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Jean Jacques Rousseau

I

Jean Jacques Rousseau, dessen Name von der Nachwelt mit dem Voltaires verknüpft worden ist, hat in seinem Leben für Voltaire nicht viel bedeutet. Aber beide geben ein Beispiel – unter vielen – ab für gleichzeitige Genies, die einander beleuchten, während sie sich lange mißverstehen und sich zum Schluß gegenseitig verabscheuen.

Voltaire ist über ein halbes Jahrhundert alt und weit berühmt, als Rousseau zum erstenmal seine Existenz berührt.

Der Herzog von Richelieu hat Rousseau aufgefordert, Voltaires Festspiel Die Prinzessin von Navarra für die Aufführung am Hofe mit Rameaus Musik herzurichten.

Dieser sendet Voltaire die Bearbeitung: »Mein Herr, fünfzehn Jahre lang habe ich gearbeitet, mich Ihrer Blicke und der Fürsorge würdig zu machen, mit der sie die Jungen begünstigen, bei denen Sie etwas Talent entdecken.« – Er bittet ihn, die Stellen anzugeben, wo er sich von dem Schönen und Wahren, d. h. von dem Gedanken Voltaires entfernt habe.

Voltaire antwortet als grand seigneur, äußerst höflich – und gleichgültig: »Sie vereinen zwei Talente, die bisher stets getrennt gewesen sind [die des Musikers und Dichters]. Das sind für mich zwei gewichtige Gründe, Sie zu schätzen und zu versuchen, Sie gern zu haben. Es tut mir leid, daß Sie diese beiden Talente auf ein Werk verwenden, das Ihrer nicht ganz würdig ist. Doch glücklicherweise ist es in Ihren Händen; Sie sind unbedingt Herr darüber.«

Voltaire hatte in Rousseaus jungen Jahren einen starken Einfluß auf ihn ausgeübt. Die Lektüre Voltaires regte nach eigener Aussage Rousseau an, sich mit Eleganz auszudrücken, und was er das »schöne Kolorit« des Stils nennt, nachzuahmen. Die Lettres philosophiques belehren ihn, wenden seine Gedanken nach England, von wo er wie Voltaire so viele Gedanken holen sollte, die in Frankreich Epoche machten. Die Tragödie Alzire bewegt ihn als Zuschauer so, daß er nicht atmen kann, Herzklopfen bekommt, mehrere Tage danach krank ist; sie ist ihm »das Große, Erhabene, Pathetische«. (Brief an Frau de Warens).

Rousseau gehört ursprünglich zu der kleinen Phalanx, die damals Philosophen genannt wurden, die wie Diderot, D'Alembert, Helvetius und andere die freidenkerische Kultur ihrer Zeit fördern wollten und in Voltaire ihren bedeutendsten Mann sahen.

Er entfernt sich zum erstenmal von der Gruppe, als die Akademie in Dijon 1749 ihre Preisaufgabe stellt: Hat die Erneuerung der Wissenschaften und Künste die Sitten gefördert oder verdorben?

Diderot fragt ihn: Welche Stellung werden Sie einnehmen? – Natürlich die bejahende. – Das ist die Eselsbrücke, antwortet Diderot mit seiner Bewunderung der Zustände auf Tahiti und seinem Sinn für Wirkung und Paradoxe. Alle Mittelmäßigkeiten werden den Weg gehen. Der entgegengesetzte bietet dem Denken und der Beredsamkeit neue Gebiete.

Diese Äußerung gab Rousseau den Anstoß, sich zu dem zu entwickeln, der er schließlich wurde. Dadurch wurde der revolutionäre und religiöse Plebejer sich seines Wesens bewußt. Er teilte nicht die unschuldige Überzeugung der Philosophen von einem ständigen Fortschritt auf allen Gebieten. Er war ein Sonderling, wie sie Gesellschaftsmenschen waren. Er war ein Wanderer; sie hatten sich niedergelassen. Er war ein Landschaftsmaler, während sie nur die Allnatur liebten, die sie erforschten, die Landschaft, die sie vor Augen hatten, den Boden, den sie besaßen. Er war ein Instinktmensch, der sich im Zustand des Zweifels unglücklich fühlte, während sie als Denker zu allererst den Zweifel wecken mußten. Er hatte eine Neigung zum Respekt wie Voltaire zum Spott. In seinem Haß gegen den Zweifel wurde er ein aufrührerischer Doktrinär und Dogmatiker.

In seinem Buch griff er die Literaten seiner Zeit als Schmarotzer bei hohen Herren an. »Das ist der Lebensweg unserer Schöngeister, falls man einen ausnimmt.« (Er meint Diderot). Voltaire bekam den folgenden Hieb ab: »Sag uns, berühmter Arouet, wieviel männliche Schönheit du unserer falschen Feinheit geopfert hast, wieviele große Werke dich der Geist der Galanterie, der bei kleinen Dingen so fruchtbar ist, gekostet hat?«

Voltaire nahm von dieser Stichelei keine Notiz, die ihn außerdem nicht traf. Er hatte seinem Temperament niemals irgendeinen Zwang auferlegt. Er fühlte nicht, daß für Rousseau ein Gegensatz zwischen dem glänzenden Schöngeist und dem schaffenden Genie bestand, der ihm mit Recht fremd war. Er war beides.

Voltaire hatte einen lächerlichen, geringfügigen Zusammenstoß gehabt mit einem Herrn Rousseau, der im Théâtre français eins seiner Stücke auszischte, und da er diesen Rousseau für Jean Jacques hielt, und sich über dessen Undankbarkeit äußerte, gab dies dem richtigen Rousseau Veranlassung zu einem ehrerbietigen und stattlichen Brief, in dem er zum Schluß sagt: »Ich finde mich darin, unbekannt zu leben, aber nicht ehrlos, und ich würde mich für ehrlos halten, falls ich es an der Achtung fehlen ließe, die Ihnen jeder Schriftsteller schuldet, und die alle Ihnen gegenüber hegen, die selbst Achtung verdienen.«

Inzwischen begann Rousseau, persönlich eine Diogeneshaltung anzunehmen, wie er sie literarisch angenommen hatte. Er reformierte seinen Anzug, gab die Goldstickerei am Rock und die weißen Strümpfe auf; er legte seinen Degen fort, verkaufte seine Uhr, setzte eine unansehnliche dunkle Perücke auf. – Die Perücke fortzuwerfen war undenkbar.

Es lag in seinem Ursprung und in seinem früheren Lakaien- und Landstreicherleben, daß er sich außerhalb der Gewohnheiten der guten Gesellschaft wohl fühlte. Wie Madame d'Epinay von ihm sagte: »Er konnte Komplimente sagen, aber nicht höflich sein. Er war ja auch kein Franzose sondern ein Schweizer, und die Schweizer, die ein Bergvolk sind, sehen wie gelegentlich die Norweger auf die Höflichkeit wie auf eine untergeordnete Sache herab.«

Jetzt, da er seine Verachtung der Mode zur Schau trug, wurde er Mode. Er wurde von Menschen überlaufen, die ihn kennen lernen wollten.

Er komponierte Le Devin du village. Der König, die Königin und der Hof sahen die Oper in Fontainebleau, Rousseau war bei der Aufführung im gewöhnlichen Anzug, mit Bartstoppeln und ungekämmter Perücke zugegen. Er vermied den König und kam um das ihm zugedachte Jahresgehalt, da er zu schwach war, sich der Möglichkeit auszusetzen, während des Wartens auf Audienz nicht einen Augenblick hinauszugehen.

Damals knüpfte der arme kränkliche Mann (der an Urinstauungen, Arterienverkalkung und noch mehreren Gebrechen litt) seinen lebenslänglichen Bund mit der früheren Kellnerin Therese Levasseur, die gleichmäßig von Schönheit und Begabung entblößt war, nicht lesen, kaum schreiben konnte, weder die Jahreszahl noch die Wochentage kannte. Dies arme Geschöpf bekam nacheinander fünf Kinder, – vielleicht von Rousseau, vielleicht von anderen – die Rousseau sämtlich ins Findelhaus brachte. Das war jedoch tiefes Geheimnis, das erst spät gelüftet wurde. Rousseau gab dann verschiedene Gründe für sein Verhalten an, erstens, daß es damals Sitte und Brauch war, und daß es sich darum handelte, Thereses Ehre zu retten, dann daß er als Bürger und Vater handelte, wenn er die Kinder Arbeiter und Bauern werden ließ anstatt Abenteurer und Glücksjäger.

II

Jean Jacques hatte sich im Alter von sechzehn Jahren vom Calvinismus zum Katholizismus bekehren lassen. Als er, 42 Jahr alt, nach 26jähriger Abwesenheit aus seiner Geburtsstadt nach Genf zurückkam, wechselte er die Religion aufs neue, und erhielt dadurch seine verlorenen Bürgerrechte zurück.

Er wurde glänzend empfangen und versprach, sich im nächsten Frühjahr, also 1755, in Genf niederzulassen.

Doch gerade damals ging Voltaire – nach seinem mißglückten Abenteuer mit Friedrich dem Großen – nach der Schweiz unter dem Vorwand, bei dem berühmten Genfer Arzt Tronchin Rat und Hilfe zu suchen, in Wirklichkeit »um seine Kleider nach dem Gewitter trocknen zu lassen«, wie er in Vertraulichkeit gesteht.

Er kaufte die Besitzung Les Délices durch Tronchin als Mittelsmann; denn ein Katholik – so wenig er auch Katholik war – durfte in der Republik Genf nicht Grundbesitzer werden. Nach seiner Gewohnheit richtete er dort sofort ein Haustheater ein.

Kurz nach seiner Rückkehr nach Paris beteiligte sich Jean Jacques an dem Wettstreit um den neuen Preis der Akademie in Dijon: Über den Ursprung der Ungleichheit zwischen den Menschen und über ihre Grundlage.

Er widmete sein Buch der Republik Genève und in einem langen Vorwort verherrlicht er ihre Einrichtungen. Er kann sich keine bessere Verfassung vorstellen; sie ist von der erhabensten Vernunft diktiert; die Obrigkeit ist die beste der Welt; die Priester sind ehrwürdige Seelenhirten, eifrige Bewahrer heiliger Dogmen usw.

Aber das Buch, das die Gleichheit aller Menschen in einem angeblichen idyllischen Naturzustand verkündet und der Gesellschaft und der Kultur Schuld an der Ungleichheit gibt, konnte der aristokratischen Regierung in Genf nicht gefallen. Der Rat antwortete höflich aber kühl, während Rousseau Begeisterung erwartet hatte.

In dem Buch verfolgt Rousseau seinen paradoxen Gedankengang und kommt zu dem abschreckenden Satz: »Der Mensch, der denkt, ist ein entartetes Tier«. Im Grunde wollte er mit diesem häßlichen Satz sagen: Das Gefühl ist eine selbständige Macht im geistigen Leben. Da es sich vor der Vernunft regt, ist es natürlicher als die Vernunft. Es gibt uns unseren eigentlichen Wert. Das war nicht zu bezweifeln, aber auch nicht verblüffend. Er wollte verblüffen.

Voltaire, der in dem Buch über die Kultur als einer verderblichen Macht eine Caprice gesehen hatte, stutzte doch stärker bei dieser Fortsetzung; aber Rousseau war der Freund aller Encyklopädisten, und als Feldherr war der Mann mit dem klugen Blick gegen jede Zersplitterung der Truppen. Er verstand den tieferen Sinn des Buches nicht, antwortete aber auf die Übersendung des Buches höflich und voll guter Laune: »Ich habe Ihr Buch erhalten, das Sie gegen das Menschengeschlecht geschrieben haben, und danke Ihnen dafür. Es ist unmöglich, mit stärkeren Farben die Schrecken unserer Gesellschaft zu malen, von der sich unsere Schwachheit und Unwissenheit so viel verspricht. Niemals wurden wir mit so vielem Witz verdammt. Beim Lesen bekommt man Lust, auf allen vieren zu gehen. Da es jedoch 60 Jahre her ist, seit ich diese Gewohnheit aufgab, ist es mir leider unmöglich, sie wieder aufzunehmen, und ich überlasse diese natürliche Haltung Menschen, die ihrer würdiger sind als Sie und ich.«

Er nennt sich einen friedlichen Wilden in der Einsamkeit, die er sich in der Nähe der Geburtsstadt Rousseaus erwählt hat, wo dieser selbst wohnen sollte. Mit Sorge hat er gehört, daß Rousseaus Gesundheit nicht gut sei. Er soll sie im Klima seiner Heimat wiederherstellen. Kommen Sie und trinken Sie die Milch unserer Kühe mit mir, und sollen Sie auf Gras gehen, dann tun Sie es hier!

Rousseau dankt geschmeichelt: »Als ich Ihnen meine bekümmerten Träumereien sandte, glaubte ich nicht, Ihnen eine Gabe zu überreichen, die Ihrer würdig war, sondern wollte nur eine Pflicht erfüllen und Ihnen die Huldigung erweisen, die wir alle Ihnen als dem Führer schuldig sind.« Er dankt für die Ehre, die Voltaire durch seine Niederlassung seinem Vaterlande bereitet, und bittet ihn, ein Volk aufzuklären, daß seiner Belehrung wert sei und es zu lehren, die Tugenden und die Freiheit zu lieben.

Nun war der Augenblick gekommen, wo Rousseau, der stets verkündet hatte, Paris zu verabscheuen, nach Genf übersiedeln sollte; aber nun fühlte er, daß das unmöglich wäre. Er wollte der Erste in Genf sein – und Voltaire war dort. Die Gegenwart Voltaires verschloß ihm die Tore Genfs. Er bat Madame d'Epinay, ihm das kleine Haus Eremitage bei Montmorency zu überlassen. Der Vorkämpfer der Gleichheit nahm die Gastfreundschaft der Frau eines Bankiers an. Der barsche Verteidiger der Tugend fühlte sich wohl in jener überkultivierten und am freiesten der Liebe huldigenden Gesellschaft.

III

Im November 1755 ereignete sich das Erdbeben in Lissabon. Zwei Drittel der Stadt und 30 000 Menschen gingen zugrunde. Dies Ereignis machte auf die Mitwelt den tiefsten Eindruck, veranlasste die reifsten Menschen, ihre Lebensanschauung erneut zu prüfen. – Man vergleiche damit den geringen Eindruck, den die vulkanischen Ausbrüche des Mont Pelé oder des Ätna auf unsere Zeit gemacht haben. – Die damalige Weltanschauung beruhte auf dem Leibnizschen Optimismus: Gott hat sich wohl alle möglichen Welten denken können, aber nur die bestmögliche schaffen können; wenn es in dieser Welt Unvollkommenheiten gibt, dann nur deshalb, weil eine Welt ohne diese unmöglich wäre.

Ganz im allgemeinen beruhigte man sich bei dem Gedanken, daß diese Welt die bestmögliche aller möglichen Welten sei.

Nun kam diese große Zerstörung einer ganzen Stadt. Was war der Sinn? Man konnte doch schwerlich glauben, daß die 30 000 Umgekommenen schlechter oder sündiger als andere Einwohner der Stadt seien. Wo war hier der Finger der Vorsehung zu spüren?

Voltaire hatte, wie fast alle Nichtrechtgläubigen jener Zeit, an dem Dasein eines Gottes nicht gezweifelt. Er brauchte ihn physikalisch, um die Welten in Gang zu setzen, brauchte ihn moralisch, um nach dem Tode Lohn oder Strafe erteilt zu sehen; wenn er nicht dasei, müßte man ihn erfinden. Innerhalb dieses Ringes bewegte sich sein geistiges Leben.

Aber die Zerstörung Lissabons erschütterte seinen Optimismus; nein, es war nicht alles gut. Und er schrieb sein Gedicht Le désastre de Lisbonne: Alles wird einmal gut sein, – das ist unsere Hoffnung. Alles ist bereits jetzt gut – das ist eine Sinnestäuschung. Die Weisen haben sich geirrt. Gott allein hat recht. Ich wage nicht, mich gegen die Vorsehung zu erheben:

Un jour tout sera bien, voilà notre espérance,
Tout est bien aujourd'hui, voilà, l'illusion.
Les sages se trompaient, et Dieu seul a raison.
Humble dans mes soupirs, soumis dans ma souffrance
Je ne m'élève point contre la Providence.

Die Pfarrer in Genf baten Rousseau zu antworten. Er war von vornherein voller Galle. Er fand Voltaires Stellungnahme lächerlich: »Der arme Mann, der von Glück und Ehren überhäuft ist, deklamiert mit Bitterkeit über das Elend des Lebens.« Er selbst, der arm und unglücklich ist, wird Voltaire beweisen, das alles gut ist, daß Voltaires Gott ein Teufel ist, ein Wesen, das Böses tut:

Es ist doch ganz deutlich nicht Gottes, sondern der Menschen Schuld, daß Lissabon zugrunde ging. Gott wollte, sie sollten im Naturzustand verbleiben, in Erdlöchern oder zerstreuten Hütten wohnen. Dann hätte ihnen das Erdbeben nichts getan. Sie zogen in großen Städten zusammen, daher das ganze Elend.

Und er richtete an Voltaire einen langen Privatbrief, den er später zu veröffentlichen gedachte. Darin heißt es: Der Himmel verhüte, daß ich den unter allen meinen Mitmenschen kränke, dessen Talente ich am höchsten schätze, und dessen Schriften am stärksten mein Herz bewegen; aber es handelt sich um die Sache der Vorsehung, um die Vorsehung, von der ich alles erwarte.

Rousseau hoffte auf eine Antwort von Voltaire, einen dramatischen Zusammenstoß mit dem bekanntesten Mann seiner Zeit, ein Turnier, in dem er Gelegenheit haben würde, als der Ritter der Vorsehung aufzutreten.

Aber Voltaire ging nicht in diese Falle, gönnte außerdem den Feinden der Philosophie nicht das Schauspiel, zwei Freidenker gegeneinander Sturm laufen zu sehen. Statt einer theologischen Streitschrift sandte er Rousseau ein höfliches Billet: seine Nichte sei krank; er pflegte sie; auch ihm selbst sei durchaus nicht wohl. Unter solchen Umständen lasse er die Metaphysik liegen. Aber er versicherte Rousseau, daß keiner, der ihn gelesen, ihn höher schätze, und daß keiner – wenn Rousseau nach Genève käme – ihn inniger lieben würde.

Die Antwort an Rousseau erfolgte erst vier Jahre später. Sie wurde weltberühmt. Sie heißt Candide.

IV

Genf wurde von den Lehren Calvins beherrscht; Schauspiel und Theater waren unbedingt verboten. Sogar Marionetten-Vorstellungen waren dort unmöglich. Als D'Alembert unmittelbar, ehe er den Artikel Genf für die Enzyklopädie schreiben sollte, Voltaire besuchte, bat dieser um die Erlaubnis, einige Zeilen über das Theater einzufügen:

»Das Schauspiel wird in Genf nicht geduldet; man fürchtet die Putzsucht, die Zerstreuung, den Leichtsinn, die es angeblich verursacht. Jedoch dagegen könnte man ja strenge Gesetze erlassen, und das Theater würde dann den Geschmack der Bürger bilden und ihnen das Feingefühl geben können, das sonst kaum zu erwerben ist.«

Die Einwendungen jener Zeit gegen das Theater sind uns so fremd, daß wir über sie lächeln: es fördert die Putzsucht. Die Verteidigung erscheint uns nicht minder seltsam: es bildet ein Feingefühl heraus, das sonst schwer zu erwerben sei.

Wie zäh die europäischen Vorurteile sind: nach Shakespeares Tod schließt der Puritanismus alle Theater in England vor seinem Lebenswerk. Port-Royals Verurteilung der Bühnenkunst bewegt Racine, das Theater aufzugeben. Mehr als hundert Jahre nach Shakespeares Zeit verschließt der Pietismus in Kopenhagen das Theater vor Holberg und der Calvinismus in Genf das Theater vor Voltaire.

Die Pfarrer in Genf gerieten über die Bemerkung in der Enzyklopädie in Aufregung und Tronchin versuchte vergebens, D'Alembert zu veranlassen, sie zu widerrufen, erhielt auch anfangs von Rousseau eine Absage, als er ihn um eine Entgegnung bat.

Erst als dieser ahnte, daß die Bemerkung von Voltaire stammte, ergriff er die Gelegenheit, seinen großen Rivalen zu ärgern, und schrieb seine Briefe über Schauspiele.

Er ließ sich auch durch die Betrachtung nicht abhalten, daß es sich für einen dramatischen Schriftsteller, Opern- und Text-Komponisten nicht gerade paßte, vor den Gefahren des Theaters zu warnen. Er ließ sich allein von seiner Sucht leiten, Voltaire zu Leibe zu gehen. Voltaire ist der Inbegriff alles dessen geworden, was er haßt: Voltaire ist vornehm, liebenswürdig, spöttisch; er selbst ungeschickt, unliebenswürdig, feierlich. – Voltaire ist geistreich und boshaft witzig; er selbst ernsthaft und von trübsinniger Genialität. – Voltaire ist nicht fromm, aber ordnungliebend; er selbst naturfromm und aufrührerisch. – Voltaire in der Politik tatsächlich und vorsichtig; er selbst idealistisch und umstürzlerisch. Voltaire ist besonders alles, was er beneidet: er ist reich, zufrieden, bewundert.

Rousseau greift die dramatische Kunst an wie nach ihm Tolstoi, sein großer Nachfolger: die Tragödie ist verderblich. Die Zuschauer werden durch erdichtete Leiden gerührt, gegen die wirklichen verhärtet. Die Komödie ist verderblich. Ihre Moral ist nicht, daß man nicht lasterhaft sein solle, sondern daß man nicht lächerlich sein darf. Molières Theater ist die Schule des Lasters. Molière lacht über seinen Alceste, den anständigsten Menschen. Die Errichtung eines Theaters in Genf, einer kleinen Stadt von 20 000 Einwohnern, würde die Stadt zerstören. Sie soll Freiluftfeste, Paraden, Schützenfeste, Wettsegeln haben. Das Schauspiel ist unschädlich in einer verdorbenen Stadt wie Paris, aber nicht in dem unschuldigen Genf.

Sicher war sein Devin mit der Zurschaustellung tanzender Mädchen für die Tugend schädlicher als Molières Misanthrope. Aber all dies war ja Herausforderung Voltaires, wenn auch in Rousseaus Brief Voltaires Cäsars Tod und Brutus vorsichtigerweise von den schädlichen Schauspielen ausgenommen werden. Doch Voltaire schwieg.

Die Bürgerschaft in Genf war entzückt. Voltaire mit seinem Haustheater war plötzlich ein Schrecken geworden. Er wurde öffentlich verhöhnt. Auf seinen Herrensitz wurden drohende und schmähende Anschläge geklebt. Er entschloß sich denn, den Ort zu verlassen, verkaufte mit großem Verlust Les Délices, wie er schreibt, »damit die Priester Baals ihn nicht verbrennen sollen«.

Er kaufte die Herrensitze Ferney und Tournay auf der anderen Seite der Grenze und baute dort sofort nicht weniger als zwei Theater. Ununterbrochen gab er in Tournay Privatvorstellungen, bei denen sich die Genfer Aristokratie im Schloßsaal drängte, ja sogar ständig mitspielte.

V

Während einer Pause in den Beziehungen zwischen den beiden großen Schriftstellern ereignen sich jetzt entscheidende Begebenheiten im Leben Rousseaus. Er verliebt sich und hat die irrsinnige Idee, daß die Vicomtesse von Houdetot ihn liebe. Er belästigt sie vergeblich. Ihr Geliebter Saint-Lambert, der beim Heere ist, erhält einen anonymen Brief, der ihn warnt. Rousseau ist so töricht, Frau d'Epinay anzuklagen, diesen geschickt zu haben, während er zweifellos von Therese herrührte; er schickt seiner Wohltäterin beleidigende Briefe, bekommt noch dazu die Idee, daß sie bei einer von ihm vermuteten Schwangerschaft ihm Vaterwürden anhängen will, während ihr Geliebter, Grimm, der rechte Vater sein solle, und er klagt sie wegen dieser Schlechtigkeit bei Diderot an.

Bruch mit ihr, mit Frau d'Houdetot, mit Saint-Lambert, mit Grimm und mit Diderot, weil dieser im Vorwort zu Le fils naturel geschrieben hat: »Nur der schlechte Mensch ist einsam«, und Rousseau sich einbildet, daß damit auf ihn gezielt sei.

So brach Rousseau mit der ganzen philosophischen Partei, und die Salons, in denen man die Philosophen haßte, öffneten sich vor ihm.

Er, der so viel Schlechtes über den Hochadel gesagt hatte, der sich so streng gegen die literarischen Schmarotzer gezeigt hatte, wurde der Gast des Marschalls von Luxembourg und seiner Frau, der Herzogin, auf deren Schloß in Montmorency. Die Herzogin, die wegen ihrer Leichtfertigkeit verschrien war, war nun von ihren Anbetern verlassen; ihre Schönheit war fort; aber sie war geistreich und gut erzogen, und war für Rousseau begeistert. Bei ihr versammelte sich Frankreichs vornehmste Gesellschaft, und bei ihr traf er täglich den Prinzen von Conti, einen Bourbon, der sein Beschützer wurde, und dessen nahe Freundin, die Gräfin von Boufflers, die reich an Kenntnissen und fein gebildet, Rousseau schätzte. Nach seiner Gewohnheit bildete er sich ein, die Gräfin wäre in ihn verliebt, aber aus Respekt für Conti hielt er sich doch zurück.

Während sich Voltaire in vornehmer Gesellschaft mit vollkommener Ungezwungenheit bewegte, wirkte Rousseau durch Unhöflichkeit und Schroffheit. Er schlug dem Prinzen von Conti ein Stück Wild aus, das dieser ihm anbot. Die Gräfin schrieb ihm: »Der Prinz billigt Ihre allzu große Delikatesse nicht, aber obgleich er selbst weit entfernt ist, sie verdächtig zu finden, fürchtet er, andere können darin eine Gespreiztheit sehen.«

In diesen Kreisen sprach Rousseau unaufhörlich gegen Voltaire, und füllte auch seine Briefe mit heftigen Ausfällen gegen ihn. Aber Voltaire tat weiterhin, als merkte er nichts. Von 1759 an bot er ihm sogar verschiedentlich durch den Genfer Chappuis einen Landsitz an, den er in seiner Nähe gekauft hatte.

Noch beschäftigte Rousseau nämlich Voltaire nicht. Zwar hatte der andere ihn fühlbar getroffen, als er durch seinen Appell an die mittelalterliche Auffassung vom Theater als der Stätte der Sünde die rein privaten Aufführungen von Voltaires eigenem unschuldigen Schauspiele in Alexandrinern verhinderte, die von jungen Dilettanten im Schloßsaal gegeben wurden und schließlich diese Vorstellungen unmöglich machte; aber niemals hatte Voltaire in Rousseau einen Nebenbuhler gesehen. Jean Jacques dagegen hatte von seinem Erwachen als geistiges Individuum an Voltaire stets vor Augen gehabt, hatte ihn bewundert, ihm nachgeahmt, ihn gehaßt und ihn gereizt. Jetzt fühlte er, daß er ihm gegenüber ein neues Prinzip vertrat und hatte ihn ständig auf den Fersen.

Die beiden Kampfgeister waren außerstande zum Zusammenleben und gemeinsamen Wirken. Der eine, der ebenbürtige Gegner der katholischen Kirche, der Inquisition und der politischen Alleinherrschaft, lehrte seine Zeitgenossen eine ganz neue Anschauungsweise, die kritische, und gab zum erstenmal dem Spott einen Wert als Waffe, der allein mit dem verglichen werden kann, den das Pulver vor Jahrhunderten erhalten hatte. Der andere, der fanatische Bußprediger seiner Zeit, der Prophet der Demokratie, teilte seinen Zeitgenossen eine ganz neue Art des Gefühles mit, besonders eine neue Art, die Natur zu sehen, zu fühlen, zu lieben und zu beschreiben, weiter eine Denkungsart, die die Urteilskraft dem Gefühl unterwarf und das Empfinden so revolutionierte, daß es zu einer Sprengkraft in der alten Gesellschaft wurde.

Der eine zuerst ein geistiger Erwecker und Einweiher – u. a. in die Engländer Newton, Locke und Shakespeare – ein Schriftsteller mit erlesener Sprache, ausgesuchtem Geschmack; später ein geistiger Hüter und Erhalter der Schätze der Nation.

Der andere der Lobredner der unberührten Natur, der deklamierende Apostel der Einzelpersönlichkeit, von dem zuerst die Revolution, dann die Romantik ausgingen.

Beide Jahrhunderte hindurch befruchtende Geister, wie seit dem Altertum keine anderen Größen vor ihnen.

Voltaire war die geistige Nahrung von Geschlechtern. Von ihm haben ihre Herkunft u. a. Paul Louis Courier, Byron, Heine, Edmond About, in unserer Zeit Anatole France. Rousseau, der in unseren Tagen Schüler wie Tolstoi und Strindberg hat, erzeugte Chateaubriand und George Sand, befruchtete Herder und Goethe, dessen Werther von Der neuen Héloïse abstammt, und Schiller, dessen Gedicht Rousseau den verherrlicht, der aus Christen Menschen wirbt.

Mehrmals hatte Rousseau sich an Voltaire mit der Bitte gewandt, den Brief über den Untergang Lissabons herausgeben zu dürfen. Voltaire, der sich auf einen Streit Vorsehung – Keine Vorsehung nicht einlassen wollte, schlug beständig ab. Da aber Rousseau die Schrift vielen gezeigt hatte, erschien sie 1760 in Berlin.

Nachdem er in einem Brief an Voltaire kühl und trocken die Herausgabe entschuldigt hatte, fügte er die verrückten Worte hinzu:

Ich liebe Sie nicht. Sie haben mir, Ihrem Schüler und Ihrem Enthusiasten, das mir schmerzlichste Leid zugefügt. Sie haben Genf verdorben zum Lohn für die Zuflucht, die es Ihnen gab. Sie haben mir meine Landsleute entfremdet zum Dank für die Lobpreisungen, die ich auf Sie verschwendet habe. Sie machen mir den Aufenthalt in der Heimat unerträglich und zwingen mich, in der Fremde zu sterben, während alle Ehren, die ein Mensch erlangen kann, Ihnen in meinem Vaterland zuteil werden. Ich hasse Sie, da Sie es so wollten.

Voltaire antwortete kein Wort, schrieb aber an D'Alembert:

»Ich wünschte, Rousseau wäre nicht völlig wahnsinnig, aber er ist es. Er hat einen Brief an mich geschrieben, für den man ihm Sturzbäder und kräftige Fleischsuppen geben sollte.« (12 janvier 1803) Le premier Consul: Quelle différence de ce qu'on écrit aujourd'hui à Voltaire. Plus je lis Voltaire, et plus je l'aime. C'est un homme toujours raisonnable; point charlatan, point fanatique. J'aime aussi beaucoup son histoire quoique on la critique. La Pucelle ne vaut rien à la jeunesse; mais elle égaye les gens mûrs. Jusqu'à seize ans je me serais battu pour Rousseau contre les amis de Voltaire. Aujourd'hui c'est le contraire. Je suis surtout dégoûté de Rousseau depuis que j'ai vu l'Orient. L'homme sauvage est un chien. Roederer III 460.

VI

Zu jener Zeit ereignete sich in Genf ein unbedeutender Skandal. Eine Frau, die trotz ihrer nicht regelrechten Vergangenheit für ebenso tugendhaft wie geistreich und schön galt, und die Voltaire als eines der beiden weiblichen Genies der Erde bezeichnet hatte (Sappho war das andere) wurde von ihrem Ehemann mit einem Liebhaber überrascht.

Das stellte die kleine heilige Stadt auf den Kopf.

So etwas war ja unerhört. Wer und was hatte Schuld daran? Wer wohl außer Voltaire und seinem Theater! Der Rat verbot auf das strengste jede Teilnahme an den Theateraufführungen in Tournay. Niemand wagte mehr, sich dorthin zu begeben.

Voltaire schreibt an d'Argens: »Wir haben einen Hahnrei in Genf gehabt. Calvins kleine Gemeinde, deren Tugend im Wucher besteht, bildet sich ein, daß es betrogene Ehemänner außer dort, wo Theater gespielt wird, in der Welt nicht gibt.«

Aber diesmal wurde er zornig und besonders zornig auf Rousseau, der den Pfarrern in Genf immerfort Briefe sandte und diese gegen die Schauspiele aufhetzte.

Er beschränkte sich jedoch vorläufig auf einen kleinen lustigen Spaß über den Gegner. Ein beliebter Gastwirt, den man an eine Pariser Bühne verpflichtet hatte in der Hoffnung, er würde die Leute in das Theater ziehen, brach seinen Vertrag und weigerte sich aufzutreten; Voltaire schrieb aus diesem Anlaß Ramponneaus Verteidigungsrede vor dem Richter.

Um die Andeutungen darin zu verstehen, muß vorausgeschickt werden, daß in Palissots satirischem Stück Die Philosophen, das in Paris Erfolg hatte, der Verfasser, der von Rousseaus Abfall von der Gruppe noch nichts wußte, ihn als Philosophen dargestellt hatte, der (in Übereinstimmung mit dem bekannten Briefe Voltaires) auf allen Vieren ging. Gleichfalls muß man wissen, daß Rousseau in seinem Brief gegen die Schauspiele von seinen Genfern geschrieben hatte, daß sie auf keinen Fall ins Theater gehen durften: »Laßt die nur die Nacht mit Trinken verbringen, die sie sonst zu schlimmeren Sachen gebrauchen würden!«

Ramponneau sagt da: »Man meint, wenn Rousseau, ein Genfer Bürger, sich auf allen Vieren gehend in einem Theater hat beschauen lassen, dann braucht Ramponneau, Bürger in Cortille, nicht zu erröten, sich in einem anderen zu zeigen. Aber Jean-Jacques ist ein Ketzer, ich bin Katholik; Jean-Jacques ist Komödienschreiber, ich bin ein anständiger Gastwirt. Jean-Jacques selbst zieht offen die Gastwirte den Komödianten vor. Er will nicht, daß es in seinem Vaterland Theater gibt, sondern Wirtshäuser. Er kann den schönen Tag nicht vergessen, als er alle Genfer Bürger betrunken sah.«

VII

1761 erschien Die neue Héloïse, ein epochemachender, wenn auch geschmackloser Roman. Die Liebe war darin nicht wie sonst in den Romanen jener Zeit leichtsinnig – das gefiel, besonders den Frauen. Unaufhörlich wurde darin von der Tugend gesprochen, nachdem man solange mit dem Laster gescherzt hatte – das begeisterte, besonders die Frauen. Rousseau behauptete, daß es wenig Frauen gebe, selbst unter den höchststehenden, deren Eroberung ihm nicht geglückt wäre, falls er sie versucht hätte. – Er hielt sich immer für unwiderstehlich, trotzdem er in Wirklichkeit niemals jemanden gewonnen hat außer seiner sogenannten »Mama«, Frau de Warens, und seiner Therese, zwei Frauen ohne Widerstandskraft.

Das Buch war zugleich gegen die Philosophen und gegen die Kirchengläubigen gerichtet. Gegen Voltaires Richtung, die irreligiös war, ohne atheistisch zu sein, stellte Rousseau seine eigene auf, die religiös war, ohne christlich zu sein.

Voltaire wurde noch zorniger und zeigte sich in seiner Beschränktheit. Für ihn war Rousseau jetzt nur ein Elender, der seine Freunde verlassen hatte. – Schade, daß er mit einigen Halbtalenten geboren war!

Voltaire schrieb eine Reihe satirischer Briefe über Die neue Héloïse, die der Marquis von Ximenés unterzeichnen und veröffentlichen mußte, da er einmal ein Manuskript Voltaires gestohlen und verkauft hatte und deshalb von ihm abhängig war. Die Schrift ist treffend, wie alles, was Voltaire geschrieben hat, macht auf zahlreiche sprachliche und andere Mängel im Roman aufmerksam, aber sie hinterläßt einen peinlichen Eindruck. Diese Kritik ist unfruchtbar und leer. Nicht eine Spur von Beachtung des wertvollen Neuen bei Rousseau, des Sinnes für die landschaftliche Natur und für eine einfache, ungekünstelte Lebensweise, der sich hier zeigt. Voltaire hätte hervorheben sollen, daß seit tausend Jahren der Sinn für die Physiognomie der Erde, für Luft und Duft, Farben und Linien der Landschaft nie so lebendig gewesen wäre wie bei Rousseau. Er hätte sich an sein eigenes naturloses Heldengedicht, die Henriade, erinnern sollen, in dem kein einziger Grashalm zu finden war.

Voltaire macht sich ferner über das Theoretische und Wirklichkeitsfremde bei Rousseau lustig, über seinen Plan zum ewigen Weltfrieden. Der Kaiser von China befiehlt allen Souverainen, Frieden zu halten bei Strafe, für die erste Übertretung eine Flugschrift Jean-Jacques' auf sich zu ziehen.

1762 erschienen die beiden Hauptwerke Rousseaus, Emile und Le contrat social, das eine ein Buch über die Erziehung, das andere die Lehre vom allgemeinen Volkswillen und von der Gleichheit aller Menschen.

Da es ja damals keine Pressefreiheit gab, blieben alle Schriftsteller anonym; sogar Montesquieu gab sich nicht als Urheber eines so wissenschaftlichen Werkes wie L'Esprit des lois zu erkennen.

Statt sich nach diesem allgemein geübten Brauch zu richten, setzte Rousseau trotzend seinen Namen auf das Titelblatt des Emile, was denn auch der Staatsprokureur später als eine unerhörte Frechheit gegen ihn geltend machte.

Sein Werk, dessen wertvolle Stellen einfach aus Lockes Buch Gedanken über Erziehung (1728 ins Französische übersetzt) abgeschrieben sind, enthielt christliche Moral ohne christliche Dogmen. Er warf den Müttern vor, daß sie ihre Kinder nicht selbst nährten. Pflegemütter hängten die schreienden Kleinen an einem Haken auf. Keiner, der nicht eines Vaters Pflichten erfüllte, hatte das Recht, Vater zu werden – das unmittelbar, nachdem er selbst sein fünftes Kind ins Findelhaus gebracht hatte.

Das Parlament in Paris, das die Jesuiten verfolgte, wollte seine Unparteilichkeit durch Verfolgungen in entgegengesetzter Richtung zeigen und erklärte: die Schrift wagt den Versuch, die Wahrheiten und Prophezeiungen in der Heiligen Schrift zu leugnen und will die Überzeugung von den Wundern, die in den heiligen Büchern berichtet werden, vernichten.

Das Buch soll deshalb zerrissen und vom Henker verbrannt werden, der Verfasser ist ins Gefängnis zu sperren.

Gleichzeitig wurden beide Bücher in Genf zerrissen und verbrannt und Rousseau für verhaftet erklärt, falls er sich zeigte.

Zur Enttäuschung Rousseaus nahmen die Bürger das Urteil des Rates hin.

D'Alembert riet nun Rousseau, nach Neufchâtel zu fliehen, das, als Provinz des Königs von Preußen von dem Schotten Lord Keith, »Mylord Maréchal«, selbst einem landesverwiesenen Mann, regiert wurde.

Rousseau hatte Friedrich verabscheut, hatte unter sein Porträt in Montmorency geschrieben: »Er denkt als Philosoph, benimmt sich aber wie ein König«, womit er durchaus nichts Schmeichelhaftes meinte.

Friedrich begnügte sich nicht damit, ihm ein Obdach zu geben, sondern schickte ihm durch seinen Gouverneur eine bedeutende Geldsumme und bot ihm eine Villa, Korn, Wein, Holz an. Rousseau lehnte in seinem Kleine-Leute-Stolz alles ab: »Es wäre ihm unmöglich, in einem Hause zu schlafen, das eines Königs Hand gebaut hatte«. – So schlug er dauernd die Geschenke ab, welche die praktische Therese hinter seinem Rücken annahm.

VIII

Voltaire saß beim Frühstück, als ihm die Post aus Paris die Nachricht von der Verfolgung Rousseaus brachte. Er brach in Tränen aus und sagte dumpf: »Laßt ihn doch kommen, nur kommen! Ich werde ihn mit offenen Armen empfangen. Er soll hier mehr Herr sein als ich. Ich werde ihn wie meinen eigenen Sohn behandeln.«

Er schrieb sofort eine Einladung an Rousseau in sieben Exemplaren, da er seine genaue Adresse nicht kannte, damit mindestens eine ihn erreichte.

Rousseau antwortete niemals und hatte es später nicht gern, wenn man ihn daran erinnerte.

Die Nemesis war über ihm. Er hatte seinerzeit, um den Geistlichen in Genf zu gefallen, gegen D'Alembert über die Schauspiele geschrieben. Nun verbrannten dieselben Kanzelredner sein Buch und bedrohten ihn mit dem Gefängnis.

Aber seine Manie hielt ihn gepackt. Er bildete sich ein und teilte es allen mit, daß Voltaire Schuld hatte an dem Vorgehen der Genfer gegen ihn.

Als der Erzbischof von Paris einen donnernden Brief gegen Rousseau schrieb, antwortete dieser mit der Behauptung, man sollte ihm lieber Statuen errichten, statt seine Bücher zu verbrennen. (Damals fand man die Äußerung lächerlich. Jetzt errichtet man ihm ein Denkmal nach dem andern.) Er behauptete, daß er Christ wäre, wenn er die christliche Glaubenslehre auch preisgab.

Voltaire schreibt dazu übertrieben: »Vielleicht geht er darin zu weit. Das Christentum hat doch in ungefähr 1400 Jahren nicht mehr als fünfzig Millionen Menschen wegen theologischer Streitigkeiten umgebracht.« Voltaire schätzt in seiner Schrift Dieu et les hommes die Zahl der Menschen, die als Opfer der Kirchenlehre gefallen sind, auf zehn Millionen, bemerkt aber selbst, daß er die Zahl eher zu niedrig ansetzt. – Voltaire nennt Rousseau jetzt einen Diogenes, der sich manchmal wie ein Platon ausdrückt. »Im Emile sind ein halbes Hundert Seiten, die ich mir in Maroquin binden lassen möchte.«

In jedem Besucher, der in Motiers zu ihm kam, glaubte Rousseau einen Spion Voltaires zu sehen; in anonymen Briefen glaubte er, seinen Stil wiederzuerkennen. Im Jahre 1763 machte Voltaire nichtsdestoweniger wieder den Versuch, zu einer Versöhnung zu gelangen, und zwar durch Rousseaus nahen Freund Moulton, der ihn besuchte gelegentlich seines Kampfes für Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Calas, der ruhmvollsten Tat in dem Leben Voltaires.

Rousseau schlug ab, nannte Voltaire einen Komödianten.

Er hatte auch abgelehnt, sich der unglücklichen französischen Protestanten während ihrer Mißhandlung anzunehmen und hatte als Grund dafür die Unduldsamkeit der Protestanten in Genf gegen ihn selbst genannt.

Aber es kam hinzu, daß er nicht wie Voltaire der Fürsprecher der Toleranz sein wollte noch konnte. Er war Verfechter einer Staatsreligion, die die Verträglichkeit ausschloß.

Um diese Zeit legte Rousseau armenische Tracht an (er hatte in Montmorency einen armenischen Schneider getroffen). Sie eignete sich für seine Koketterie mit Sonderlichkeiten und war bei seiner Blasenkrankheit angenehm. Sie bestand aus Jacke, Kaftan, gefütterter Mütze, buntem Gürtel, war prachtvoll, damit sie nicht mit einem Schlafrock verwechselt werden könnte.

IX

Als der Generalstaatsanwalt in Genf ein Buch Lettres de la campagne schrieb, um das Verhalten des Rates gegen Rousseau zu verteidigen, antwortete dieser mit den Lettres de la montagne, einer heftigen Satire gegen die Regierung und die Religion in Genf: die Protestanten seien von Verfolgten zu Verfolgern geworden. Da die Reformierten sich einmal auf die freie Forschung berufen hatten, mußten sie sich nun in jede Auslegung der Schrift finden.

Das Buch enthielt eine ganz witzige Stelle über Voltaire, aber darin lag eine Angeberei. Rousseau gab hier Voltaire als den Verfasser der unerhört dreisten Schrift Sermon des cinquante an, die den Glauben an das Neue wie an das Alte Testament ins Lächerliche zog, eine Schrift, die Voltaire stets hartnäckig abgeleugnet hatte.

Diese Angeberei, die Voltaire den ernstesten Gefahren aussetzte, brachte seinen Groll zum Überfließen. Es ist infam, schreibt er am 4. Januar 1765, Denunziant zu sein und seinen Gefährten zu verleumden – so grundlos, fügt er vorsichtig hinzu.

Voltaire hatte bis dahin unbekümmert den Autodafés seiner Schriften beigewohnt. Er war stets anonym; er wohnte außerhalb der Genfer Gerichtsbarkeit, hatte nichts zu fürchten gehabt.

Nun aber war man in Genf gereizt. Es hieß, daß er die Republik mit skandalösen Schriften überschwemmte. Seine Verfasserschaft am Brief eines Quäkers war eben angezeigt worden, als Rousseaus gefährlichere Angeberei erfolgte. Auch im Dictionnaire portatif erkannte man nun Voltaire. Der Unwille in Genf war groß, die Stadt stand in den Flammen gerechter Entrüstung.

In seiner Verlegenheit schrieb Voltaire als scheinbar guter Bürger an den Leiter der Polizei und gab Le Portatif als eines der verderblichsten Bücher an, während er selbst schwere Pakete des Buches einschmuggelte.

Doch in Paris war die Situation für ihn noch schlimmer als in Genf. Der Herzog von Choiseul, der Premierminister, hatte größere Strenge für nötig erklärt. Der König selbst hatte gesagt: Kann man denn diesen Menschen nicht zum Schweigen bringen! Alle Briefe aus Paris brachten die Nachricht, daß nur noch die Rede davon war, ihn aus Ferney fortzuführen und für den Rest seines Lebens in die Bastille zu sperren.

Voltaire ist in tödlicher Angst. Aber mitten in seiner Angst macht er Spaß auf Spaß, schreibt z. B. an Helvetius: »Man darf niemals etwas unter seinem Namen herausgeben. Ich habe auch nicht La Pucelle geschrieben. Ich werde beweisen, daß der Staatsadvokat selbst sie geschrieben hat. Sobald unmittelbare Gefahr droht, bitte ich, mich freundschaftlichst zu unterrichten, damit ich mit meiner gewöhnlichen Treuherzigkeit und Unschuld alles ablehne.«

Gleichzeitig schrieb er offiziell nach Paris: »Der König ist zu gerecht und gut, um mich auf Grund leichtfertiger Verleumdungen zu verurteilen und auf eine so unbestimmte und falsche Anklage hin einen schwächlichen, kränklichen Greis von einundsiebzig Jahren zu überwältigen.«

In diese Bedrängnis brachte also Rousseaus Angeberei Voltaire. Als ob die beiden hervorragenden Männer nicht schon von vornherein in einem barbarischen Zeitalter schwierig genug dastanden, mußten sie sich noch durch gegenseitige haßerfüllte Verfolgungen ins Unglück stürzen.

Wir beobachteten bei Rousseau zuerst die Bewunderung, dann den Neid, den doppelten auf Ruhm und auf Reichtum. Dieser Neid vermummt sich als Tugend beim Angriff auf das Genfer Theater, als Religion beim Angriff auf die Lissabon-Ode. Der Neid wird zum Haß, zum glühenden Haß. Doch dieser Haß ist selbst wieder Vermummung des klaren Bewußtseins, Träger einer neuen Idee zu sein, eines Prinzips, das dem rationalistischen Voltaire entgegengesetzt ist. Bei Voltaire zuerst Überlegenheit, dann Verärgerung darüber, schikaniert zu werden, Ingrimm über einen Abtrünnigen, durch den Mangel an Verständnis für die Neuschöpfungen eines Sonderlings vergrößert. Dann Mitleid, Anerbieten zu helfen, das zurückgewiesen wird. Dann die gegenseitigen gehässigen Angebereien bei den Machthabern.

Mit dem Sprunge eines Tigers wirft sich nun der so lange gereizte und herausgeforderte Voltaire auf Rousseau.

Er gibt anonym Le Sentiment des Citoyens heraus, das anscheinend von einem Genfer Bürger geschrieben, Jean Jacques des Unglaubens, der Gottlosigkeit und der Gotteslästerung überführt:

Darf ein Mann, der in unserer Stadt geboren ist, in dem Maße unsere Pfarrer verhöhnen? Ist das ein Gelehrter, der Gelehrte angreift? Traurig müssen wir gestehen: ein Mann ist es, der noch mit den Malen seiner Ausschweifungen behaftet ist, und der in der Verkleidung eines Charlatans das unglückliche Weib von Stadt zu Stadt mit sich schleppt … deren Kinder er vor der Pforte eines Hospitals ausgesetzt hat.

Das war unwürdig; aber das war ein furchtbarer Schlag. Kaum vier oder fünf Menschen in Europa waren damals in Rousseaus Geheimnis eingeweiht. Niemand wußte anderes, als daß Therese seine treue Haushälterin war. Niemand ahnte, daß sie Kinder geboren hatte, die er für seine hielt, noch weniger das Schicksal, das ihnen bereitet worden war. Was man auch gegen Rousseau einzuwenden hatte, seine reine puritanische Tugend – die er bei jeder Gelegenheit im Munde führte – war von niemandem bezweifelt worden.

Rousseau konnte nicht annehmen, daß die Schrift von Voltaire war, und er suchte den Urheber in der Genfer Geistlichkeit, fiel über Unschuldige her und machte sie sich zu Feinden.

Rousseaus Lettres de la montagne wurden in Paris verboten, in der Schweiz und in Holland verbrannt. Nirgends konnte er mehr Zuflucht finden. Er wollte seine gesammelten Werke in Neufchâtel herausgeben. Der Rat widersetzte sich. Die Pfarrer verbannten ihn. Friedrich der Große versuchte vergeblich, ihn zu beschützen. Selbst Mylord Maréchal bezweifelte, ob der theologische Haß zu überwinden sei. Da Rousseau das Berliner Klima nicht vertragen konnte, schrieb Lord Keith um Zuflucht für den Verfolgten an die Staatsinquisitoren in Venedig, die abschlägig antworteten. Dieselbe Antwort kam aus Turin, dieselbe aus Wien, wo Rousseaus Beschützer, der Prinz von Württemberg, doch Verbindungen hatte. Inzwischen hetzte man die Bevölkerung in Motiers auf; Steine wurden durch die Scheiben in Rousseaus Haus geworfen. Therese ließ außerdem von kleinen Jungen und Mädchen große Steine auf die offene Galerie des Hauses tragen, um Rousseau zu erschrecken. Sie hatte die Stadt über. Da floh er, während Friedrich Briefe voll äußerster Strenge an die »Dalai-Lamas« in Neufchâtel sandte.

X

Da brach in dem tugendhaften Genf ein neuer und höchst komischer Skandal aus, dessen Folge war, daß sich Voltaire mit dem Konsistorium der Stadt gänzlich überwarf.

Ein Herr Robert Covelle wurde von einem Fräulein Cathérine Ferboz verklagt, mit ihr ein Verhältnis gehabt zu haben und der Vater ihres Kindes zu sein. Jenes räumte er ein, dies bezweifelte er. Nach alter Sitte wurde er verurteilt, Gott auf den Knien um Vergebung zu bitten. Er weigerte sich zu knien. Wurde deshalb zu Gefängnis verurteilt. Weigerte sich wieder zu knien, bat Voltaire um Hilfe, und dieser schrieb darüber eine lustige Flugschrift nach der anderen, außerdem noch ein ganzes allerdings etwas ermüdendes episches Gedicht La Guerre civile de Genève ou les Amours de Robert Covelle.

Da Herr Covelle in Ferney jederzeit freundlich aufgenommen wurde, begann er, sich selbst für einen bedeutenden Mann zu halten. Voltaire machte sich ganz offen über ihn lustig und nannte ihn unter Freunden niemals anders als mit dem biblischen Ausdruck für sein Vergehen: Monsieur le fornicateur. Die Lakaien, die ihn stets so nennen hörten, die biblische Bezeichnung aber nicht kannten, glaubten, das wäre irgendein Amt in der Republik und meldeten von nun an zur Freude der Anwesenden unter einer Verbeugung von den Flügeltüren her: Monsieur le fornicateur!

Die Bürger standen auf Covelles Seite gegen den Rat. In dem entstehenden Streit zwischen dem Rat und den Bürgern suchten diese Hilfe bei Voltaire, denn er stand sich mit dem französischen Residenten gut, der zum Schiedsrichter ernannt worden war. Voltaire war zufrieden: in Versailles konnte man nun sehen, welchen Einfluß er in Genf ausübte. Er wollte die Gegner versöhnen, die Rousseau aufeinander gehetzt hatte. Der französische Resident wünschte, daß das Theater in Genf wieder geöffnet wurde, der Rat wagte nicht, sich dem zu widersetzen. Und unter Jubel wurde Tartuffe gespielt.

Von dieser Höhe aus bot Voltaire nun zum letzten Mal Rousseau Frieden und Versöhnung an. Wieder vergebens, obgleich er ihm versprach, ihn wieder in alle seine Rechte in Genf einzusetzen.

XI

Man erlangte einen Paß für Rousseau zur Durchreise durch Frankreich. In Paris wurde er mit unbeschreiblicher Begeisterung empfangen, hielt förmlich Hof, und trotzdem der Verhaftungsbefehl über seinem Haupte schwebte, ging er im Luxembourg-Garten in seinem armenischen Kostüm spazieren.

Man hielt jedoch England für seinen sichersten Aufenthalt. Und der große Philosoph David Hume, der damals Gesandtschaftssekretär in Paris war und allgemein verehrt wurde, nahm sich seiner an, brachte ihn über den Kanal und führte ihn in London überall ein. Das Parlament empfing ihn ehrenvoll; im Theater saß er in Garricks Loge. Der König und die Königin besuchten das Theater, um ihn zu sehen. Mit Rousseaus Erlaubnis bat Hume den König um ein Jahresgehalt für ihn und erhielt es.

Dann legte sich die Neugier. Therese kam zu Rousseau. Er wünschte, die vornehme Gesellschaft sollte sie einladen. Aber man wollte das gesellschaftliche Herkommen seinetwegen nicht außer Kraft setzen.

Hume fand eine ausgezeichnete Zufluchtsstätte für ihn auf dem Lande in Wootton, wo ein Mr. Davenport ihm Haus und Dienerschaft zur Verfügung stellte.

Aber die Verehrung, deren Gegenstand Rousseau war und seine ewigen Klagen über Verfolgung hatten Horace Walpole geärgert, und dieser witzige Mann schrieb im Übermut einen Brief Friedrich des Großen an Rousseau, in dem die folgenden scherzhaften Zeilen standen:

Mein lieber Jean Jacques! Kommen Sie zu mir! Ich bewundere Ihre Talente … Zeigen Sie nun Ihren Feinden, daß Sie gelegentlich gesunden Verstand haben können. Das wird die Feinde ärgern, ohne Ihnen bei Ihren Freunden sonderlich zu schaden. Ich will Ihnen wohl und werde es Ihnen beweisen, falls Sie es wünschen. Wenn Sie aber meine Hilfe abschlagen, dann vertrauen Sie nicht darauf, daß ich es jemandem weitererzähle. Wenn Sie sich weiter den Kopf zerbrechen um neue Arten Unglück zu finden, über das Sie sich beklagen können, dann wählen Sie, wie Sie wollen. Ich bin König und kann Ihnen Unglück nach Wunsch verschaffen usw. Ihr guter Freund Friedrich.

Dieser Brief ging wie ein Lauffeuer durch Paris; Rousseau bekam ihn aber nicht zu sehen. Jetzt brachte St. James Chronicle den Brief und die Zeitungen sprachen mit Ironie von Rousseau. Er bildete sich ein, Voltaire hätte den Brief geschrieben und Hume ihn veröffentlicht, und er wütete gegen beide. Er bildete sich außerdem ein, daß Hume seine Privatbriefe öffnete und nannte ihn deshalb Verräter und Verfolger.

Hume antwortete empört und legte Rousseaus Undankbarkeit dar. Er verstand nicht, daß Rousseau an Verfolgungsmanie litt, und Voltaire verstand das eben so wenig, so oft er auch Rousseau verrückt nannte.

Deshalb ging Voltaire nun als Angreifer vor und gab anonym seinen Brief an Dr. Pansophe heraus, der Rousseau verhöhnt und ihn besonders in England vernichten mußte, da er einen Auszug von allen leichtfertigen und törichten Äußerungen Rousseaus über die Engländer enthielt. – Noch schlimmer waren die späteren Noten zu diesem Brief, in denen erbarmungslos das wenig anständige Verhalten, das Rousseau in seiner Jugend als Sekretär des französischen Gesandten in Venedig gezeigt hatte, enthüllt wurde.

Als sich aber Voltaire auch an Friedrich wandte, um ihn zu bewegen, sich gegen Rousseau zu äußern, da antwortete dieser hochherzig und barsch: »Ich bin der Ansicht, daß er unglücklich und zu bedauern ist. Ich habe weder seine Paradoxe noch seinen zynischen Ton gern. Aber man soll vor den Unglücklichen Achtung haben. Nur verdorbene Seelen fallen über sie her.«

Verwirrt und verzweifelt flüchtete Rousseau nach Frankreich und lebte dort einige Jahre in Ruhe.

XII

Im Jahre 1770 bekam Madame Necker den Einfall, man sollte Voltaire noch zu Lebenszeiten eine Statue errichten.

Rousseau schrieb aus Lyon an Monsieur de la Tourette: »Ich höre, daß man plant, für Herrn de Voltaire eine Statue zu errichten und daß man allen, die sich durch einige gedruckte Werke bekannt gemacht haben, gestattet, sich an diesem Vorhaben zu beteiligen. Ich habe die Möglichkeit, an dieser Ehre teilzunehmen, teuer genug bezahlt, um Anspruch auf sie zu erheben und bitte Sie inständigst, mir liebenswürdig zu gestatten, mich unter die Subskribenten einzutragen.« Darauf sandte er zwei Louisdor mit einem Brief an D'Alembert:

»Ich höre, daß man allen, die sich durch ein oder das andere gedruckte Werk bekanntgemacht haben, gestattet, an diesem Vorhaben teilzunehmen. Auch ich wage da, Anspruch auf diese Ehre zu erheben.«

Als Voltaire es erfuhr, versuchte er mit aller Macht zu erreichen, daß man den Beitrag zurücksandte; seine Freunde, die Philosophen im Hause der Madame Necker, meinten gleichfalls, Rousseau müßte abgewiesen werden, wie man z. B. Fréron abgewiesen hatte, der sich auch beteiligen wollte. Aber D'Alembert wollte sich aus guten Gründen darauf nicht einlassen.

Acht Jahre später starb erst Voltaire, dann Rousseau nur einen Monat darauf. Friedlich verbunden wurden sie nie.

Sie gehörten zu den Gegensätzen, die zu paaren der Geschichte manchmal gefällt.

Oft stehen sich solche Gegensätze schroff gegenüber, lassen sich aber doch zur Not versöhnen, wie in älteren Zeiten Shakespeare und Ben Jonson, in neueren Hugo und Musset, Björnson und Ibsen.

Manchmal sind sie unversöhnlich wie Erasmus und Luther, Corneille und Racine, Byron und Southey, Oehlenschläger und Baggesen, Heine und Börne, Wergeland und Welhaven. Selten nur fühlen zwei große Zeitgenossen dauernd brüderlich für einander wie Petrarca und Boccaccio – oder wird die angeborene lang genährte Antipathie von einer fruchtbaren Freundschaft abgelöst. Goethe und Schiller sind das große Beispiel.

In diesem Fall war der Gegensatz unversöhnlich.

Bei Voltaire war, wie bereits erwähnt, der gesunde Menschenverstand in so hervorragendem Maße, in einer so unerhörten Klarheit und Schärfe ausgeprägt, daß sie Genie wurde – wie hundert Jahre später auf dem praktischen Gebiet bei Bismarck.

Bei Rousseau wurde umgekehrt das ganz Irrationelle, das geheimnisvolle Fühlen, der Wahnsinn selbst in seiner Verwandtschaft mit der Genialität, als heilige Raserei zum Genie, zur Schöpferkraft, zur Freude über das Leben und die Allnatur.

Die Griechen nannten den Dichter Poietes: einen Macher, Former, Gestalter. Für die Römer war er Vates: ein Seher, Prophet, Wahrsager.

Voltaire war als Denker und Schreiber Poietes, Rousseau als revolutionärer und gefühlvoller Religionsstifter Vates.

Voltaire formgebend und bis zur Übertreibung Formen schätzend. Rousseau formsprengend, bis zur Sentimentalität unter Pathos der Fürsprecher des Urgefühls.

Das positive Wesen beider ist in Tausende von Geistern übergegangen, während die Werke ins Halbvergessen gesunken sind.

Beide siegten am stärksten im Negativen. Voltaire sprengte die Religion des alten überlieferten Régimes, Rousseau dessen Gesellschaft.


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