihm. In meinen Hauptströmungen ist angeführt, wie einige Sätze in seinen Schriften über den militärischen Beruf eins der schönsten Gedichte Alfred de Mussets inspiriert haben, und er lebte lange genug, um in Deutschland ein Freund der Rahel zu werden, er, der ein Günstling Voltaires und Katharinas der Zweiten gewesen war. Ségur erzählt einige Anekdoten von Einfällen, die er hatte, und Antworten, die er gab, als er Katharina auf der Reise von Kiew nach Kersan begleitete. An Bord des Schiffes sagte die Kaiserin eines Tages, als über die Beunruhigung gesprochen wurde, die diese Reise bei den Mächten hervorgerufen hatte: »Das St. Petersburger Kabinett, das nun hier auf dem Dnjester segelt, muß also sehr groß erscheinen, wenn es die anderen Kabinette so stark beschäftigt.« – »Madame« antwortete der Fürst von Ligne, »ich kenne trotzdem keines, das kleiner wäre. Seine Ausdehnung beträgt nur wenige Zoll; er erstreckt sich von der einen Ihrer Schläfen zur anderen und von Ihrer Nasenwurzel zu den Haarwurzeln.«

Er hat eine lebensvolle Beschreibung Voltaires gegeben. Zuerst eine sehr weitläufige von seiner Art, sich zu kleiden: alltäglich graue Schuhe, eisengraue Strümpfe, weites Wams aus Köperseide, große Perücke und eine kleine schwarze Sammetmütze; an Sonntagen ein schmucker Rock in Goldkäferfarbe, ohne Besatz, Weste und Beinkleider ebenso, oder auch ein Wams mit breiten Schößen, goldbestickt mit wellenförmigen Borten und große Spitzenmanschetten, die bis zu den Fingerspitzen gingen. Darauf eine Beschreibung seiner Person:

Er war bald Schriftsteller, bald Höfling vom Hofe Ludwigs des Vierzehnten, bald Weltmann der besten Gesellschaft … Das Vernünftigste, was ich bei ihm zu tun hatte, war, nicht unterhaltend oder witzig sein zu wollen, sondern ihn zum Sprechen zu bringen. Ich war acht Tage in seinem Haus, und ich wünschte, ich könnte mich der erhabenen, aufrichtigen, liebenswürdigen Dinge erinnern, die ihm ohne Unterbrechung heraussprudelten. Aber das ist tatsächlich unmöglich. Ich lachte oder ich bewunderte; aber immer war ich wie in einem Rausch. Alles an ihm, sogar seine Ungerechtigkeiten, seine Irrtümer, seine Steckenpferde, sein Mangel an Verständnis für die schönen Künste, seine Launen, Prätentionen, das, was er nicht sein konnte, und das, was er war, alles war entzückend, neu, reizend und unvorhergesehen. Er möchte für einen gründlichen Staatsmann und für stockgelehrt gehalten werden, dies letztere in einem Maße, daß er gern langweilig sein möchte … Er schätzte die englische Verfassung sehr hoch. Ich erinnere mich, daß ich ihm sagte: Herr de Voltaire, fügen sie zu ihr als die Macht, die sie trägt, das Meer; ohne das würde die Verfassung nicht halten.

Aus den höflichen Zeilen, die Voltaire dem Fürsten nach seiner Abreise schickt, ersieht man, daß dieser belgische Prinz, der Österreicher geworden war, ihn lebhaft interessiert hatte und daß er ihn entbehrte.

In einem der Briefe, die der junge Boufflers seiner Mutter schrieb, kommen die folgenden Worte über Voltaire vor: »Sie können sich nicht vorstellen, wie liebenswürdig er in seinem Heim ist; er würde der beste Greis in der Welt sein, falls er nicht der erste aller Menschen wäre; er hat nur den einen Fehler, sehr unzugänglich zu sein.«

Das war kein Fehler, aber mit den Jahren eine immer härtere Notwendigkeit für den ständig mehr gesuchten und überlaufenen Voltaire geworden. Viele Gäste mußten sich mit einem höflichen Empfang durch die Nichte begnügen und mußten wieder abreisen, ohne überhaupt den Herrn des Hauses gesehen zu haben. Seine Gesundheit war ja tatsächlich nicht gut; aber er gab diesen Zustand hartnäckig als Vorwand an, wenn er niemanden sehen wollte: »Mein Gott, schütze mich vor meinen Freunden, mit meinen Feinden werde ich schon selbst fertig werden«, war einer seiner Lieblingsausbrüche. Manchmal war er genötigt, recht scharfe Worte gegenüber Besuchern zu gebrauchen, die eine ihnen erwiesene Gastfreundschaft mißbrauchten und sich häuslich einrichteten, ohne selbst jemals von einer Abreise zu sprechen. Einem solchen Gast (Abbé Coyer) sagte Voltaire eines Tages: »Sie, Herr Abbé, sind ein wahres Gegenstück zum Don Quixote; er hielt die Wirtshäuser für Rittergüter; Sie scheinen die Rittergüter als Wirtshäuser aufzufassen.«

Am schwersten war es mit den reisenden Engländern fertig zu werden, die ihn sehen wollten. Einigen, die sich eines Tages vorstellten, wurde gesagt, Voltaire wäre krank. Aber sie wollten ihn krank sehen. »Sagen Sie ihnen, daß ich tot bin,« sagte Voltaire. – Sie wollten die Leiche sehen. – Rasend rief er aus: »Dann sagen Sie, daß mich der Teufel geholt hat!«

Ein Engländer hob hervor, daß er die ganze Reise gemacht habe, um Voltaire zu sehen und nicht wieder abreisen wolle, ohne ihn gesehen zu haben. – Aha, sagte Voltaire, er hält mich für ein Tier, das vorgezeigt wird. Sagt ihm, daß das sechs Pfund kostet. – Hier sind zwölf Pfund, sagte der Engländer kaltblütig; aber ich komme morgen wieder.

IV

Der Witz machte Voltaire zu dem durchaus eigenartigen Schriftsteller, der er war. Aber der Witz machte ihn nicht zum Dichter. Im innersten war er Lyriker, und er verriet das nicht einmal so stark, wenn er lyrische Gedichte schrieb, als wenn er seine Tragödien für die Bühne verfaßte. Die Ausführung dieser Dramen ist Voltaires wahre Lyrik; ihr Ausgangspunkt ist stets lyrisch, die Begeisterung für hohe Tugenden, große Menschen, der Hang, Ideale für das Menschengeschlecht aufzustellen, vereint mit dem Drang, die Verdammung des Theaters aus dem Felde zu schlagen, unwiderstehlich darzutun, daß von der Bühne – auf stärker zu Herzen gehende Weise als in der Predigt – die höchste Lehre des Lebens verkündet wird.

Der Ausgangspunkt muß dieser gewesen sein: Voltaire hat etwas in sich brausen fühlen, einen Quell des Gefühls, eine Schwärmerei für Heldenmut, unbedingte Treue, Ritterlichkeit, wie sie im frühen Mittelalter gelegentlich gepflegt wurde und gedieh, und wenn dieser Gefühlsquell von selbst harmonisch zu rieseln begann, danach drängte, in klingende Worte und dauernde Reime gefaßt zu werden, dann suchte und fand er mit Leichtigkeit ein Gebiet, in dem sich der Gefühlsstrom wie in seinem Bett ausbreiten konnte.

So war es, als der 64jährige Voltaire in nicht vier Wochen im Frühjahr 1759 Tancrède schrieb, eine flammende Dichtung über Ritterlichkeit, Liebe und all die Qual die trennende Mißverständnisse den Liebende verursachen, und nicht weniger über all die Qual, die Starrköpfigkeit und gefühllose Härte erzeugen.

Den Stoff fand er in Ariosto, der ihn wieder dem alten französischen Theater entnommen hatte. Was Voltaire aus diesem Stoff machte, erschütterte seine Zeitgenossen, riß sie hin, daß sie schluchzten und mit dem Gefühl aus dem Theater gingen, als hätten sie den Flügelschlag des Genius der Dichtkunst gehört, das schwerste Leid, den edelsten Stolz empfunden, als hätten sie den Kuß der Muse selbst auf der Stirn gefühlt.

Die Handlung ist schnell erzählt: Wir sind in Syracus um das Jahr 1000. Die sicilianischen Ritter liegen im Krieg mit den Sarazenen, die unter ihrem Sultan Solimar die Insel überschwemmt haben, deren Joch Syracus aber abgeworfen hat. Innere Streitigkeiten haben die Ritter bis jetzt zersplittert; jetzt wird die Einigkeit zwischen ihren beiden Parteien hergestellt, und der alte Ritter Argire verspricht seinem früheren Gegner, dem hochmütigen Orbassan, seine Tochter Amenaide als Braut, um die Versöhnung zu bekräftigen. Man beschließt außerdem aus Furcht vor den normannischen Rittern, die begonnen haben, sich in Apulien niederzulassen, den Franken Tankred als Fremden zu verbannen und seine Besitzung Orbassan zu überlassen. Tankred war nämlich lange abwesend gewesen und hatte dem Kaiser von Byzanz gedient. Man fürchtet, daß er Syracus feindlich gesonnen sein könne, man greift den Ereignissen dadurch vor, daß man ihm ohne Veranlassung blutiges Unrecht zufügt.

Aber Amenaide, die in Byzanz sowohl Solimar wie Tankred kennengelernt hat, die sich beide um sie beworben haben, liebt Tankred, leidet unter dem Unrecht, das ihm zugefügt wird, und unter dem Versprechen, das ihr Vater ihretwegen gegeben hat, und sie entschließt sich, Tankred, von dem sie weiß, daß er auf der Insel angekommen ist, einen Brief mit warmen Worten und innigen Wünschen für sein Wohl zu senden. Sie bittet einen treuen Sklaven, diesen zu überbringen. Aus Vorsicht – und weil es sonst zu keiner Tragödie kommt – trägt der Brief keine Aufschrift, und an diesem Umstand hängt das ganze Stück wie in einer Angel.

Der Brief wird aufgefangen, als der Bote in der Richtung auf das mohamedanische Lager geht. Die Ritter sind überzeugt, daß der Brief an Solimar gerichtet ist, und verurteilen Amenaide zum Tode. Sie soll hingerichtet werden.

Tankred kommt an, erfährt, daß ihr Leben bedroht ist, will erst nicht glauben, daß sie schuldig sein kann, ist aber, so bald er von dem Brief an Solimar hört, von ihrem Verrat überzeugt, leidet Qualen, ist von Verachtung erfüllt, will trotzdem aus reinem Edelmut ungenannt als ihr Ritter auftreten, um sie vom Schafott zu befreien. Im Zweikampf besiegt er Orbassan, und sie ist frei. Aber Tankred würdigte sie keines Wortes, und eilt fort, um an Stelle Orbassans als Feldherr das Heer der Ritter gegen die Ungläubigen zu führen. In der Schlacht bleibt er siegreich, wie er es im Zweikampf gewesen; er ist der geborene Sieger. Aber er stürzt sich unter die Feinde, sucht den Tod und wird lebensgefährlich verwundet. Erst als er in seiner Todesstunde auf einer Bahre herein gebracht wird, klärt sich das Mißverständnis auf, und er erfährt, daß der verhängnisvolle Brief an ihn selbst gerichtet war, er fühlt, wie hoch Amenaide steht und welches Unrecht er ihr getan hat, legt seine blutige Hand in ihre und stirbt. Sie sinkt an seiner Seite nieder.

V

Man muß zu allererst beachten, wieviel Persönliches in der Behandlung dieses Stoffes enthalten ist, der Voltaires Persönlichkeit anscheinend so fern liegt. Als Tankred zum erstenmal Amenaide anklagen hört, antwortet er abweisend, daß er Neid und Verleumdung kenne und wisse, was sie vermögen. Er, der verbannt ist, im Unglück aufgewachsen, der seinen Charakter selbst schmieden mußte, während er von Land zu Land irrte, hat überall erfahren, wie der Neid wütet, und will sich deshalb durch nichts Schlimmes, was man über die Geliebte sagt, abschrecken lassen. Als hörte man Voltaire von sich selbst sprechen, heißt es:

Ecoute: je connais l'envie et l'imposture.
Eh! quel cœur généreux échappe à leur injure!
Proscrit dès mon berceau, nourri dans le malheur,
Mais toujours éprouvé, moi, qui suis mon ouvrage,
Qui d'états en états ai porté mon courage,
Qui partout de l'envie ai senti la fureur,
Depuis que je suis né, j'ai vue la calomnie
Exhaler les venins de sa bouche impunie,
Chez les républicains comme à la cour des rois.

Und man fühlt, wenn Tankred, der sonst als französischer Tragödienheld mit so wenigen eigentümlichen Zügen ausgestattet ist, doch eine so feste Haltung und einen so erprobten Mut besitzt, dann beruht es darauf, daß etwas aus der Seele seines Dichters in seine übergeströmt ist.

Auf entsprechende Weise zeigt Amenaide, offenbar, weil ihr Voltaire etwas von der Unanfechtbarkeit seines eigenen Wesens abgegeben hat, einen bei einer so gefühlvoll und hingebend liebenden Frau höchst anziehenden und ungewöhnlichen Stolz. Lange verzeiht sie Tankred nicht, daß er sich durch den Schein täuschen läßt, die Ansicht ihrer Feinde teilt und sie verkennt. Sie will keine Entschuldigung gelten lassen:

Fanie:

Excusez un amant.

Aménaide:

Rien ne peut l'excuser.
Quand l'univers entier m'accuserait d'un crime,
Sur son jugement seul un grand homme appuyé
A l'univers séduit oppose son estime.
Il aura donc pour moi combattu par pitié!
Cet opprobre est affreux, et j'en suis accablée.
Hélas! mourant pour lui, je mourai consolée;
Et c'est lui qui m'outrage et m'ose soupçonner!
C'en est fait; je ne veux jamais lui pardonner.
Ses bienfaits sont toujours présents à ma pensée,
Ils resteront gravés dans mon âme offensée;
Mais, s'il a pu me croire indigne de sa foi,
C'est lui qui pour jamais est indigne de moi.
Ah! de tous mes affronts c'est le plus grand peut-être.

Das ist eine bewunderungswürdige Antwort; sie zeichnet einen ganzen Menschen, eine Frau, die weich ist, ohne schwach zu sein, stolz und fest, ohne deshalb Wohltaten zu vergessen, die ihr Beleidiger ihr erwiesen hat. Ihr Stolz ist also nicht einseitig, sondern reich abgetönt, da er mit Dankbarkeit und Edelmut zusammen gedeiht.

Kein Wunder, daß Mademoisselle Clairon in dieser Rolle unvergleichlich war. Hier lag ein seelisches Fundament, auf dem man aufbauen konnte, wie selten in Liebesrollen. Am ergreifendsten soll sie die Stelle im fünften Akt gespielt haben, in der sie sich von der Freude hinreißen läßt, daß sie Tankred als Sieger wiedersehen soll. An seiner Stelle kommt ein Brief, der mit seinem Blut geschrieben ist, in dem er sie ungerecht anklagt:

»Je ne pouvais survivre à votre perfidie;
»Je meurs dans les combats, mais je meurs par vos coups,
»J'aurais voulu, cruelle, en m'exposant pour vous
»Vous avoir conservé la gloire avec la vie …«
Eh bien, mon père!

Dieser letzte Übergang, der an den harten und kurzsichtigen Vater gerichtete Vorwurf in diesen wenigen Worten hatte auf der Bühne eine Wirkung ohnegleichen.

VI

Voltaire hatte im Tancrède eine metrische Reform versucht. Er hatte mit der Einförmigkeit des tragischen Stils gebrochen und zum erstenmal die Reime sich kreuzen lassen. Es klingt gut und erhöht den Wohllaut, scheint aber die Gewohnheiten der Zuhörer unangenehm berührt zu haben, denn der Versuch wurde nicht wiederholt.

Bei anderen Punkten huldigte er hier wie auch sonst der Gepflogenheit der Tragödie. Tankred und seine Geliebte haben jeder ihren Vertrauten. Wohl wird Fanie die Suivante Amenaides genannt, und Aldamon ist der Soldat Tankreds, aber ihre einzige Aufgabe ist, wie bei allen Vertrauten in den französischen Tragödien, nur einen den Zuhörern wahrnehmbaren Empfänger für die Mitteilungen des Helden und der Heldin abzugeben.

Es ist erstaunlich, wie die Franzosen Geschlechter hindurch in diesem Punkte Sklaven der Überlieferung blieben. Nicht einem von ihnen, nicht einmal Voltaire, ist es ein einzigesmal eingefallen, den Vertrauten seinen Vertrauenden verraten zu lassen, was doch seit der Schöpfung der Welt die Mehrzahl der Vertrauten getan hat; nein, sie sind einer wie alle treu wie Gold und stumm wie das Grab; sie haben auch nicht die Spur eines selbständigen Lebens, leben nur als Behälter für die Ergüsse der Hauptpersonen, und teilen deren Mißverständnisse, Vorurteile, Anschauungs- und Gefühlsweise wie Mette in Wessels Liebe ohne Strümpfe sagt:

Gerecht und billig nenne nichts ich in der Welt,
Wenn ich nicht weiß, daß es der Grete so gefällt.
Das ist die einz'ge Leidenschaft in mir.

VII

Tancrède wurde den beiden Freunden d'Argental und Pont de Veyle vorgelegt, jede Einzelheit wurde besprochen, manche verbessert, wie es der Fall bei Mahomet gewesen war. Als das Stück im September 1759 zum erstenmal aufgeführt wurde, war das ganze Theater hingerissen und wie berauscht. Man war gerührt, begeistert, weinte und bewunderte. Als Beispiel für die Wirkung des Stückes kann das folgende Bruchstück aus einem Briefe von Madame d'Epinay angeführt werden, deren Skepsis und reservierte Haltung wir kennengelernt haben.

Während all dieser Unannehmlichkeiten gelang es mir, Tancrède zu sehen, und ich brach in Tränen aus. Er stirbt, auch die Prinzessin stirbt; aber es ist ein schöner Tod. Es liegt darin etwas rührendes Neues, das einen schmerzlich ergreift und einen zum Beifall hinreißt. Mademoiselle Clairon tut Wunder in diesem Stück, und ihr Ausruf: Eh bien, mon père! … o, liebe Jeanne, sagen Sie niemals eh bien mit dieser Betonung zu mir, wenn Sie nicht wollen, daß ich sterben soll. Übrigens, wenn Sie einen Geliebten haben, so trennen Sie sich morgen von ihm, falls er nicht ein fahrender Ritter ist; diese Ritter sind die einzigen Menschen, die aus einer Frau etwas herzumachen verstehen. Sind Sie tugendhaft, verkünden sie es dem Weltall; sind Sie es nicht, säbeln sie lieber tausend Menschen nieder, als daß sie es eingestehen, und sie essen und trinken nicht, ehe sie bewiesen haben, daß Sie es sind. Nichts kann mit Le Kain verglichen werden, nicht einmal er selbst; übrigens ist das Ganze so voller Schönheit, daß man nicht weiß, wohin man zuerst hören soll.

Der schwache Punkt des Stückes war ja der, daß die ganze Verwicklung mit der drohenden Hinrichtung der jungen Amenaide, ihre Rettung durch Tankred und sein Bruch mit ihr, alles darauf beruht, daß man von einem Briefe ohne Aufschrift glaubt, er sei an einen anderen als den wahren Adressaten gerichtet. Der jedoch, der das Leben mit offenen Augen gelebt und gesehen hat, wieviele Trennungen von früher eng Verbundenen, wieviel Haß, wieviele Feindschaften aus reinen Mißverständnissen entstehen und sich danach ohne vernünftigen Grund hartnäckig halten, wird in dem Mißverständnis des Briefes nur ein Gleichnis der zahllosen, nicht weniger unvernünftigen Mißverständnisse sehen, die Menschen für immer voneinander trennen.

Diderot, der mit Tancrède nicht ganz zufrieden war, war unvorsichtig genug gewesen, in einem Gespräch mit seinem Freunde Damilaville und mit Thiériot kritische Bemerkungen über die Technik des Dramas zu machen. Natürlich teilte der Klatschbruder Thiériot Voltaire augenblicklich mit, daß Diderot dies und jenes einzuwenden habe, und Voltaire bat ihn sofort, weiterzusagen, daß der Dichter leidenschaftlich das Urteil des großen Schauspielkritikers erwarte. Diderot wußte, daß der Patriarch reizbar sein konnte, und er wäre am liebsten davon befreit gewesen, seine Wißbegierde zufriedenzustellen; aber er sagte seine Meinung, die übrigens nur beruhigen und erfreuen konnte: Nichts gegen den ersten Akt einzuwenden. Der zweite Akt sei weniger glücklich, das Interesse werde abgeschwächt. Aber der dritte Akt sei vollendet schön; mit ihm könne nichts auf der Bühne verglichen werden, weder bei Corneille noch bei Racine:

Mein lieber Meister, wenn Sie die Clairon über die Bühne gehen sähen, wie sie sich halb ohnmächtig an die Henker lehnt, die sie umringen, während ihr die Knie versagen, die Augen sich schließen und die Arme niederfallen, als wäre sie tot; wenn Sie den Schrei hörten, den sie ausstößt, als ihr Auge auf Tankred fällt, dann würden Sie stärker als je überzeugt sein, daß das stumme Spiel und die Pantomime manchmal ein Pathos besitzen, das alle Hilfsmittel der Redekunst zusammen nicht erreichen. Ich will Ihnen nicht verbergen, daß ich danach für den vierten Akt zitterte. Aber ich beruhigte mich schnell; schön, schön. Der fünfte Akt schleppt; darin sind zwei Rezitative. Aber geglückt und selten sind die Werke, die nur an ihrem Überfluß leiden, und nur verlangen, daß man von ihnen entfernt, was allzu dicht in ihnen wächst.

VIII

Wenige Jahre später kam Mademoiselle Clairon als Gast Voltaires nach Ferney. Da sie sich geweigert hatte, mit dem Schauspieler Dubois zusammen zu spielen, der bestraft worden war, weil er Betrügereien begangen hatte, war sie in das Gefängnis in For-l'Evêque gesperrt worden, und hatte sofort, nachdem sie daraus entlassen worden war, ihren Abschied von der Comédie française genommen. Voltaire schrieb über sie (22. April 1765): »Wir verlieren Mademoiselle Clairon; aus der Tiefe ihres Gefängnisses, wohin man sie krank geschleppt hatte, hat sie erklärt, daß sie nicht mehr spielt. Da sieht man, wie die ausartende Gewaltherrschaft, die alle Gesellschaftsklassen mit ihrer eisern umwundenen Geißel peitscht, dem Wohl der Öffentlichkeit dient. Die edlen Kammerherren am Hofe jagen anständige Schauspieler vom Theater, weil sie nicht mit Schlingeln haben spielen wollen, die von den Hofleuten selbst eine Zeitlang fortgejagt waren.«

Als Voltaire erfuhr, daß die Schauspielerin in Lyon war, sandte er ihr schnell eine Einladung: »Sie werden in unserem Hause nur Anhänger, Bewunderer, Freunde finden. Hier werden die schönen Künste geehrt und besonders Ihre Kunst; man verabscheut Ihre Feinde. Hier ist ein Tempel, in dem Weihrauch vor Ihnen brennt.«

Noch ehe er eine Antwort erhielt, beeilte er sich, sein Theater wiederherzustellen. Er hatte nämlich aus Ekel vor all der Schererei, die ihm die Theateraufführungen im Schloßsaal seitens der Mucker verursacht hatten, aus Müdigkeit durch die vielen Gäste, die zu diesen Vorstellungen herbeiströmten und die er beherbergen mußte, auch wegen der Schwierigkeit, stets eine genügende Anzahl von Dilettantenschauspielern zu haben, den Saal in einen Lagerraum für sein vieles Leinen umändern lassen. Nun wurde es plötzlich nötig, den Saal zu räumen und das Theater wieder aufzubauen. Er konnte die große Künstlerin unmöglich empfangen, ohne ihr eine Bühne zu bieten.

Sie kam Ende Juli in Ferney an. Es war 17 Jahre her, seit Voltaire sie gesehen hatte. Als sie ankam, warf sie sich vor Voltaire auf die Knie. Er seinerseits kniete vor ihr, so, wie in dem alten, von Shakespeare umgearbeiteten Drama vom König Leir zuerst Cordelia, dann der König voreinander niederknien. Voltaire brach die feierliche Stimmung und sagte: »Und nun, Mademoiselle, wie geht es Ihnen?«

Sie wurde wie eine Fürstin empfangen, und sie gab bereitwillig ihr Einverständnis, die Elektra in Oreste und Aménaide in Tancrède zu spielen. Voltaires Gegenwart feuerte sie so an, daß sie sich selbst übertraf. Nicht einmal in der Comédie française hatte sie sich so gegeben wie hier auf der kleinen Bühne im Saal. Voltaire schrieb (22. August 1765): »Clairon spielte Aménaide ganz überlegen, aber als Elektra erschütterte sie die Alpen und das Juragebirge. Die, die sie in Paris gesehen haben, sagen, daß sie dort nie so neuartig, so wahr, so erhaben, so erstaunlich, so aufreibend gespielt hat wie hier.«

Tronchin, der zugegen war, bestätigt diesen begeisterten Ausbruch durch einen Brief an den Grafen d'Albaret: »Warum waren Sie nur nicht in Ferney, mein lieber d'Albaret, als die Clairon unsere Seelen zerriß. Sie hätten Madame Denis zittern sehen, Voltaire heulen hören. Sie hat mir auch gesagt, daß sie alles gegeben hat, was sie überhaupt zu leisten vermag.«

Voltaire wollte der Schauspielerin huldigen durch ein Fest, das ihrer würdig war. Das geschah in einer ruhigen Augustnacht, damit die tausend Lichter, die er auf dem Schloß anzünden ließ, von keinem Windhauch verlöscht oder bewegt wurden. Im Stile der Zeit brachten ein kleiner Hirte und eine kleine Hirtin, die ganz in Weiß gekleidet waren, der schönen Aménaide einen Korb voll Blumen, und Hirtin und Hirte sangen einen Wechselgesang, den Voltaire ihr zu Ehren geschrieben hatte, und dessen erste Strophe lautete:

Dans la grand'ville de Paris
On se lamente, on fait des cris,
Le plaisir n'est plus de saison;
La comédie
N'est plus suivie,
Plus de Clairon!

Den Hirten spielte der zehnjährige Florian, der später so beliebte, etwas flache Idyllendichter, der erst Page beim Herzog von Penthièvre, später Dragoneroffizier wurde. Er hat uns eine Beschreibung des Festes gegeben. Als das Lied gesungen war, flog Mademoiselle Clairon Voltaire um den Hals, küßte danach den Knaben und fand auf dem Boden des Blumenkorbes ein schönes Kleid aus persischem Stoff, der damals als das feinste von allem galt. Darauf folgten ein prachtvolles Feuerwerk im Garten und ein Abendessen, bei dem die schöne Dame unter einem Thronhimmel von Blumen saß, während ihr Wohl in Tokajer getrunken wurde.

IX

Mit jedem Tage wurde Ferney ein immer stärker gesuchter Versammlungsort der hervorragenden Männer und Frauen Europas; an jedem Tage arbeitete Voltaire daran, in seiner Gegend Zufriedenheit um sich zu verbreiten. Jetzt war die Kirche, die er hatte bauen lassen, fertig. Er hatte vom Bischof in Annecy die Erlaubnis erhalten, die alte, häßliche Kirche in Ferney, die gerade am Eingang zum Schlosse lag, niederzureißen und auf seine Kosten eine neue aufführen zu lassen. Er selbst führte die Aufsicht bei der Arbeit, sowohl beim Niederreißen wie beim Aufbau, voll Eifer, wie er stets war, das, was er sich vorgenommen, vollendet zu sehen.

Es wird erzählt, daß er im Interesse der Arbeit ein großes Holzkreuz hatte entfernen lassen, das am Eingang zum Kirchhof stand, ohne erst um die Erlaubnis nachzusuchen, die in solchen Fällen eingeholt werden mußte. Er soll sogar zu den Arbeitern gesagt haben: »Ach, nehmt den Galgen weg!«

Gleichgültig, ob die Anekdote wahr ist oder nicht, der Pfarrer in Moens, dem Voltaire ein Greuel war, zeigte ihn an und forderte den Priester in Ferney auf, das Sakrament in seine eigene Kirche in Moens zu verwahren, wobei er (ihm wie den Einwohnern gegenüber) behauptete, daß Voltaire ihre Kirche entweiht habe. Erschrocken gehorchte der Priester in Ferney und trug in großem Aufzug in Begleitung der weinenden Gemeindekinder das Sakrament nach Moens.

Die Gerechtigkeit schritt ein und leitete eine Untersuchung ein, worauf sich Voltaire mit gewohnter Kühnheit an den Papst selbst wandte, erstens durch den Kardinal Passionei, der ihm bereits einmal als Vermittler gedient hatte, jetzt aber starb, ehe eine Antwort kam, danach durch den Herzog von Choiseul, den französischen Außenminister. Voltaire sandte den Plan seiner Kirche nach Rom und erbat sich, wie bereits erwähnt, Reliquien, die er in der Kirche unterbringen konnte. Benedikt war wie früher sehr aufmerksam und sandte eine Hinterlassenschaft des »Patrons Voltaires«, das härene Hemd des heiligen Franciscus von Assisi. Der ungläubige François fühlte sich nicht versucht, sich das anzuziehen, freute sich aber darüber, daß es seiner Kirche Glanz verleihen würde.

Bekanntlich ließ er auf der Außenwand der Kirche die Worte eingraben Deo erexit Voltaire. Er sagte zu dem Engländer Richard Twiss, der ihn besuchte: »Diese Kirche, die ich habe bauen lassen, ist die einzige, die Gott allein geweiht ist; alle anderen sind männlichen oder weiblichen Heiligen geweiht. Ich baue eine Kirche lieber dem Herren als seinen Dienern,« und in einem Briefe vom 26. Oktober 1761 schrieb er: »Ich habe eine Kirche und ein Theater gebaut; ich habe bereits meine Mysterien auf dem Theater gefeiert, habe aber noch keine Messe in meiner Kirche gehört. An einem und demselben Tage habe ich Reliquien vom Papst und von Madame de Pompadour ihr Portrait erhalten.«


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