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Triumph und Tod

I

Man fuhr von Ferney nach Nantua, wo das erste Nachtlager bestellt war. Als in Bourg-en-Bresse die Pferde gewechselt wurden, wurde Voltaire erkannt, und die ganze Stadt versammelte sich um seinen Wagen. Der Postmeister, der bemerkte, daß der Postillon gewohnheitsgemäß ein klappriges Pferd vor den Wagen gespannt hatte, ließ ein anderes ausgezeichnetes Pferd davorspannen und sagte mit einem kräftigen Fluch: »Fahre zu, und wenn Du meine Pferde kaputt fährst, ich mache mir den Teufel was daraus, Du fährst Herrn de Voltaire, merk Dir das!« Man lachte und klatschte. Voltaire mußte mitlachen, obwohl man das Inkognito brach, das er auf der Reise zu bewahren gehofft hatte.

Über Sanecey erreichte man am dritten Tage Dijon, wo Voltaire für seine Nichte verschiedene Geschäfte zu erledigen hatte und wo er im Hotel de la Croix d'Or wohnte.

Die Vornehmen der Stadt kamen und statteten ihm ihren Besuch ab. Neugierige bestachen Dienstmädchen im Hotel, damit sie die Tür zu seinem Zimmer offen stehen ließen, so daß sie einen Blick auf ihn gewinnen könnten. Junge Leute verkleideten sich aus Begeisterung als Hotelkellner, um ihn bei Tisch zu bedienen, seinen Anblick genießen zu können. Am Abend eine Serenade vor seinem Fenster.

Die nächste Nacht verbrachte er in Joigny und kam am folgenden Tage in Paris an. Aber die Wagenachse zerbrach eine Meile von Moret, wohin man nun in aller Eile einen Postillon sandte. Der Marquis de Villette fuhr dorthin und nahm den Patriarchen in seinen Wagen. Voltaire wünschte aber nicht mehr zu fahren, was die Riemen und das Zeug halten konnten. Seinem Sekretär gab er den Auftrag, den Postkutschern zu sagen, daß sie einen Unglücklichen fuhren, der in Paris operiert werden sollte.

Am 10. Februar nachmittags erreichte man die Stadt. An der Barriere fragten die Beamten, ob im Wagen auch nichts sei, was mit den Verordnungen des Königs im Widerspruch stände. »Meine Herren, antwortete Voltaire, »ich glaube nicht, daß es hier andere Konterbande gibt als mich.« Einer der Wachthabenden sagte zu einem Kameraden: »Das ist, bei Gott, Herr de Voltaire.« Er zog den, der den Wagen durchsuchte am Rock und sagte dasselbe, so daß Wagnière zu lachen anfing. Dann sahen sie alle mit großer Verwunderung, in die sich Respekt mischte, auf die Herrschaften im Wagen und baten Herrn de Voltaire, seine Fahrt fortzusetzen.

In den letzten Tagen war der lange Verbannte wie elektrisiert gewesen, bei dem Gedanken, daß er Paris, von dem man ihn beinahe ein Menschenalter ferngehalten hatte, wiedersehen sollte. An jeder Haltestelle wollte er den braven Wagnière betrunken machen, »damit er doch einmal in seinem Leben erfuhr, wie das war«. Er saß im Reisewagen und las oder überlegte oder er erzählte hundert komische Geschichten hintereinander.

II

Der Wagen hielt vor dem Hause des Marquis de Villette, dem schönen Gebäude in der Rue de Beaune, wo Voltaire in seiner Jugend zusammen mit Thiériot bei Madame de Bernières gewohnt hatte. Aber als er gerade angekommen war, ging er zu Fuß fort, um schnell seinen alten Freund aufzusuchen, seinen lieben Engel d'Argental. Dieser war nicht zu Haus. Kaum jedoch war Voltaire zu Villettes zurückgekommen, als sich der Jugendfreund einfand. Bewegt sahen sich die beiden Männer, die eine so innige Freundschaft vereinigt hatte, die aber durch die Verhältnisse so lange getrennt gewesen waren, nun als Achtzigjährige wieder.

Und das Erste, was d'Argental mitteilen mußte, war, daß Le Kain am 8. Februar plötzlich verstarb, nachdem er meisterlich in Adélaïde du Guesclin gespielt hatte. Voltaire stieß einen Schrei schmerzlicher Überraschung aus. Aber da begann schon die Schar der Freunde und zudringlicher Menschen hereinzuströmen und von diesem Augenblick an stand der Strom nicht mehr still. Er, der sich in Ferney daran gewöhnt hatte, zu leben wie es ihm gefiel, sich für alle Besucher unsichtbar zu machen und sie unverrichteter Sache wieder abreisen zu lassen, nachdem sie mit Madame Denis hatten speisen dürfen, verleugnete sich jetzt vor niemandem und war so unvorsichtig, diese Bande Neugieriger zu empfangen und für jeden ein freundliches und höfliches Wort zu haben. Namentlich die vielen, die er bei seinem guten Gedächtnis nach beinahe dreißig Jahren wiedererkannte, gingen entzückt fort.

Doch sofort begannen auch die unangenehmen Besuche. Der Hof und die Kirche meldeten sich.

Zuerst kam der Marquis de Jaucourt, um Madame Denis mitzuteilen, daß man in Versailles sehr verwundert über die Ankunft ihres Oheims war. Die Mißstimmung deshalb war nicht gering. – Durch Madame Jules de Polignac, die eine intime Freundin der Königin war, gelang es jedoch zu erreichen, daß sich die zornigen Wellen vorläufig legten.

Danach kamen die Priester, einer nach dem andern, um den Sünder zu bekehren und um dem doch nächstens Sterbenden das Sakrament zu reichen. Der Priester von Saint-Sulpice ging mehreremal vergebens. Ein Ex-Jesuit, namens Abbé Gaultier schrieb einen bewegten Brief, verschaffte sich Zutritt und ermüdete Voltaire durch seine Aufdringlichkeit. Einige Tage darauf kam in weltlicher Verkleidung noch ein Priester, der Abbé Marthe. Sobald er mit Voltaire allein war, sagte er: Wollen Sie auf der Stelle vor mir beichten! Kein Zögern! Beeilen Sie sich! Und er warf sich neben seinem Bett auf die Knie. Er wurde erst entfernt, als Wagnière hinzu kam.

Tronchin, Voltaires früherer Arzt aus Genf, der nun zehn Jahre in Paris wohnte, sandte ihm sofort einen bitteren Brief, worin er ihm seine dauernde Schweigsamkeit vorwarf und ihn – ohne jede Wärme – seiner Treue versicherte. Er war als Arzt äußerst verstimmt darüber, daß sich Voltaire in seinem hohen Alter den außerordentlichen Strapazen aussetzte, die sein Aufenthalt in Paris nach so langer Abwesenheit notwendigerweise mit sich führen mußte. Voltaires Anwesenheit in der Hauptstadt wurde als ein derartiges Ereignis aufgefaßt, daß alles andere, Politik, Kriegsgerüchte, Parlamentsintrigen, Hofklatsch, der Streit zwischen Glucks und Piccinis Anhängern darüber in Vergessenheit versank.

III

Am Tage nach seiner Ankunft sandte die Akademie eine Deputation zu ihm, um ihn zu begrüßen. Sie bestand aus drei Mitgliedern, dem Prinzen von Beauveau, dem Marquis von Saint-Lambert und Jean François Marmontel. Es war sofort die Rede davon, ihm zu Ehren eine öffentliche Sitzung der Akademie abzuhalten, was vorher noch niemals geschehen war. Am 14. fand sich eine Deputation vom Theater ein, an deren Spitze Bellecour, ein stattlicher Schauspieler, und die berühmte Madame Vestris standen. Bellecour hielt eine Rede. Voltaire antwortete dem Schauspieler: »Ich kann von nun an nur für Euch und mit Euch leben.«

La Harpe, der einer der ersten war, die sich bei dem Mann einfanden, den er damals noch – vor seiner Bekehrung – als seinen geistigen Vater betrachtete, schreibt über ihn: »Ich hatte ihn zehn Jahre lang nicht gesehen und ich habe ihn weder verändert noch gealtert gefunden. Er las uns den fünften Akt seiner Tragödie vor, er ist noch voller Leben, es ist weder sein Witz verringert noch sein Gedächtnis geschwächt« ( Correspondence Littéraire 1804).

Darauf kam Gluck, der sonst so hochmütig war, und stellte sich voller Ehrfurcht vor: »Ich habe meine Abreise nach Wien um 24 Stunden verschoben, um die Ehre und das Glück zu genießen, Sie zu sehen.« – »Wann reisen Sie?« – »Morgen.« – »Sie werden einen großen Kaiser zu sehen bekommen, das ist ein Glück für Sie.« – Voltaire hat anscheinend zeigen wollen, daß es ihn nicht rührte, daß Joseph II. unter dem Einfluß seiner frommen Mutter an seiner Tür in Ferney vorbeigefahren war. – Zwei Stunden nach Gluck legte Piccini Besuch ab.

Madame Necker, die Frau des Ministers, die den Plan zur Statue Voltaires von Pigalle gefaßt und durchgeführt hatte, war eine der Besucherinnen, die am herzlichsten empfangen wurden. Sie war nicht besonders zufrieden damit, daß ihr Liebling Reine de Varicourt den als zweifelhaft bekannten Villette geheiratet hatte, und sie gehörte zu denen, die es nicht gern sahen, daß Voltaire in Villettes Heim Aufenthalt nahm. Aber sie vergaß ihren Unwillen, als sie Belle et Bonne und Voltaire wiedersah.

Dr. Franklin kam mit seinem Enkel, den er an der Hand führte. Voltaire antwortete englisch, als Amerikas großer Bürger seine Huldigung aussprach. Madame Denis beklagte sich darüber, daß sie und die übrigen Anwesenden nicht verstehen könnten, was gesagt würde. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte Voltaire zur Gesellschaft, »ich konnte nicht anders, als der eitlen Genugtuung nachgehen, dieselbe Sprache wie Herr Dr. Franklin zu sprechen.« Die beiden Männer umarmten sich tiefbewegt.

Voltaire hatte den Schauspielern versprochen, der Aufführung von Corneilles Héraclius beizuwohnen, hätte aber doch lieber Cinna gesehen. Man kam ihm artig entgegen und veränderte die Vorstellung. Als jedoch der Tag heranrückte, fühlte Voltaire so heftige Schmerzen im Unterleib, daß Tronchin unbedingte Ruhe verschrieb.

Seine Meinung war, daß Voltaire vorläufig niemanden empfangen sollte. Aber die ungeheure Zuströmung des Publikums, das vergebens versucht hatte, ihn im Theater oder an anderen öffentlichen Stellen zu sehen, hatte zur Folge, daß die vernünftige Vorschrift des Arztes übertreten wurde.

Wie Tronchin vergeblich warnend schrieb: »Voltaire lebte nun von seinem Kapital anstatt von seinen Zinsen und die Kräfte würden bei einer derartigen Lebensweise bald verbraucht sein.« Dieses Billett Tronchins an den Marquis de Villette wurde im Journal de Paris vom 20. Februar veröffentlicht, augenscheinlich in der Absicht, das Pariser Publikum aufzufordern, dem Helden des Tages Ruhe zu lassen; aber vom 19. Februar an hatte Voltaire seine gewöhnliche Lebensweise in Paris bereits wieder aufgenommen. Die Schmerzen waren verschwunden, er fühlte sich körperlich und geistig wohl, schonte sich nicht.

Sein erster Gedanke war die Aufführung von Irène und die Verteilung der Rollen. Der Maréchal von Richelieu besuchte ihn und behandelte diese schwierige Frage. Die beiden Jugendfreunde waren nun vom Alter gezeichnet. Ein anonymer Journalist der damaligen Zeit schrieb: »Es war ein seltsames Schauspiel, diese beiden Greise zu beobachten. Sie sind ungefähr gleich alt, der Herzog ein bißchen jünger; aber trotz seiner gewählten Kleidung und seiner Auszeichnungen sah er stärker mitgenommen aus, als Herr de Voltaire in Nachtmütze und Hausrock.« Der Marschall, der eine Schauspielerin, Madame Molé, protegierte, wollte, daß Voltaire ihr die Rolle der Zoe, der Vertrauten Irenes, überließe. Voltaire schreibt scherzhaft: »Er hat mir versichert, daß Madame Molé darin nicht unbedingt unerträglich sein werde«, und er versprach Richelieu die Rolle für die junge Dame. Als er inzwischen hörte, daß Mademoiselle Sainval sich besser für die Rolle eignete, schrieb er ein paar geschickte und schmeichelhafte Briefe an Richelieu und an Herrn und Madame Molé, daß er sich anders entschlossen habe.

Unter denen, die ihn aufsuchten, war auch Le Brun, der Odendichter, der ihn seinerzeit dazu bewogen hatte, Marie Corneille zu adoptieren. Dieser hatte sich inzwischen, um Aufsehen zu erregen, gegen ihn gewandt und tapfer gegen ihn geschrieben. Jetzt besuchte er ihn nichtsdestoweniger und strömte von Höflichkeit über; und Voltaire war zu stolz, um ihn merken zu lassen, daß er seine Unzuverlässigkeit kannte.

IV

Endlich kam auch die öffentliche Meinung in eigener Person, um Voltaire zu begrüßen. Sie kam in Gestalt der mehr als achtzigjährigen Madame du Deffand. Die alte Marquise war blind wie die Gerechtigkeit, witzig wie die Bosheit. Voltaire hatte mit ihr von 1732 bis jetzt im Briefwechsel gestanden. Er hatte sie gekannt, als sie unter der Regentschaft eine Schönheit war und den Regenten – neben vielen anderen – zum Geliebten hatte. Er hatte während ihrer vierzigjährigen Gewohnheitsverbindung mit dem Präsidenten Hénault ihre Lebensbahn verfolgt; er kannte die erstaunliche und rührende Leidenschaft, von der die damals achtzigjährige Blinde für Horace Walpole ergriffen worden, den sie niemals zu sehen bekam, aber in dem ihr der englische Typus, der ihr ganz neu war, entgegentrat. Voltaire wußte wohl, daß alle Zärtlichkeit, die in ihrer Seele Raum hatte, allein für diesen Freund da war und daß sie, deren Temperament satirisch und deren Gefühle so kühl, wie ihre neugierigen Sinne kalt waren, stets schlecht über seine philosophischen Freunde an Walpole schrieb, der diese mit den Jahren immer aufrichtiger haßte. Sie teilte die Ansichten der Philosophen, schmeichelte sich aber bei Walpole dadurch ein, daß sie Geringschätzung für ihre Personen äußerte.

Von D'Alembert wußte Voltaire (durch Mademoiselle de l'Espinasse) genau, was für eine treulose Freundin er in der Marquise hatte; wie sie mit Vergnügen jede Bosheit herumtrug, die Fréron gegen ihn schrieb, während sie ihm gleichzeitig die herzlichsten Briefe sandte, ja ihn sogar als Vertrauten behandelte, sich z. B. bei ihm bitter darüber beklagte, daß der undankbare Präsident Hénault ihr nichts in seinem Testament hinterlassen hätte.

Als Antwort auf die Anklage gegen Katharina die Zweite und seine Stellung zur Kaiserin hatte er vor neun Jahren an Madame du Deffand geschrieben:

»Ihr Sohn liebt sie; ihr Volk liebt sie; ihr Hof vergöttert sie; sie sandte mir ein Porträt ihres schönen Gesichts, das von zwanzig großen Diamanten eingefaßt ist, nebst den schönsten Pelzen des Nordens und einem Gesetzbuch, das ebenso bewundernswert ist, wie unsere französische Jurisprudenz unerhört ist. Weder das Parlament in Paris, noch die Sorbonne haben in jener einst so barbarischen Gegend Lehrstühle für Professoren in unserer Sprache errichtet. Vielleicht habe ich etwas dazu beigetragen. Gestatten Sie mir daher, aufrichtige Hingabe für ein Reich zu hegen, das 2000 Meilen an Umfang hat und wo ich geliebt werde, während man mich nicht gerade übermäßig gut in dem kleinen westlichen Teil von Europa behandelt, wo ich durch den Willen des Schicksals geboren bin.«

Und er hatte sich hierbei nicht mit dieser Verteidigung begnügt, sondern hatte in keiner Weise mit Artigkeiten gespart, als er seine Epistel mit einem längeren Reimbrief endigte, in dem unter vielen anderen folgendes Kompliment stand:

Vous, dont l'esprit et les bons mots,
L'imagination féconde,
La repartie et l'àpropos
Font toujours le charme du monde,
Vous ma brillante du Deffand …

Bereits in einem Brief vom 14. August 1749, beinahe ein Menschenalter früher, hatte Voltaire Hénault geschrieben: »Madame du Deffand weiß nicht, wie hoch ich sie schätze. Es ist meine Absicht, wenn ich nach Paris komme, ihr dauernd den Hof zu machen.«

Nun war er da und jetzt war sie es, die ihn zuerst aufsuchte. Es ist sehr interessant in ihren Briefen an Walpole zu verfolgen, wie der erste Eindruck war, den Voltaire in Paris auf diese Frau machte, die der Mittelpunkt der feineren Gesellschaft war.

Kaum war er angekommen, so sandte Voltaire ihr dieses Billett: »Ich komme tot hier an und will von den Toten nur auferstehen, um mich vor der Marquise du Deffand auf die Knie zu werfen.«

Am 12. Februar 1778 schreibt sie: »Voltaire empfing gestern dreihundert Personen. Ich werde mich sehr hüten, mich in diesen Schwarm zu drängen. Der ganze Parnass war dort, vom Sumpf bis zum Gipfel. Er wird die Anstrengung nicht aushalten können; es ist möglich, daß er stirbt, bevor ich ihn zu sehen bekomme.«

Etwas später im Februar (ohne Datum) heißt es nach der Beschreibung der Deputation an Voltaire:

»Alle Schauspieler finden sich in diesen Tagen bei ihm zu den Proben für Irène ein. Er hat mich eingeladen, aber für die Zeit zwischen elf und zwölf mittags, wo ich häufig erst zu schlafen anfange; es ist also zweifelhaft, ob ich hingehen kann. Er hat mir die größte Freundschaft erwiesen und die lebhafteste Freude an den Tag gelegt, als er mich sah. Diese Freude ist gegenseitig gewesen; er denkt daran, zur Zeit des Karnevals zurückzukehren, aber ich glaube nicht, daß er das kann; er hat Schmerzen in der Blase; er hat Hämorrhoiden; gestern sagte man, daß er nichts verdauen kann. Seine unbeschreibliche Lebhaftigkeit reibt ihn auf. Es würde mich nicht wundern, wenn er bald sterben würde.«

Am 22. Februar schreibt die Marquise wieder über Voltaire an Walpole. Sie ist zum zweitenmal bei ihm gewesen; es ist ihr wichtig, zu beweisen, wie wenig ihr daran gelegen war, ihn zu besuchen:

Ich habe Ihnen von meinem ersten Besuch bei Voltaire erzählt. Der fand am 14. statt. Er war am 10. angekommen, und von allen seinen Bekannten hatte ich die geringste Eile, ihn zu besuchen. Ich wollte ihn allein treffen, das heißt, zusammen mit dem Prinzen von Beauveau. Gestern machte ich meinen zweiten Besuch, ebenfalls mit Herrn de Beauveau; aber dieser war nicht so angenehm wie der erste. Zuerst gingen wir durch mehrere Zimmer, in denen die Fenster offen standen. Wir wurden von der Nichte Denis empfangen, der besten Frau von der Welt, aber ganz faselig, von Marquis de Villette und von seiner jungen Frau, die man liebenswürdig nennt. Sie wird die Schöne und Gute von Voltaire und seinem Gefolge genannt. Als wir in die Wohnstube kamen, trafen wir Voltaire dort nicht; er hatte sich in seiner Kammer mit seinem Sekretär eingeschlossen; der Prinz, der es eilig hatte, verabschiedete sich nun und ich blieb mit der Nichte, dem Marquis Massarille und Belle et Bonne. Sie sagten mir, Voltaire wäre halbtot vor Anstrengung; er hatte am Nachmittag sein ganzes Stück den Schauspielern vorgelesen. Ich wollte nun meiner Wege gehen; man hielt mich zurück, und damit ich ruhig wartete, schickte Voltaire mir einige Verse, die er an Pigalle geschrieben hat, der seine Statue ausführen soll. Nachdem ich eine gute Viertelstunde gewartet hatte, kam Voltaire und sagte, daß er todmüde und den Mund nicht aufmachen könnte. Ich wollte ihn allein lassen, er hielt mich zurück; sprach zu mir über sein Stück, schlug mir wieder vor, zur Generalprobe zu kommen, die bei ihm abgehalten werden sollte. Er wollte mich das nähere wissen lassen. Nur das hat er im Kopfe; deshalb ist er nach Paris gekommen; es wird ihm den Rest geben, wenn es kein großer Erfolg wird. Doch alles verschwört sich, damit es das wird.

Sie teilt dann Walpole mit, was Voltaire ihr über all' die Priester erzählt hat, die ihn geplagt haben.

Die Verse, die er ihr zur Zerstreuung schickte, waren in der Freude eines Augenblicks über eine Nachricht geschrieben, die ihm überbracht worden war. Der König sollte bei Pigalle zwei Statuen bestellt haben, die des Marschalls von Sachsen und seine. Er hatte deshalb an Pigalle die kurze Strophe gerichtet, in der er den Marschall als den Helden und sich selbst bescheiden als den Trompeter bezeichnete.

Le Roi connaît votre talent:
Dans le petit et dans le grand
Vous produisez œuvre parfaite,
Aujourd'hui, contraste nouveau!
Il veut que votre heureux ciseau
Du héros descend au trompette.

Doch bereits am 23. Februar brachte eine der damaligen Zeitungen les Nouvelles à la main die Mitteilung, daß die Verse des Dichters auf einem Mißverständnis beruhten. Der König hatte sich ausdrücklich vernehmen lassen, daß er Voltaire weder schätze noch achte. Als der Minister, Herr de Maurepas, nachfragte, ob es dem berühmten Landflüchtigen nicht erlaubt werden könnte, sich in Versailles vorzustellen, habe seine Majestät geantwortet, daß es mehr als genug sei, wenn der König seinen Aufenthalt in Paris unbemerkt ließ.

Es handelte sich darum, daß der Marquis de Marigny, der Direktor der Kunstakademie und des Bauwesens, aus Italien einige Porphyrblöcke hatte kommen lassen, die er für Statuen der großen Männer Frankreichs bestimmte. Sein Nachfolger, der Graf von Angivilliers, wollte diese gerne auf Rechnung des Königs kaufen. Hierauf ging der frühere Direktor unter der Bedingung ein, daß die Blöcke gemäß ihrer Bestellung verwandt würden und er formulierte die Bedingung genauer dahin, daß man Büsten des Siegers von Fontenoy und des Dichters von Zaïre schuf. Der kunstliebende Marquis, nicht der König wünschte also diese zu haben.

V

Am 25. Februar lag Voltaire wie gewöhnlich ausgestreckt auf seinem Lager und diktierte seinem Sekretär einen Brief, als ihn ein starker Husten überfiel. »Ich spucke Blut,« rief er aus, und das Blut sprang ihm mit einer Gewalt, als hätte man den Hahn einer Fontäne geöffnet, aus Mund und Nase.

Voltaires erster Gedanke war, nicht nach Tronchin zu schicken, sondern nach dem Abbé Gaultier, da er ständig von der Furcht geplagt wurde, man würde seinen entseelten Körper auf den Schindanger werfen. Wagnière, der den Priester nicht gern hereinlassen wollte, tat nur so, als ob er fortginge und versicherte ihm, daß er den Abbé nicht zu Haus getroffen habe. Voltaire sagte zu den Anwesenden: »Meine Herren, Sie sind wenigstens Zeuge dafür, daß ich gewünscht habe, was man die Pflicht eines Sterbenden nennt, zu erfüllen.« Tronchin kam, verordnete die in diesem Fall sonderbare, durch die Gewohnheit der Zeit vorgeschriebene Kur, den Patienten zur Ader zu lassen. Nachdem man ihm ungefähr drei Maß Blut entzogen hatte, wurde der Blutsturz weniger stark; das Blutspucken aber hielt trotzdem in abnehmender Heftigkeit volle zweiundzwanzig Tage an. Man stellte eine junge Krankenwärterin an, die trotz der Schwäche Villettes den Neugierigen und Zudringlichen gegenüber, ohne Gnade alle vor die Tür setzte.

Am 2. März kam der Abbé wieder und wurde empfangen. Voltaire bat ihn, seine Beichte zu hören, »bevor er sterbe.« Er sagte nach der Behauptung Wagnières ohne jede Feierlichkeit: »Vor einigen Tagen bat ich Sie zu kommen wegen der Angelegenheit, die Sie begreifen. Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir die kleine Sache auf der Stelle ordnen.« Der Abbé antwortete, daß er Voltaires Beichte gern hören wolle, daß aber vorher eine Widerrufung des Inhaltes seiner Schriften unumgänglich wäre. Voltaire erklärte, daß er alles Nötige tun würde, schickte die Anwesenden fort, und blieb mit dem Abbé allein.

Drei Tage vorher hatte er auf Bitten Wagnières, ihn in den Stand zu setzen, die Beschuldigungen zu widerlegen, mit denen Voltaires Feinde die Erinnerung an ihn verunglimpfen würden, diesen gebeten, ihm ein Stück Papier zu geben und hatte die folgenden Zeilen geschrieben:

»Ich sterbe in Anbetung Gottes, in Liebe zu meinen Freunden, ohne Haß gegen meine Feinde und in Verabscheuung des Aberglaubens.«

28. Februar 1778.
Voltaire.

Er bat den Abbé, diese »Widerrufung« – die ja keine war, sondern nur das Glaubensbekenntnis eines Deisten – in die Pariser Zeitungen einrücken zu lassen. Der Abbé antwortete, daß das keine Eile habe, er müßte erst wissen, ob seine Vorgesetzten mit dieser »Widerrufung« zufrieden wären.

Er brachte sie zum Erzbischof von Paris, der sie für ungenügend erklärte. Darauf ging er damit zu seinem nächsten Vorgesetzten, dem Gemeindepriester von Saint-Sulpice, dem er zugleich von Voltaire 600 Livres für die Armen der Gemeinde überreichte, und erhielt von ihm dieselbe ablehnende Antwort.

Deshalb kam der Abbé aufs neue, um ein die geistlichen Forderungen besser befriedigendes Bekenntnis zu erlangen. Voltaire schrieb nun nach einer Überlieferung »um Frieden zu erhalten« die folgende Erklärung:

»Ich, Unterzeichneter, teile mit, daß ich in den letzten vier Monaten an Blutsturz gelitten habe und daß ich bei meinem Alter von 84 Jahren außerstande bin, mich zur Kirche zu schleppen. Da der Herr Gemeindepriester von Saint-Sulpice zu seinen übrigen guten Handlungen die Güte hinzugefügt hat, mir den Priester Herrn Abbé Gaultier zu senden, habe ich vor diesem gebeichtet und sterbe in der katholischen Religion, in der ich geboren bin, und hoffe von der göttlichen Barmherzigkeit, daß sie mich für wert halten wird, mir alle meine Fehler zu vergeben (Der Abbé bewegte ihn, noch hinzuzufügen:) und falls ich jemals die Kirche gekränkt habe, bitte ich Gott und sie um Verzeihung.«

2. März 1778 im Hause des Herrn Marquis de Villette.
Voltaire.

Der Abbé sollte nun Voltaire das Sakrament geben, dieser wehrte aber mit der Antwort ab: »Herr Abbé, bedenken Sie, daß ich immer wieder Blut spucke, Sie müssen sich sehr in Acht nehmen, das Blut des lieben Gottes nicht mit meinem zu vermischen.«

Der Gemeindepriester von Saint-Sulpice empfing den Abbé Gaultier sehr ungnädig, als dieser mit der unterschriebenen Erklärung zurückkam, die ja doch für die Rechtgläubigkeit ebensowenig Bürgschaft bot wie die erste. Als aber der Abbé nun wieder nach der Rue de Beaune geschickt wurde, bekam er die Antwort, daß Herr de Voltaire nicht imstande sei, ihn zu empfangen.

Am selben Tage, an dem Voltaire gebeichtet hatte, kam La Harpe im Namen der französischen Akademie zu ihm, um nach seinem Gesundheitszustand zu fragen, und teilte ihm den Entschluß der Akademie mit, solange seine Krankheit währte, zu jeder Sitzung einen Boten zu senden und nach seinem Befinden zu fragen. »Ich habe,« antwortet Voltaire, »geglaubt, mich für die Höflichkeit der Akademie nicht besser erkenntlich zeigen zu können, als daß ich meine Pflichten als Christ erfüllt habe, um in geweihter Erde begraben werden zu können und eine Messe der Franziskaner Mönche zu erhalten.« Es war nämlich Sitte bei der Akademie, daß sie im Franziskanerkloster eine Messe für jedes Mitglied lesen ließ, das sie verlor.

Als Voltaires Pariser Arzt Lorry satyrisch über seine Beichte lächelte, antwortete der Kranke: »Ich will nicht auf den Schindanger geworfen werden. Diese Pfaffen belästigen und plagen mich, aber sie halten mich in ihrer Hand! Ich bin gezwungen, mich aus der Schwierigkeit herauszuwinden. Sobald ich kann, reise ich fort. Der Glaubenseifer dieser Priester kann mich nicht nach Ferney verfolgen. Wäre ich dort geblieben, wäre das nicht geschehen.«

Natürlich wurde über Voltaires Beichte berichtet, als hätte er nun die ganze Arbeit seines Lebens verleugnet. Der eifrige Horace Walpole ging in einem Briefe an Madame du Deffand davon aus. Sie war aber doch so vernünftig, ihm darauf zu antworten: »Sie beurteilen die Beweggründe zu seinem Verhalten falsch; es würde ihm nahe gehen, wenn man glaubte, er hätte seine Denkweise verändert; alles, was er getan hat, tat er aus Rücksicht auf das Herkommen (pour le décorum) und damit man ihn in Frieden lassen soll.«

Walpole hatte es als Engländer nicht leicht, sich in französische Zustände und die Zeremonien, die sie zur Folge hatten, zu versetzen. Wenn z. B. ein französischer Protestant seine Ehefrau nicht als Concubine und seine Kinder nicht als unehelich betrachtet sehen wollte, war er gezwungen, sich dem katholischen Ceremoniell zu unterwerfen. Es gab in Frankreich nur eine Religionsform, die durch die übermächtige Priesterschaft vertreten wurde; diese bemächtigte sich des Individuums bei seiner Geburt und ließ es nicht los, bevor es seinen letzten Atemzug getan hatte.

VI

Zur allgemeinen Überraschung erholte sich der Patient. Seine starke Constitution überwand in seinem hohen Alter sogar einen derart ernsten Krankheitsanfall. Bereits am 2. März schreibt Madame du Deffand an Walpole: »Ich hörte gestern von d'Argental, der zweimal am Tage nach Voltaire sieht, daß Tronchin ihn für geheilt hält. Er hat kein Fieber, er ist nicht schwach; er speit wohl noch etwas Blut; aber das sind die Reste des Blutsturzes; man ist überzeugt, daß er wieder gesund wird. Ich gehe heute vielleicht zu ihm.«

Sobald sich Voltaire wieder hergestellt fühlte, konnte er es nicht unterlassen, die Blicke wieder nach Versailles zu wenden. Er war ja doch gentilhomme ordinaire du Roi und im Grunde konnte nur der Zwangszustand, in dem er sich befunden hatte, entschuldigen, daß er noch nicht um Audienz beim Königspaar nachgesucht hatte.

Er wußte nichts davon, welch' einen unzerbrechbaren Ring der Clerus um Ludwig den Sechzehnten geschlossen hatte und daß die Priester es als einen Triumph der Gottlosigkeit darstellten, wenn der König den Verfasser des Dictionnaire philosophique empfing.

Da es jedoch schien, als gäbe es keine Grenzen für die Begeisterung, mit der Paris Voltaire huldigte, oder für die privaten Ehrungen, die er jeden Tag erhielt, erlaubten sich einige Hofleute, es der Königin als unklug zu bezeichnen, eine starke Spaltung zwischen dem Empfinden der Bevölkerung und des Hofes zu offenbaren.

Man hatte vorgeschlagen, Voltaire einen Sessel im Théâtre Français zu geben, um ihm dieselbe Ehre zu erweisen, die Corneille und Racine genossen hatten. Marie Antoinette zog es vor, ihm eine Loge zu überlassen, die wie die ihre tapeziert war, und die neben der ihren lag, so daß sie an jedem Abend mit ihm sprechen konnte. Als aber der König hörte, daß die Königin Voltaire erwähnte, sagte er: Herr de Voltaire ist also in Paris; das geschieht ohne meine Erlaubnis! – Aber Sire, antwortete sie, er ist niemals ausgewiesen worden. – Das ist möglich; ich weiß aber, was ich sage! –

Man legte Marie Antoinette dar, falls Voltaire nicht in Sonderaudienz empfangen werden durfte, könnte die Königin ihn in dem großen Empfangsraum des Schlosses sehen. Sie dachte daran, den Rat zu befolgen und beschäftigte sich auch stark damit, worüber sie wohl mit ihm sprechen könnte. Man riet ihr da, ausschließlich über seine Dichtungen mit ihm zu reden. Sie wollte sich jedoch erst des Königs Zustimmung sichern und am nächsten Tage antwortete sie dann, daß nach einer nun endgültig getroffenen Bestimmung Voltaire mit keinem Mitglied der Königsfamilie ins Gespräch kommen sollte. Der König wollte seine Nachsicht dadurch zeigen, daß er von seiner Anwesenheit in Paris keinerlei Notiz nahm.

Obgleich Tronchin einen unvermeidlichen Rückfall voraussagte, falls Voltaire nun seine gewohnte Lebensweise wieder aufnahm, machte er sich sofort wieder an die Umarbeitung seiner Tragödie, diktierte zahlreiche Briefe und empfing Besuche all' der Hunderte, die neugierig waren, ihn zu sehen, darunter aller, die eine Feder halten konnten.

Viele hatten daheim die höflichen Worte vorbereitet, die sie an ihn richten wollten. Ein Übersetzer Ovids mit Namen Fariau de Saint-Ange sagte zu Voltaire: »Heute bin ich nur gekommen, um Homer zu begrüßen; ein andermal will ich Sophokles und Euripides begrüßen, dann Tacitus, dann Lucian.« – »Mein lieber Herr,« antwortete der spottlustige Dichter, »ich bin, wie Sie sehen, ein ziemlich alter Mann, könnten Sie all' diese Besuche nicht sofort mit einem Male machen?« –

Unter denen, die erschienen, war auch das Mannweib, der Chevalier d'Eon, dieser geheimnisvolle Abenteurer, der in der Regel als Mann galt, sich aber in Frauentracht am Hofe der Königin Elisabeth gezeigt hatte und deren Vorleserin gewesen war. Als sie gemeldet wurde, stürzten die Dienerschaft und die Anwesenden derart zusammen, um sie zu sehen, daß sie sich belästigt fühlte, das Gesicht im Muff versteckte und sich darauf beschränkte, einige höfliche Worte mit dem Mann zu wechseln, den sie hatte kennen lernen wollen.

VII

Als man am 10. März Probe zur Irène im Saal des Marquis de Villette abhielt, war Voltaire zu schwach, um ihr beizuwohnen. Er hatte einen Teil der Nacht hindurch gehustet und Tronchin hatte Ruhe verordnet, nun war der Arzt unerbittlich, da es um die Erlaubnis für den Dichter ging, der ersten Vorstellung seiner Tragödie beizuwohnen, obgleich sich weder die Schauspieler noch die Pariser diese Vorstellung ohne ihn denken konnten. Gegen die Erwartung zeigte er sich selbst wenig begierig, zu erscheinen; die Schauspieler hatten ihn enttäuscht; er fand sie mittelmäßig und unintelligent, sie wollten sich nicht einmal durch seine Winke belehren lassen.

Es fehlte Madame Vestris, die die Hauptrolle spielen sollte, trotz ihres schönen Talentes »le diable au corps«, der Teufel in den Gliedern, der für Voltaire die Bedingung für die Schauspielkunst war.

Er fühlte sich mehrere Tage wie vernichtet; und er sah um mehrere Jahre gealtert aus. Er wollte nicht mehr von seinem Stück sprechen hören, schien abgestumpft. Da nichts Eindruck auf ihn machte, zeigte man ihm eine Anzahl Spottverse, die gegen Irène geschrieben waren; aber er, der sonst so leicht hochfuhr, gab sie Villette zurück, ohne ein Wort zu sagen.

Währenddessen wimmelte es in den Blättern von Versen und Dichtungen aller Art ihm zu Ehren. Le Brun schrieb das Gedicht an Herrn de Voltaire bei seiner Ankunft in Paris, Blain de Sainmore Nach der ersten Begegnung mit Herrn de Voltaire, La Harpe Verse, die in Herrn de Voltaires Kammer geschrieben wurden. Es gab außerdem Gedichte von Madame du Bussy, von Imbert, von d'Oigny, von Pierre Augustin Guys, dem Verfasser der literarischen Reise durch Griechenland, für die Voltaire vor zwei Jahren mit seiner 124. Epistel in Versen gedankt hatte, in der er über sich selbst sagte:

Il ne connaissait que le nom
De cette Grèce si polie.
La bigote Inquisition
S'opposait à sa passion
De fair un tour en Italie …
Enfin il se croit au rivage
Consacré par les demi-dieux.
Il les reconnaît beaucoup mieux
Que s'il avait fait le voyage,
Car il les a vus par vos yeux.

Natürlich verhielten sich die vielen Feinde Voltaires bei diesem Blumenregen nicht untätig. Sie sandten ihm Epigramme und Satiren aller Art ins Haus. Er sagte: »In Ferney bekam ich solche Schweinereien in jeder Woche zugeschickt und mußte Porto dafür bezahlen; hier kostet mich das nichts; ich mache ein gutes Geschäft.«

Es trat im Befinden Voltaires eine gewisse Besserung ein, doch spuckte er dauernd Blut und war niedergeschlagen.

Niemals war eine Vorstellung im Theéâtre Français mit so großer Spannung erwartet worden wie die Erstaufführung von Irène. Der Andrang war so ungeheuerlich, daß der Saal in einem Augenblick besetzt war. Die Königin mit ihrem Hof und der Graf und die Gräfin von Bourbon, der Graf von Artois, ganz Versailles, mit Ausnahme des Königs waren dort. Marie Antoinette saß mit einem Bleistift in der Hand und schrieb sich die Verse auf, die ihr am besten gefielen; wahrscheinlich die Verse, die einen feierlichen und religiös-erbaulichen Charakter hatten, um sie ihrem Gemahl zu geben und ihm eine bessere Vorstellung von dem Dichter des Stückes zu geben. An dem Abend ernteten gerade die Verse, die Angriffe auf die Geistlichkeit enthielten, den lebhaftesten Beifall.

Als der Erfolg gegen Ende des Stückes unzweifelhaft und deutlich wahrnehmbar war, unterrichtete man Voltaire eiligst davon. Er antwortete: »Das ist mir ein Trost, macht mich aber nicht gesund.«

Am nächsten Tage ging es ihm wieder weniger gut.

Bei der zweiten Aufführung von Irène fragten die Zuschauer zur Bühne hinauf, wie es dem Dichter der Tragödie ginge. Monvel antwortete: »Herrn de Voltaires Gesundheitszustand ist nicht so, wie wir gern möchten, daß er es zur Freude des Publikums und in unserem eigenen Interesse wäre.« Am nächsten Tage jedoch teilte das Journal de Paris mit, daß die Kränklichkeit des Dichters keinerlei Folgen haben könne, und tatsächlich war er bald wieder hergestellt.

Mit demselben Leichtsinn wie das erste Mal öffnete er wieder sein Haus für jeden, der ihn sehen wollte. Die Akademie sandte sofort eine Deputation, die ihn zum Erfolg von Irène beglückwünschte, und er widmete sein Stück zum Dank der Akademie.

VIII

Voltaire schien wieder gesund, ja jung geworden zu sein. Er war eifrig, ungeduldig, tätig, ging zu Fuß fort und fuhr in seinem Wagen aus und machte bei seinen Freunden Besuche. Als seine Pferde im Schritt über den Platz Ludwigs des Fünfzehnten (jetzt Place de la Concorde) gingen, den er früher noch nicht gesehen hatte, wurde er erkannt, und eine Schar von Neugierigen und Verehrern umringten seinen Wagen und begleitete ihn bis an sein Heim.

Bei der Rückkehr wurde er von einer Deputation der Freimaurerloge Neun Schwestern begrüßt, die aus vierzig Freimaurern mit ihrem Ehrwürdigen an der Spitze bestand. Sie teilten ihm mit, daß man am 10. März sein Wohl in der Loge ausgebracht und ihm zu Ehren Lieder gesungen hätte: Wenn er auch kein Freimaurer sei, gehörte er doch dem Orden an durch seine brennende Liebe zur Menschheit und wegen seines Hasses gegen Unverträglichkeit und Fanatismus. Die Loge bestand zum großen Teil aus Schriftstellern und Künstlern, und Voltaire hatte jedem ein verbindliches Wort zu sagen. Mit seinem scharfen Gedächtnis erinnerte er sich bei jedem, wodurch er sich bekannt gemacht hatte.

Voltaire war zum Mittelpunkt von Paris geworden. Wagnière hörte auf dem Platz Louis Quinze einen armen Charlatan, der Kartenkunststücke machte, den Umherstehenden sagen: »Diese Kartenkunststücke, meine Damen und Herren, habe ich in Ferney von dem großen Mann gelernt, der jetzt Paris auf den Kopf stellt, Herrn de Voltaire, notre maître à tous.«

Am 30. März war der Patient endlich so weit, daß er ins Theater fahren und sein Schauspiel sehen konnte. Aber zuerst wollte er einen Besuch in der französischen Akademie ablegen.

Sein Wagen hatte die größte Mühe, sich einen Weg durch die Bevölkerung zu bahnen, die sich schnell angesammelt hatte und die Luft mit ihren Huldigungsrufen erfüllte. Das Gedränge war so gewaltig, daß ein junger Mann, der Graf von Montlosier dadurch in die Höhe gehoben und gegen Voltaires Schulter geworfen wurde, so daß er, ganz mit Puder aus seiner Perücke bestaubt, wieder herunterglitt.

Im Louvre hatten sich mehr als 2000 Menschen eingefunden. Sie klatschten in die Hände und riefen: »Es lebe Herr de Voltaire!« Die Akademie brach zum einzigen Male mit ihrer überkommenen Sitte und ging ihm gesammelt in den ersten Saal entgegen, etwas, was sie vorher niemals getan hatte, nicht einmal beim Besuch regierender Fürsten. Nur die geistlichen Mitglieder waren mit zwei Ausnahmen zu Haus geblieben. Die anderen wollten auf diese Weise ihren »Respekt und ihre tiefe Bewunderung« zeigen.

Voltaire wurde genötigt, den Sessel des Direktors einzunehmen, und einstimmig zum Ehrendirektor für das nächste Trimester ernannt.

In dieser Sitzung trug D'Alembert seine Lobrede über Despréaux vor, die großen Erfolg hatte. Er flocht eine Andeutung auf den großen Kollegen ein, den die Akademie nach einem Verlauf von 28 Jahren in ihrer Mitte sah. Nach einem Vergleich des Stiles Boileaus mit dem Racines, charakterisierte er die drei Meister Despréaux, Racine und Voltaire: »Ich nenne den Letzten, trotzdem er noch lebt; denn warum sollte man auf die Freude verzichten, einen großen Mann auf den Platz zu stellen, den die Nachwelt ihm bestimmen wird?«

Nach der Sitzung machte Voltaire bei dem gegenüberwohnenden secrétaire perpétuel der Akademie Besuch, doch es wurde ein kurzer Besuch, denn die Zeit bis zum Beginn des Theaters war knapp, und wieder war es nicht leicht für den Wagen, den Strom Neugieriger zu spalten, der in der Zwischenzeit in beinahe erschreckender Weise angewachsen und angeschwollen war. Leute aller Stände und Lebensstellungen, aller Altersklassen, gewöhnliche Männer und große Herren, Savoyarden, Gemüsehändler, kleine Kinder – in einem ungeheuren Chor heulten, schrien, riefen, brüllten sie alle: »Es lebe Voltaire!« während sie wie Verrückte in die Hände klatschten und um den Wagen bis hin zum Theater wogten.

Kaum stand der Wagen, als man schon auf den Rädern sich erhob und am Wagen hinaufkletterte, um den großen Mann in der Nähe zu sehen.

Wagnière erzählt, daß ein Herr auf das Trittbrett des Wagens sprang und Voltaire um die Erlaubnis bat, seine Hand zu küssen. Als er statt dessen die Hand Madame de Villettes küßte, rief er naiv aus: »Wahrlich, eine frische und volle Hand für einen Mann von vierundachtzig Jahren.« – Die Frauen waren am allereifrigsten; bei jedem Schritt, den Voltaire tun wollte, stürzten sie auf ihn zu und hielten ihn an, um ihn besser in Augenschein nehmen zu können. Als Erinnerungszeichen rissen sie kleine Stücke von dem Zobelpelz ab, den Katharina ihm geschenkt hatte.

IX

Als er sich im Saal zeigte, ertönten sofort laute Zurufe und das ganze Parterre trampelte mit den Füßen Beifall. Sein Platz war in der Loge, die für die Kammerherren des Königs reserviert war. Dort hatten bereits Madame Denis und Madame de Villette Platz genommen. Er wollte sich hinter sie setzen; aber die Zurufe des Theaters zwangen ihn, zwischen ihnen Platz zu nehmen.

»Der Kranz!« riefen alle und im selben Augenblick trat der Schauspieler Brizard in die Loge und drückte einen Lorbeerkranz auf Voltaires Haupt. Mit einer bescheidenen Handbewegung nahm er ihn wieder ab und legte ihn der jungen Marquise, seiner schönen und gütigen Adoptivtochter, um die Stirn. Doch das Publikum forderte laut, daß er selbst ihn tragen sollte und es kam zu einem kurzen Streit, bis der Prinz von Beauveau ihm dadurch ein Ende machte, daß er den Kranz wieder um das Haupt legte, für das er bestimmt war.

Grimm schreibt als Augenzeuge:

Alle Damen hatten sich erhoben. Alle Schauspieler standen am Rande der Bühne, ehe der Vorhang hochging und schauten auf Voltaire. Man erdrückte sich am Eingang zum Parterre, in das mehrere Damen hinuntergegangen waren, da sie sonst keinen Platz finden konnten, von wo aus sie einen Augenblick den Gegenstand der allgemeinen Anbetung sehen konnten. Der ganze Saal war durch den Staub verdunkelt, der von der Menge aufstieg, die hin und her wogte. Diese Begeisterung, dies allgemeine Delirium dauerte länger als zwanzig Minuten, und nur mit Mühe konnten die Schauspieler endlich mit der Aufführung beginnen.

Irène wurde zum sechsten Male gespielt. Aber mit Ausnahme Voltaires war nicht ein Mensch gekommen, um die Tragödie zu sehen. Keiner hörte zu und als der Vorhang nach dem letzten Akt niederging, begann wieder die Wut mit Klatschen und Trampeln, und Voltaire wurde gezwungen, einige Worte an die brausende und bebende Menge zu richten. Der Sturm schien kein Ende nehmen zu wollen, als nach geraumer Zeit der Vorhang wieder aufging.

Die Schauspieler, die von der allgemeinen Begeisterung mitgerissen worden waren und die außerdem von Dankbarkeit für den Mann erfüllt waren, der ein halbes Jahrhundert lang die größte Stütze ihres Theaters gewesen war, hatten in aller Eile überlegt, was sie wohl unternehmen könnten, um sich mit der Leidenschaft, die im Saal brandete, auf einer Höhe zu zeigen. Ein Fräulein La Chassaigne bekam den Einfall, daß man Voltaires Büste bekränzen sollte.

Diese war erst vor ziemlich kurzer Zeit im Foyer des Theaters aufgestellt worden; man holte sie und ihr Piedestal, und bald thronte sie mitten auf der Bühne. Was nun folgte, war improvisiert, aber es hätte nicht stärker wirken können, wenn es Wochen vorher geplant worden wäre. Alle Schauspieler und Schauspielerinnen standen im Halbkreis um die Büste mit Palmenzweigen und Blumenguirlanden in den Händen. Im Mittelpunkt befand sich eine zahlreiche Schar, die aus den Kulissen auf die Bühne geeilt war. Im Hintergrunde hatten sich die Gardisten aufgestellt, die als Kaiserwache in Irène figuriert hatten, und das anscheinende Durcheinander der vielen verschiedenartigen Kostüme und Trachten in buntem Gemisch verschmolz wunderbar in Harmonie.

Beim Anblick dieser Büste, dieser Guirlanden und Palmen brach ein Sturm von Bravorufen, ein Orkan von Beifallsrufen aus. Kein einziger fühlte sich zu einem satirischen Lächeln oder Wort aufgelegt. Wäre ein solches Wort geäußert worden, hätte sich der Urheber der Gefahr ausgesetzt, zerrissen zu werden. Neid und Haß, Ärgernis und Verbitterung, alles was Voltaire mehrere Menschenalter das Leben schwer gemacht hatte, war erdrosselt und wie aus dem Sein ausgewischt.

In der Mönchstracht, in der Léonce gespielt wurde, trat Brizard vor und legte den ersten Kranz um das Haupt der Büste, und die Schauspieler imitierten eine Fanfare von Trommeln und Trompeten. Dann wurden Kränze den Gardisten auf die Bajonette gesteckt, und die Wache hielt sie so, daß sie eine Art Triumphbogen bildeten.

Die Stimmen aller Schauspieler und aller Zuschauer, die mit der Taktfestigkeit der Leidenschaft jetzt nur eine einzige Stimme bildeten, riefen den Namen, der für sie Hunderte von Meisterwerken bedeutete. Voltaire hatte sich im Hintergrunde seiner Loge versteckt und der Marquis de Villette holte ihn nach vorn. Er verbeugte sich so tief, daß seine Stirn den Rand der Loge berührte und richtete sich danach wieder auf, die Augen voller Tränen. Auf der Bühne trat Madame Vestris vor und rezitierte die folgenden Verse, die der Marquis von Saint-Marc improvisiert hatte.

Aux yeux de Paris enchanté
Reçois en ce jour un hommage
Que confirmera d'âge en âge
La sévère postérité.
Non, tu n'as pas besoin d'atteindre au noir rivage
Pour jouir de l'honneur de l'immortalité.
Voltaire, reçois la couronne
Que l'on vient de te présenter;
Il est beau de la mériter,
Quand c'est la France qui la donne.

Diese Verse, die gut vorgetragen wurden, gefielen derart, daß man »bis« rief, so daß sie wiederholt werden mußten. Die Schauspielerin Fräulein Fanier, die Saint-Marc das Gedicht entrissen hatte, küßte die Büste voller Innigkeit, als die Reihe an sie kam, ihr zu huldigen, und die anderen Schauspielerinnen folgten dem Beispiel.

Diese Szene ist bekanntlich mit großer Treue auf einem Kupferstich von Moreau dargestellt.

Nach Irène wurde nun Voltaires Komödie Nanine unter derselben Begeisterung für den Dichter und derselben Unaufmerksamkeit für das Stück gespielt, das ebenso wie die Tragödie warm applaudiert wurde. Als der Vorhang nach dem Lustspiel fiel, erhob sich Voltaire. In dem Gange und auf der Treppe hatten sich alle Damen aufgestellt, so daß er zwischen zwei Reihen heißbelebter Gesichter, die durch Tränen hindurch lächelten, zu seinem Wagen hinuntergelangte, fast von Frauenhänden getragen.

Man wollte ihn nicht fahren lassen, man stürzte sich auf die Pferde, ja so unglaublich es klingt: man küßte auch sie. Man rief nach Fackeln, damit alle ihn sehen konnten. Als der Wagen sich in Bewegung setzte, standen die Begeisterten auf den Tritten, um ihm noch einmal die Hände zu küssen. Wieder war die Volksmenge, die »vive Voltaire« rief, so ungeheuer wie bei der Ankunft, so daß der Kutscher die Pferde den ganzen Weg im Schritt gehen lassen mußte.

X

Wenn bei den alten Römern ein Feldherr nach großen errungenen Siegen – doch auf sein Gesuch – Erlaubnis erhielt, die Ehre des Triumphes zu genießen, erhielt er für einen Tag das Imperium über die Hauptstadt. Der Zug wurde dann von der Regierung und dem Senat eröffnet, dann folgten die Musik, dann die Beute, Kunstwerke und Prachtgegenstände in langer Reihe, Abbildungen der eroberten Städte und die goldenen Kränze, die die Provinzen dem Triumphator geschenkt hatten. Dieser trug einen Lorbeerzweig in der einen, ein Zepter in der anderen Hand und über seinen Kopf hielt ein Sklave Jupiters goldene Krone, während ihm die Lictoren zuriefen: »Bedenke, daß Du ein Mensch bist!«

Hätte etwas Ähnliches zum Triumph Voltaires ausgeführt werden sollen, dann hätten die Abbildungen der eroberten Städte nahezu alle europäischen und einige Amerikas darstellen müssen. Jedoch hätte kein Lictor nötig gehabt, dem Triumphator zuzurufen: »Bedenke, daß Du ein Mensch bist!« Der Triumph kam spät und war teuer erkauft.

Als Voltaire nach Hause kam, war er stark bewegt, aber er sagte zu seinem Sekretär: »Mein Freund, Sie kennen die Franzosen nicht, die sind ebenso eifrig gewesen, den Genfer Jean Jacques zu sehen; die Leute zahlten einem Lumpensammler einen Taler, damit sie auf seinen Schultern stehen durften, um Rousseau zu betrachten. Am nächsten Tage wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen und er mußte fliehen.«

Mit nicht geringerer Misanthropie über das, was er den leeren Dunst des Ruhmes nannte, sprach Voltaire zu Marmontel, als dieser sich bei ihm einfand, um ihm die Hand drücken zu dürfen.

Im Theater hatte die Königsfamilie ostentativ durch ihre Abwesenheit geglänzt und Marie Antoinette, die mit dem Grafen von Artois (dem späteren Karl dem Zehnten) in der Oper gewesen war, hatte die Absicht, incognito auf einige Minuten ins Théâtre Français zu gehen. Voltaire hatte ja vor anderthalb Jahren, als der Graf von Provence (der spätere Ludwig der Achtzehnte) ihn um ein kleines Singspiel für ein Fest gebeten hatte, das er der Königin in Brunoi geben wollte, ihm und ihr die Aufmerksamkeit erwiesen, das hübsche Ballett-divertissement L'Hôte et l'Hôtesse zu schreiben. Als sich die Königin aber nun aus der Oper ins Theater begeben wollte, empfing sie vom König ein Billet, durch das es ihr verboten wurde.

Wenn in der Handlungsweise des Hofes eine Absicht und Folgerichtigkeit gewesen wäre, so hätte man die Ignorierung Voltaires auch wirklich durchgeführt. Aber es gab ja in diesem zum Tode verurteilten Régime keinen wirklichen Willen. Man führte z. B. am 2. April am Hofe in Versailles Irène auf und beging die Taktlosigkeit, den Dichter nicht einzuladen, sich sein eigenes Stück anzusehen. Dadurch erwachte in Voltaire der Drang, so schnell wie möglich nach Ferney zurückzukehren, was u. a. Tronchin leidenschaftlich von ihm verlangte: »Sie sind«, sagte er, »selbst ein viel zu guter Kopf, daß Sie nicht begreifen sollten, daß man einen Baum von vierundachtzig Jahren nicht umpflanzen kann, wenn man nicht will, daß er eingehen soll.« Dupuits, der Gatte Marie Corneilles, unterstützte Tronchins Aufforderung zur schnellen Abreise mit aller Kraft. Der Schriftsteller Jean Baptiste Suard, einer von Voltaires treuesten Freunden und Verehrern, sprach im selben Sinne, sagte sogar während der Tafel bei Villette, falls er diese Lebensweise in Paris nur noch wenige Tage fortsetze, müßte man fürchten, daß sie ihn umbrächte.

Aber diese dringenden Bitten machten auf Voltaire nur Eindruck, wenn er einen Rückfall seiner Krankheit hatte. Von verschiedenen Seiten wurde ihnen mit aller Macht entgegengearbeitet. In erster Linie von Madame Denis, die sich in dem abgelegenen Tal der Juragebirge zu Tode langweilte und hier in dem Glück schwelgte, eine Person der Öffentlichkeit, ein Mittelpunkt in Paris zu sein. Dann von dem Marquis de Villette, über dessen Haus und Person Voltaires Anwesenheit einen vorher nie geahnten Glanz verbreitete. Endlich von Männern wie D'Alembert, Thibouville und den übrigen Philosophen, die in persönlicher Hinsicht durchaus uneigennützig, aber im Interesse ihrer Partei handelten, denn mit Voltaire hatten sie das Banner in ihrer Mitte, das sie ihr ganzes Leben lang entbehrt hatten.

Da Voltaire auf die Dauer nicht im Hause Villettes bleiben konnte, u. a. weil es dort so dunkel war, daß er zur Mittagszeit bei Licht arbeiten mußte, beschloß er – der mit seiner wieder erwachenden Schaffenslust den drohenden Tod vergessen hatte – sich ein Haus zu kaufen, in dem er sich nach eigenem Geschmack einrichten könnte. Und da gerade in der Nähe eines mit einem prächtigen Garten zum Verkauf war, wollte er zuerst dieses von dem Grafen d'Hérouville kaufen. Als die Angelegenheit sich zerschlug, ging und fuhr er durch die Stadt, um ein anderes Haus zu finden. Er kaufte dann auch auf Lebenszeit eines, das dem Herrn de Villarceaux gehörte, und er war so eifrig hinterher, diesen zu treffen, daß er ihn bei einer Familie aufsuchte, in der er zum Abend aß.

Nichts destoweniger erklärte Voltaire, daß er nun die nächsten zwei Monate in Ferney zubringen wollte, und der Plan war anscheinend so ernst, daß der Prinz von Condé ihm versprechen mußte, in Dijon auf ihn zu warten und Zimmer für ihn bereit zu halten.

XI

Inzwischen legte er zum Erstaunen aller eine derartige anscheinend unerschöpfliche Lebenskraft an den Tag, daß es selbst Tronchin imponierte. In einem Briefe von diesem steht: »Trotz unglaublicher Anstrengung befindet Voltaire sich wohl. Er will nach Ferney zurückkehren, um die verschiedenen Angelegenheiten seiner Kolonie zu ordnen, dann will er wieder nach Paris fahren, um sich hier niederzulassen; er hat sich ein Haus gekauft. Ich habe in meinem Leben viel verrückte Menschen gesehen, aber keinen Verrückteren als ihn. Er rechnet anscheinend darauf, hundert Jahr alt zu werden.«

Am 6. April ging Voltaire zu Fuß nach der Akademie. Eine arme Frau, die am Eingang der Tuilerien Bücher verkaufte, lief zu ihm und sagte: »Mein guter Herr de Voltaire, schreiben Sie ein paar Bücher, die ich verkaufen kann, und mein Glück ist gemacht.« Die Menge, die sich um sie sammelte, rief: »Das ist Herr de Voltaire, der Verteidiger der Unglücklichen, der die Familien Calas und Sirven befreit hat« (Wagnière).

Auch Madame de Deffand schrieb an Walpole: »Auf den Straßen folgt ihm die Bevölkerung, die ihn l'homme aux Calas nennt. Nur der Hof weigert sich, Begeisterung zu zeigen. Er ist 84 Jahre, und ich glaube beinahe, er kann nicht sterben. Er besitzt alle seine Sinne (die Arme war ja blind) und keiner ist geschwächt. Er ist ein höchst sonderbares Wesen und wirklich von überlegener Art.«

Voltaire hatte versprechen müssen, in der Loge Neun Schwestern einen Besuch zu machen. Da die Freimaurer ihn in seiner Eigenschaft als Fürsprecher der Unterdrückten auch ohne jede Weihe als einen der ihren betrachteten, hatten sie beschlossen, wenn er seinen Besuch ablegte, eine große Empfangs- und Huldigungszeremonie vorzunehmen.

Er wurde feierlich in die Loge geführt, als er am 7. April erschien, um die Brüder zu begrüßen, und von ihnen festlich aufgenommen. Man gab ihm einen Sitz an der Seite des Vorsitzenden und man legte ihm einen Lorbeerkranz um das Haupt. In der Rede, die ihm gehalten wurde, stehen ein paar schöne Zeilen:

»Welcher Bürger hat dem Vaterland besser gedient als Sie! Sie haben es über seine Pflichten und wahren Interessen aufgeklärt, als Sie den Fanatismus verabscheut und den Aberglauben lächerlich machten, den Geschmack zu seinen wahren Regeln zurückführten, die Geschichte zu ihrem wahren Ziel, die Gesetze zu ihrer ursprünglichen Echtheit. Wir versprechen, unsern Brüdern zu Hilfe zu kommen, und Sie sind der Schöpfer einer ganzen Kolonie gewesen, die Sie verehrt und die buchstäblich von Ihren Wohltaten widerhallt. Sie haben dem Ewigen eine Kirche errichtet; aber, was von noch größerem Wert ist, Sie haben neben dieser Kirche Zufluchtsstätten für Männer errichtet, die verbannt, aber nützlich waren und die ein blinder Glaubenseifer gezwungen hätte, weiter zu wandern. So sind Sie, vielgeliebter Bruder, Freimaurer gewesen, ehe Sie die Würde eines Freimaurers empfingen, und Sie haben die Verpflichtungen eines Freimaurers erfüllt, ehe Sie uns versprachen, sie zu halten.«

Bei dem Festmahl, das man darauf Voltaire in der Freimaurerloge gab, war er vorsichtig genug, nur ein bißchen Bohnenpurée zu essen. Aber er hielt sich für so vollständig gesund, daß er sich von dort zur Marquise de Montesson begab, der heimlichen Frau des Herzogs von Orléans, und den Abend dort verbrachte.

Am 11. April machte er seinen Gegenbesuch bei Madame du Deffand, die zwar etwas gekränkt darüber war, daß dieser Besuch so lange auf sich hatte warten lassen, aber (wie sie ihrem lieben Walpole erzählte), ihren alten Freund aufs beste empfing und ihm keinerlei Vorwürfe machte. Er blieb eine ganze Stunde und war »unendlich liebenswürdig«. Sie schrieb: »Wenn er mich oft besuchen kommt, wird mir das sehr lieb sein; wenn er mich im Stich läßt, werde ich wissen, ihn zu entbehren. Ich erlaube mir weder Erwartungen noch Pläne.«

Sie bekam ihn nicht öfter zu sehen als dieses eine Mal. Der Besuch machte ihr aber noch zu schaffen. Ihre Wohnung lag im St. Josephs-Kloster. Die Nonnen erfuhren, daß die reine Luft des Klosters dadurch entweiht worden war, daß der verabscheuungswürdigste Schriftsteller Frankreichs dessen Gebiet durch seine Anwesenheit besudelt hatte. Und als man sechs Wochen später im Kloster hörte, daß man dem gottlosen Gast ein Grab in geweihter Erde verweigert hatte, versammelten sich die Nonnen mit ihren Schülerinnen vor den Fenstern Madame du Deffands und brachten ihr durch Rufen und Schreien eine Katzenmusik dar, durch welche die Erbitterung darüber, daß eine Bewohnerin dieser heiligen Mauern ihre Tür einem Verdorbenen und Verstoßenen geöffnet hatte, den kräftigsten Ausdruck fand.

Durch einen Zufall lernte Voltaire in diesen letzten Tagen ein einzelnes Mitglied der Königsfamilie flüchtig kennen. In der Begleitung von Wagnière ging er quer durch den kleinen Garten im Palais Royal, um bei der Gräfin de Blot vorzusprechen, der er anläßlich seines Hauskaufes ein Wort sagen mußte, als er zwei kleine Knaben mit ihrer Gouvernante sah. Er fragte, wer sie wären, weil ihm die überraschende Ähnlichkeit des einen kleinen Knaben mit dem Regenten auffiel. Es war der spätere König Louis-Philippe.

Die Gouvernante, die Voltaire kannte, drängte ihn dazu, hineinzugehen und sich die beiden kleinen Prinzessinnen anzusehen, die gerade schliefen. Inzwischen war die Herzogin davon unterrichtet worden, daß Herr de Voltaire bei ihren kleinen Kindern war. Sie kam eilends, wie sie war, in Unterrock und Frisiermantel, mit aufgelösten Haaren, in Begeisterung darüber, wie sie sagte, zum erstenmal einen so berühmten Mann zu sehen, dessen Bekanntschaft sie lange zu machen gewünscht hatte.

Es ist ein sonderbarer Gedanke, daß Voltaire, der unter Ludwig dem Vierzehnten ein Jüngling war, solange lebte, daß er Louis-Philippe sah, wenn auch nur als Kind.

Am selben Tage, an dem er die Herzogin kennen lernte, machte er aus Anlaß des Hauskaufes noch zwei Besuche und einen dritten bei der berühmten jungen Sängerin Sophie Arnould, die ihm behilflich gewesen war, die Rolle der Zoe in Irène von Madame Molé auf Mademoiselle Sainval zu übertragen.

XII

Er suchte auch einige gleichaltrige Freundinnen aus der Jugendzeit auf. Madame du Deffand war die einzige von diesen, die ihre geistige Regsamkeit bewahrt hatte. Die Gräfin von Ségur, zu der er kam, war todkrank. Sie war sehr niedergeschlagen, vergaß aber Krankheit und Alter, als beide zahllose Erinnerungen aus ihrer gemeinschaftlichen Jugend auffrischten. Er erzählte mit einer solchen Lebendigkeit und einem so ausgeprägten Wirklichkeitssinn, daß sie das Erzählte wiedererlebte.

Als er einige Tage darauf wiederkam und als die Gräfin sich kräftiger fühlte, begann sie jedoch, das Gespräch auf das persönliche Gebiet hinüberzuführen und forderte Voltaire auf, jetzt als Greis Frieden mit der Kirche zu schließen, zu bereuen, was er gegen sie verbrochen hatte, Buße und Bekehrung zu geloben. Sie regte ihn dadurch so auf, daß sein Auge flammte und er die gesellschaftliche Rücksicht vergaß. Seine Kaltblütigkeit verlor sogar die Mäßigkeit des sprachlichen Ausdrucks, die stets seine Stärke gewesen war. Da aber mehr als hundertfünfzig Menschen, die zugegen waren, verwundert und lauschend ihn mit offenem Munde umstanden, nahm er sich zusammen, sprach nur mit herzlicher Zärtlichkeit zu seiner alten Freundin über ihren Gesundheitszustand, teilte ihr mit, daß er sich vor einigen Jahren selbst ganz ebenso schlecht wie sie befunden habe und sich durch eine einfache Kur wieder erholt hatte, die darin bestand, daß man sich nur von Eigelb, das man mit Kartoffelmehl und Wasser zusammenrührte, ernährte.

Der Graf von Ségur erzählt bei diesem Anlaß die unbedeutende Anekdote, daß einer der Anwesenden, als Voltaire, der für so witzig galt, die Worte »Eigelb und Kartoffelmehl« sagte, ihn am Arme packte und bewundernd ausbrach: »Welch ein Mensch, welch ein Mensch! Nicht ein Wort ohne einen Witz.«

Diese Anekdote über Verständnislosigkeit und affenartige Bewunderung ist in alter Zeit in viele Lehrbücher für Kinder übergegangen, auch in Dänemark, und der Verfasser dieses Buches weiß, daß diese Anekdote der Anlaß war, daß er als Kind in der Schule zum erstenmal den Namen Voltaire hörte.

Die nächste alte Dame, die Voltaire besuchte, war, wie oben erwähnt, die Marquise Latour-du-Pin-Gouvernet, ehemals Suzanne de Livry, seine Jugendgeliebte, die ihm vor zwei Menschenaltern mit dem Freunde Genonville untreu geworden war. Er überschritt ihre Schwelle mit nicht geringer Gemütsbewegung. Die Spannung wich einem Gefühl schmerzlicher Enttäuschung, die gegenseitig war.

Beide suchten unwillkürlich in dem Wesen, das vor ihnen stand, die Gestalt, die sie einmal bezaubert hatte und die sie in der Erinnerung immer als etwas Verlockendes gesehen hatten. Von der jungen Suzanne war noch weniger übrig als von dem jungen François, dessen Bild von Largillière aus seinem vierundzwanzigsten Jahre hier von der Wand auf ihn herabsah. Nichts konnte trauriger und mißglückter sein, als diese Begegnung. Sie fühlten sich beide wie versteinert; jedem von ihnen war eine teure Erinnerung zerschlagen worden, ein schöner Traum gegen eine wehmütige Wirklichkeit vertauscht worden.

Am Tage darauf sandte die Marquise Voltaire sein Jugendporträt zurück.

XIII

Während Voltaire in Paris dauernd der Gegenstand leidenschaftlicher Huldigung war, verhielt sich Versailles ständig gleich feindlich. Ja, ein früherer Jesuit, der Abbé de Beauregard, hielt am 12. April in der Schloßkapelle eine Predigt, in der er direkt auf Voltaire bezug nahm, ja den Kanzler angriff, daß er nicht gegen ihn eingeschritten war und die Äußerungen der Bewunderung für ihn verboten hatte.

Der Priester machte einen heftigen Ausfall gegen die neueren Philosophen und brandmarkte ihre abscheulichen Worte: Gott, der König, die guten Sitten wurden in Büchern angegriffen, die jede Regierung und jeden Glauben niederrissen und die nichtsdestoweniger unvorsichtigerweise geduldet wurden. Anstatt ihren Verfassern die verdiente Strafe einzubringen, brachten sie ihnen Kränze ein. Der König, bei dem sich der Prinz von Beauvau, Voltaires einziger Freund und Verteidiger am Hofe, über die Predigt beklagte, meinte, daß der Abbé, wenn auch in etwas zu starken Ausdrücken, nur seine Pflicht getan hätte. Und der Kanzler Miromesnil, der den Befehl gegeben hatte, die Zensur sollte jeden Angriff auf den Greis aus Ferney verbieten, solange er sich in Paris aufhielt, nahm seinen Befehl zurück.

Am 27. April begab sich Voltaire zur Akademie, die eine Sitzung abhielt. Der Abbé Delille las einige Bruchstücke von sich selbst und darauf eine Übersetzung vor, die er von einer der Episteln Popes unternommen hatte. Voltaire, der sich des Originals erinnerte, verglich die Übersetzung mit dem Grundtext, gab in mehreren Punkten seinem jungen Freunde Delille den Vorzug, und sprach dann mehr im allgemeinen über die Notwendigkeit, die französische Sprache durch neue Wörter zu bereichern: »Unsere Sprache«, sagte er, »ist eine äußerst arme, aber stolze Frau, wir müssen ihr Almosen gegen ihren Willen geben«, und er schlug z. B. vor, einen Schauspieler, der in tragischen Rollen auftrat, tragédien zu nennen. Man sieht, daß Voltaire diesen heutzutage so üblichen Ausdruck zuerst angewandt hat.

Doch davon ging er auf die Notwendigkeit über, das Wörterbuch der Akademie zu reformieren, zeigte, wie dieser Dictionnaire, dessen Ausarbeitung von Anfang an die Hauptaufgabe der Akademie gewesen, unzulänglich war, trocken, ohne große Gesichtspunkte, ohne Philosophie, eine Schande für die Literatur und für die Akademie. Diese sollte sich die Aufgabe stellen, so schnell wie möglich einen neuen zu schaffen.

Er sprach mit einem Feuer und mit einer Beredsamkeit, über die sich alle verwunderten.

Am 7. Mai kam er mit einem ganz ausgearbeiteten Plan zu dem neuen Wörterbuch, einem Plan, den er nicht nur vortrug, dessen Annahme er sogar sofort verlangte. Es gebührte jedem Akademiker, einen Buchstaben im Alphabet zu behandeln. Er selbst erklärte sich bereit, den an Worten so reichen Buchstaben A zu übernehmen.

Als er sich zurückzog, nachdem sein ausführlicher Plan von der im Innersten widerstrebenden und bequemen Akademie angenommen war, sagte er: »Meine Herren, ich danke Ihnen im Namen des Alphabets.« Der Ritter von Castellux antwortete höflich für die Akademie: »Und wir danken Ihnen unsererseits im Namen der Literatur.«

XIV

Zwei Tage nach dem ersten dieser Besuche in der Académie Française, am 29. April, wohnte Voltaire einer Sitzung in der Académie des Sciences bei, in der seine Anwesenheit ein Ereignis wurde.

Da man wußte, daß er sich einfinden würde, hatte ein Schwarm von geputzten Damen, Schriftstellern und vornehmen Leuten den Sitzungssaal überschwemmt. Kaum zeigte er sich, als alles ein einziger stürmischer Applaus war. Obgleich er nicht Mitglied war, machten ihm die Mitglieder sofort unter sich Platz. Franklin, der dort war, öffnete seine Arme und die beiden berühmten Männer umarmten sich wieder herzlichst.

In seiner Rede über ein kürzlich abgerufenes Mitglied fand der Marquis von Condorcet, Voltaires treuer Verehrer, Gelegenheit, einen Absatz zu Ehren des großen Gastes einzuflechten. Er erzählte, daß er die Landschaft Gex besucht hatte, die kleine französische Gegend, die durch die Alpenkette von Frankreich getrennt lag und geographisch mit der Schweiz verbunden war. Sie litt unter zahllosen Zoll- und Abgabeschwierigkeiten, bis Voltaire, durch die Not der Bevölkerung zu Tränen gerührt, ihr Wohltäter geworden war.

Auch diese Rede wurde von den Anwesenden mit einstimmigem Beifall aufgenommen, der weniger dem Redner als dem Verfasser der Abhandlungen über das Feuer und die Newtonsche Philosophie galt.

Am 4. Mai war Voltaire incognito Zeuge der siebenten Aufführung von Irène gewesen, hatte auf der Bühne den Schauspielern mit Wärme gedankt und einige von seinen Manuskripten zurückerbeten, um in Ruhe und Muße in Ferney die Schauspiele zu verbessern, die auf dem Spielplan standen. Am 7. Mai, am selben Tage, an dem er die Akademie über seinen Plan zu einem Wörterbuch unterhalten hatte, sah er incognito, verborgen in einer kleinen Loge, Alzire. Als aber der Schauspieler Larive zum Schlusse des vierten Aktes als Zamore alle hinriß und Voltaire den Ausruf: »Wie gut das war!« nicht zurückhielt, wurde er selbst mit stürmischem Beifall begrüßt, mit rasendem Applaus, der den ganzen Zwischenakt hindurch andauerte, so daß er genötigt war, sich zu erheben und zu danken. Der Beifallssturm war so gewaltig, daß Madame Vestris, die den fünften Akt eröffnete, drei-, viermal vergeblich versuchte, ihre Rede vorzutragen. Sie wurde übertönt, bis Voltaire durch Handbewegungen dem Publikum für seine Güte dankte und bat, das Stück ungestört zu Ende spielen zu lassen. Die Rufe hörten dann einen Augenblick auf, aber das Publikum konnte sich beim Anblick Voltaires nicht ruhig verhalten, und während des ganzen fünften Aktes hielt der Jubel an, während die Schauspieler, in der allgemeinen Begeisterung und Erregung, spielten, wie sie vorher niemals gespielt hatten.

XV

Diese Ovationen, die sich täglich wiederholten und durch die sich ein Mann mit guter Gesundheit nur ermuntert gefühlt hätte, mußten die Nerven eines kranken und schwerleidenden Mannes angreifen. Er war ja fast ein Menschenalter lang dem Leben einer Großstadt fern gewesen, hatte als Herr über seine Zeit in den späteren Jahren in der Regel keinem neugierigen Gast nur gestattet, über die Schwelle seines Arbeitszimmers zu kommen. Hier wollte er aber sogar noch Arbeitsamkeit mit einem Leben im Gedränge und Getümmel, in unaufhörlichem Zusammensein mit bunten Menschenscharen vereinen.

Er hielt es für seine Ehrenpflicht, die Grundlage zu dem Wörterbuch zu schaffen, dessen Herausgabe er seinen Kollegen vorgeschlagen hatte, und er beabsichtigte einen Plan, der mehr in Einzelheiten ging, in der Sitzung vom 11. Mai vorzulegen. Als es sich herausstellte, daß er zu schwach war, sich auf dieser einzufinden, wurde die entscheidende Sitzung auf den 18. desselben Monats festgesetzt, und da das schlechte Befinden auch an diesem Tage Voltaire zwang, zu Haus zu bleiben, wurde die Sitzung wieder auf den 25. verschoben.

Die Akademie sah ihn nie wieder. –

XVI

Bereits am 11. Mai hatte sich Voltaire nicht wohl gefühlt und hatte sich ins Bett gelegt. Er hatte Fieber. Der Herzog von Richelieu, der nach ihm zu sehen kam, sprach mit ihm über ein Betäubungsmittel, das er selbst zu gebrauchen pflegte, wenn er einen Gichtanfall hatte, und versprach seinem alten Freund, es »brüderlich« mit ihm zu teilen. Da Voltaire kurz darauf an heftigen Schmerzen litt und ihm schrieb, daß er diese nicht aushalten könne und sich das Elixir des Herzogs erbat, zeigte es sich, daß dieses Elixir auf sein Befinden eine höchst ungünstige Wirkung ausübte. Die beiden Freunde hatten ja nicht dieselbe Konstitution oder dasselbe Temperament. Der Schwächezustand des Kranken erschreckte die Umgebung. Er war wie gebrochen, konnte nicht einmal dazu bewogen werden, ein bißchen Bouillon zu sich zu nehmen.

Der Gemeindepriester von Saint-Sulpice fand sich an dem Sterbebett ein und forderte mit äußerster Leidenschaft den Patienten auf, die göttliche Natur Jesu Christi anzuerkennen. Er antwortete nur »Laßt mich in Frieden sterben!«

Belle et Bonne blieb am Bette des Sterbenden sitzen. Sie sagte zu Lady Morgan: »Alles was man über Voltaires Angst und Entsetzen auf dem Totenlager aufgebracht hat, ist von seinen Feinden erfunden. Bis zum letzten Augenblick atmete sein ganzes Wesen das Wohlwollen und die Güte, die in seinem Charakter lagen; alles verkündete Ruhe, Frieden, Entsagung, wenn man allein den kleinen Anfall von Ungeduld gegenüber der Belästigung durch den Gemeindepriester ausnimmt.«

Am 30. Mai 1778, 11 Uhr abends, verschied Voltaire.

XVII

Am 31. Mai schrieb seine alte Freundin, Madame du Deffand, wie gewöhnlich ihren Brief an Horace Walpole. Die ersten zwanzig Zeilen des Briefes nimmt die Beschreibung eines Krankheitsanfalles ein, der vor einiger Zeit ihren Lakaien Colman infolge eines Sturzes auf der Treppe betroffen hatte.

Ob er nun außerdem an Gicht gelitten hat oder nicht, er bekam bald an einer, bald an einer anderen Stelle Schmerzen, und am neunten Tage nach seinem Fall, vorgestern, ist er gestorben. Es ist ein Verlust für mich. Er hatte mir einundzwanzig Jahre lang gedient, er nützte mir bei den verschiedensten Dingen. Ich entbehre ihn und der Tod ist ein so furchtbares Ereignis, daß er einen unvermeidbar traurig stimmt. Aber in trauriger Gemütsverfassung habe ich gemeint, Ihnen nicht schreiben zu dürfen, deshalb habe ich auf Ihren Brief vom 22. nicht antworten können. Gestern habe ich nun meine Meinung geändert, da ich den Gedankenaustausch, der mir der wohltuendste ist und vielleicht der einzige Umstand, der mir das Leben erträglich macht, nicht abbrechen will.

Ich danke Ihnen für alle Neuigkeiten, die Sie mir mitgeteilt haben; ich kann keine Vergeltung üben; es scheint mir, als weiß ich noch weniger als die Zeitung, ich nehme so geringen Anteil an dem, was geschieht, daß meine Unwissenheit vielleicht eine Wirkung meiner Gleichgültigkeit ist. Ich weiß nur, daß der Maréchal von Broglie das Kommando über die Truppen in der Bretagne und der Normandie hat und daß sein Bruder nicht bei ihm sein, sondern in Metz befehlen soll.

Alles reist fort, das heißt, alle, die mich zu besuchen pflegen.

Der Abbé Sigorgne ist hier und ich hoffe, er wird bis zum August bleiben usw. (Noch 13 enggedruckte Zeilen desselben Interesses, dann als Nachschrift:)

Es ist wahr, ich habe etwas Wichtiges vergessen, Voltaire ist gestorben … Man weiß nicht, was man mit der Leiche tun soll. Der Gemeindepriester in Saint-Sulpice will sie nicht entgegennehmen. Wird man sie nach Ferney schicken? Aber er ist von dem Bischof des Kreises, zu dem Ferney gehört, mit dem Banne belegt …

Madame du Deffand, die sich Voltaires nahe Freundin nannte und mit ihm 46 Jahre hindurch korrespondiert hatte, vergaß seinen Tod am Tage, nachdem er eingetreten war, über den Verlust eines ihr nützlichen Lakaien und über solche Fragen, wo sich der Marschall von Broglie und der Abbé Sigorgne im Augenblick aufhielten.

Und während die Freundin diese kühle Mitteilung über den Todesfall machte, verbreitete die Geistlichkeit in Paris die schrecklichsten Beschreibungen der Todesfurcht Voltaires, seiner Reue, seines Entsetzens vor dem Teufel, der nun gekommen war, ihn zu holen.

Die Menschen standen noch vor seiner Tür in Paris, um nach seinem Befinden zu hören, als sein entseelter Körper bereits nach Scellières gebracht war.

Die Mucker triumphierten, als sie seinen Tod erfuhren und verheimlichten ihre Freude nicht, gerade so, als wenn seine Schriften mit ihm gestorben wären.

XVIII

Seine Umgebung hatte sich auf die Schwierigkeiten vorbereitet, die sich ergeben würden.

Sein Neffe, der Abbé Mignot, hatte während der Krankheit Voltaires den Priester von Saint-Sulpice gefragt, ob einer üblichen Beisetzung Hindernisse in den Weg gelegt würden. Der Priester hatte geantwortet, falls Herr de Voltaire nicht öffentlich und feierlich und in den geringsten Einzelheiten für das Ärgernis, das er verursacht hatte, Genugtuung gab, könnte er nicht in geweihter Erde begraben werden.

Es nützte nichts, daß der Abbé einwandte, sein Onkel habe ein schriftliches Glaubensbekenntnis abgelegt und verschiedene Werke abgeleugnet, die man ihm zugeschrieben hatte, ja, daß er sogar geschrieben habe, falls er Anlaß zum Ärgernis gegeben habe, so bäte er deshalb um Vergebung.

Der Priester blieb bei seinem: Voltaire war als erklärter Feind der Religion bekannt; er müßte also eine Genugtuung geben, die ebenso auffallend, wie der Skandal allgemein gewesen war.

Die beiden Neffen Voltaires, von denen der eine, der Abbé Mignot, Conseiller au grand Conseil, der andere, Dompierre d'Hornoy, Conseiller au parlament war, suchten Amelot auf, den Minister des Departements Paris und den Leiter der Polizei, Lenoir. Aber der Minister begnügte sich mit einer Beratung mit dem Abbé de Tersac, dem obengenannten Priester von Saint-Sulpice, der auf Befehl des Erzbischofs auf die Frage einer Beisetzung auf dem Gemeindekirchhof mit einer unbedingten Ablehnung antwortete.

Der Priester wollte sich nicht – wie er gekonnt hätte – einer Überführung der Leiche nach Ferney widersetzen, wo sich Voltaire sein Badezimmer zur Grabkammer ausersehen hatte. Aber es war beinahe sicher, daß man dort demselben Widerstand, ja noch einem stärkeren, begegnen würde. Der Bischof in Annecy würde von einer aufsichterregenden Handlung nicht zurückweichen und würde sich unerbittlich zeigen.

Es wurde nun verabredet, daß der Abbé Mignot den Verstorbenen in seiner eigenen Abtei Scellières in der Provinz Champagne begraben sollte.

In der Nacht zwischen dem 30. und 31. Mai wurde die Leiche geöffnet und in aller Eile, deshalb sehr schlecht, balsamiert. Als man die Gehirnschale öffnete, die eher klein war, erweckte das Gehirn durch seinen Umfang und seine Masse Erstaunen. Der Chirurg bat um die Erlaubnis, das kleine Gehirn behalten zu dürfen. Der Marquis de Villette bemächtigte sich heimlich des Herzens. Mit einem Hausrock bekleidet, die Nachtmütze auf dem Kopf, wurde die schmächtige Leiche unter den Armen angefaßt und zu dem wartenden Wagen hinuntergebracht, einem sechsspännigen Gefährt, wo sie einem Diener übergeben und in einer Stellung untergebracht wurde, wie sie ein schlafender Mann einnimmt.

Ein zweiter Wagen folgte, in dem das kleine Gefolge saß, Dompierre d'Hornoy und seine beiden Vettern, Marchand de Varennes und Marchand de la Houlière, jener maître d'hôtel du roi, dieser Brigadegeneral der Infanterie. Der Abbé Mignot war vorausgefahren, um dem Prior in Scellières den Todesfall mitzuteilen und ihm zu erklären, welchen Dienst man von ihm erbat.

Man meinte, die Leiche könne in Scellières in Verwahrung bleiben und von dort aus in Übereinstimmung mit dem Testament nach Ferney überführt werden. Es kam nur darauf an, von vornherein sich gegen eine Schändung zu sichern. Es war ja Voltaires ständiger Gedanke gewesen, den Schindanger zu vermeiden. Er hatte eines Tages ausdrücklich zu Tronchin gesagt: »Was ich ersehne, ist nur Einsamkeit und ein Grab. Wird man es mir mißgönnen?« Er hatte geglaubt, niemand könne Hindernisse in den Weg legen, daß man ihm sein Grab in dem erwähnten Badezimmer einrichtete.

Um den Prior zu beruhigen, zeigte Mignot ihm die Erlaubnis des Gemeindegeistlichen zur Fortführung der Leiche. Diese lautete:

Ich willige ein, daß der Leichnam des Herrn de Voltaire ohne Ceremonie fortgeschafft wird und verzichte in dieser Hinsicht auf alle kirchlichen Rechte.

Paris, 30. Mai 1778.
S. de Tersac, Priester von Saint-Sulpice.

Er legte außerdem noch eine Bevollmächtigung des Ministers vor, die Leiche nach Ferney oder anderswohin zu überführen.

Der Priester wollte seinem weltlichen Vorgesetzten gern entgegenkommen. Die Leiche war so schlecht balsamiert, daß sie bereits in Verwesung übergegangen war und nicht mehr weitergeführt werden konnte. Sie wurde im Keller der Klosterkirche in einem einfachen Sarg beigesetzt. Am Morgen um fünf Uhr wurde eine Messe gelesen. Um die Mucker zu beruhigen, erzählte man, daß die Leiche zwei Fuß hoch mit ungelöschtem Kalk bedeckt worden wäre, der sie spurlos aufgezehrt hätte. Der Erzbischof hatte inzwischen an den Bischof in Troyes geschrieben, er solle die Beisetzung verhindern. Aber die Verwandten des Verstorbenen hatten sich so sehr beeilt, daß das Verbot zu spät kam.

Der Prior entschuldigte sich bei seinen geistlichen Vorgesetzten damit, daß man sogar dem Ex-Kommunizierten nicht das Grab verweigerte, und Voltaire war nicht exkommuniziert. Es nützte ihm nichts; er wurde verabschiedet. Der Abbé Mignot blieb nur deshalb ungestraft, weil er nicht allein Abbé war, sondern Conseiller au grand Conseil.

XIX

Das charakterlose Ministerium, das zwischen der Erbitterung der Enzyklopädisten und den durch die mächtige Geistlichkeit aufgehetzten Gläubigen stand, verbot den Zeitungen, über Voltaire zu schreiben; sie durften weder Gutes noch Schlechtes über ihn sagen. Journal de Paris, das alle Todesfälle veröffentlichte, erhielt den Befehl, diesen nicht mitzuteilen. Die Schauspieler erhielten vom Hofe ein ausdrückliches Verbot, irgendein Stück von dem Dichter zu spielen, dem sie erst ganz kürzlich gehuldigt hatten – ein Verbot, dessen Durchführung sich als unmöglich erwies, da seine Schauspiele das Repertoire trugen.

Die Akademie bestellte für Voltaire eine Messe bei den Franziskanern. Der Erzbischof hatte jedoch den Mönchen verboten, diese Messe ohne seinen Befehl zu lesen; sie antworteten deshalb, daß sie es nicht tun könnten, ehe sie die Erlaubnis der Behörde eingeholt hätten. D'Alembert wandte sich an das Mitglied der Akademie, Fürst Louis de Rohan, der bei der Geistlichkeit großen Einfluß besaß und der als Kardinal und literarisch Interessierter geeignet schien, seinem Kollegen gegenüber entgegenkommend zu sein. Der Prälat antwortete mit der Versicherung seines guten Willens und mit dem Rat, die Angelegenheit hinauszuschieben, um in der Zwischenzeit nach Möglichkeit die Wege zu ebnen.

D'Alembert schrieb am 1. Juli an Friedrich:

Die Akademie hat bis jetzt noch nicht für Voltaire den Gottesdienst gehalten, den sie stets für diejenigen abhält, die sie verliert, und vielleicht wird sie trotz aller Gesuche diese Erlaubnis nicht erlangen. Die Ablehnung ist eine neue Kränkung für den Mann, den wir vermissen. Übrigens erweisen ihm alle Schriftsteller die berechtigte Rücksicht, daß sich keiner um den freien Platz als sein Nachfolger bewirbt, und man glaubt, daß die Wahl nicht so schnell stattfinden wird. Sie sollte niemals stattfinden. Wäre man einig mit mir, so ließe man den Platz leer bleiben.

Friedrich setzte auf D'Alemberts Bitte durch, daß die erwähnte Messe in der katholischen Kirche in Berlin gelesen wurde, wie er auch in der Zeit, als Voltaires Name in Frankreich nicht genannt werden durfte, die Lobrede selbst in seiner eigenen Akademie hielt.

XX

Wie lehrreich Voltaires Schicksal ist! Zu seinen Lebzeiten ausgewiesen, landesflüchtig, bedroht, verfolgt, außerdem stets von den bellenden und bissigen Kötern der Literatur umringt, dann – als er den Tod schon in sich trug – gefeiert, gepriesen, applaudiert, bekränzt, gekrönt. Dann nach dem Tode jeder Schmähung ausgesetzt, seinen Feinden preisgegeben, die ihn, soweit sie konnten, des Grabes beraubten.

Sein Geschick unterscheidet sich nicht von dem der Größten. Man erinnere sich an Michelangelo, der im Alter von 88 Jahren als Baumeister der St. Peterskirche mit einer Schar von Feinden kämpfen und sich gegen die Behauptung wehren mußte, daß er nichts von der Architektur verstände und das Geld vergeudete. Oder an Rembrandt, den die Zeitgenossen als so veraltet betrachteten, daß er nicht einmal imstande war, sein Brot zu verdienen, sondern tiefer und tiefer in Schulden sank und mit 50 Jahren bankerott erklärt wurde. Oder an Shakespeare, der sich nach Stratford zurückzog, um seine Schande als Schauspieler in Vergessenheit zu bringen und dann starb, ohne in seinem Leben an seinem Ruhm Freude gehabt zu haben, sogar so unbeachtet, daß niemand in England seinen Tod bemerkte. Oder an Beethoven, der bei seinen Verlegern ständig Schulden hatte und dem seine Werke nichts einbrachten. Seine Messe in D, die auf Subskription herauskam, hatte sieben Subskribenten, darunter nicht einen Musiker. Er erhielt 30 bis 40 Dukaten für seine bewundernswerten Sonaten, von denen ihn jede mindestens drei Monate kostete. Er rieb sich in häuslichen Sorgen auf.

Im Vergleich mit diesen war Voltaire glücklich.

Man verbot Voltaires Familie, ein bescheidenes Grabmal in der kleinen Provinzkirche, in der er beigesetzt war, aufführen zu lassen. Mignot hatte eins bei dem Bildhauer Claudion bestellt. Es sollte auf dem nackten inschriftlosen Grabstein stehen. Aber Mignot mußte auf diesen Plan verzichten.

Madame Denis schenkte das Jugendporträt Voltaires, das ihm die Marquise de Gouvernet zurückgeschickt hatte, der Akademie, die es »mit Dankbarkeit und Trauer« empfing.

Die Akademie wollte ein anderes Porträt nach Houdons Büste malen lassen und diese beiden Bilder, die mit einer Zwischenzeit von 60 Jahren gemalt waren, sollten dann im Sitzungssaal der Akademie hängen. Aber statt dessen schenkte Houdon selbst die Terrakottabüste.

Katharina wollte Voltaires Büchersammlung mit seinen zahlreichen Randbemerkungen in den Büchern besitzen, außerdem die Manuskripte, und Briefe im Original, wobei sie den Erben natürlich gestattete, Abschriften von jedem Schriftstück zu nehmen. Die Bibliothek war klein, im ganzen 6200 Bände. Voltaire war nämlich alles andere als ein Bibliophile, er benutzte die Bücher nur als Handwerkszeug; fand die meisten zu weitläufig, riß oft zwanzig oder dreißig, nach seiner Auffassung allein wertvolle Blätter aus einem Buch von vielen hundert Seiten heraus, ließ sie zusammenheften und warf den Rest fort. Katharina war so großherzig, Madame Denis 135 000 Livres und außerdem eine Menge kostbarer Geschenke für diese Bücher zu geben. Sie schrieb ihr dazu einen Brief, in dem sie für das ihr erwiesene Wohlwollen herzlichst dankte: »Ich bin für die Achtung und das Vertrauen, die sie mir erwiesen, sehr empfänglich; es schmeichelt mir im hohen Grade, daß diese in der Familie erblich zu sein scheinen.« Madame Denis war nicht zu bewegen, sich jemals wieder nach Ferney zu begeben, wo die braven Leute, denen Voltaire als Kolonisten Obdach geschenkt hatte, nun von ihr ganz abhängig waren. Sie verkaufte pietätlos Ferney für 230 000 Livres an Villette, der sich ohne Wissen der Neffen Voltaires das Herz des Verstorbenen angeeignet hatte und es nun geschmacklos in dem früheren Schlafzimmer des Dichters in einer silbervergoldeten Büchse untergebracht hatte, die in einer Pyramide stand, gegen die sich ein Altar lehnte.

XXI

Es war Voltaires Hinterlassenen verboten, ihm ein Denkmal aus Marmor oder Bronze zu errichten. Aber es galt, ein anderes Denkmal zu errichten, das dauerhafter als irgendeines aus Stein oder Metall war, eine Ausgabe der zahlreichen anonymen, pseudonymen, von ihrem Urheber immer verleugneten Werke.

Der Buchhändler Pancoucke, der seinerzeit mit seiner Schwester Madame Suard Voltaire in Ferney besucht hatte, beschloß, die gesammelten Schriften des großen Schriftstellers herauszugeben und wollte zu allererst das Material dazu zusammenbringen. Madame Denis überließ ihm zwei Kisten mit Papieren und Manuskripten; es waren Berichtigungen früher herausgegebener Sachen.

Von wirklichem Wert waren die Tausende von Briefen Voltaires. Aber die Damen und Herren der besten Gesellschaft, die diese oft in großer Zahl besaßen, wollten sie nicht entbehren. Pancoucke gewahrte Hindernisse jeder Art, außerdem bevorstehende Verfolgungen.

Beaumarchais, der größeren Wagemut besaß, kaufte daher von Pancoucke für 160 000 Livres die Papiere und das Verlagsrecht. Obwohl Beaumarchais die Zusage heimlicher Beschützung von dem Minister Maurepas hatte, ließ er den Satz vorsichtigerweise in Kehl in Baden beginnen. Voltaires Werke durften auf französischem Boden nicht gedruckt werden. Der Markgraf von Baden gab mit Freuden seine Zustimmung zur Herausgabe, da sie seinem kleinen Lande eine Menge Arbeiter sicherte, die zur Vollendung des Werkes nötig waren.

Es knüpften sich also an die Herausgabe der Voltaireschen Schriften jenseits des Rheins keine Schwierigkeiten; die Schwierigkeit war, die Bücher über die Brücke bei Kehl nach Frankreich zu bringen.

Der Prospekt erschien 1781; er allein war ein kleiner Band. Doch die Geistlichkeit wachte. Im selben Jahre dachte Beaumarchais daran, Voltaires Samson, den er durchgesehen hatte, aufführen zu lassen. Aber das mußte er aufgeben. Ebenso begegnete die Voltaire-Ausgabe jeder möglichen Behinderung. Der Bischof in Amiens erließ ein donnerndes Manifest, in dem er jedoch die Ungeschicklichkeit beging, auf den Chevalier von La Barre hinzuweisen. Der Erzbischof in Vienne erließ ein Rundschreiben an seine Gemeindekinder, in dem er ihnen ans Herz legte, daß sie auf ein so verderbliches Produkt nicht subskribieren könnten, ohne eine Todsünde zu begehen.

Friedrich der Große, der seine Freude über das Unternehmen ausgesprochen und ihm alles Gute gewünscht hatte, wurde aufs schmerzlichste von einer Stelle in einer Schrift Voltaires getroffen, die dieser niemals veröffentlicht hatte oder veröffentlichen wollte.

1759 hatte Voltaire – noch unter dem Eindruck des demütigenden Auftrittes in Frankfurt – die Mémoires pour servir à la vie de M. de Voltaire niedergeschrieben, in denen Friedrich mit Kühle, doch ohne herabsetzende Äußerungen geschildert ist, in denen sich aber über seine geschlechtliche Eigenart elf Zeilen fanden, die (wahr oder unwahr) ihn notwendigerweise tödlich verletzen mußten, wenn sie ihm vor Augen kamen.

Voltaire hatte gewohnheitsgemäß sein Manuskript eingeschlossen. Aber wie wir gesehen haben, verstand er es schlecht, auf seine Manuskripte aufzupassen, ließ hin und wieder den Schlüssel im Schloß zum Manuskriptenschrank wie zu seinen doppelten Louisdors stecken. Ohne daß man es ahnte, nahm dann jemand einfach Abschriften von ihnen.

Als er sich mit dem König von Preußen versöhnt hatte und als die beiden alten Freunde den Briefwechsel wieder aufnahmen, warf Voltaire jenes Manuskript ins Feuer. Er dachte nicht daran, daß Wagnière zwei Abschriften davon angefertigt hatte. Als es sich aber erwies, daß La Harpe sich im Jahre 1768 eine dieser Abschriften angeeignet hatte, wurde er von Ferney weggejagt und da Madame Denis seine Mitschuldige gewesen war, wurde auch sie vor die Tür gesetzt und erhielt erst viel später die Erlaubnis, zurückzukehren. Die eine Abschrift kam nach dem Tode Voltaires in Katharinas Besitz, die andere übergab Madame Denis, die seit dem Abenteuer in Frankfurt den König von Preußen aus ganzem Herzen haßte, Beaumarchais, damit er diese Memoiren in Voltaires gesammelte Schriften aufnehmen konnte.

Beaumarchais hatte bei seinem Geschäftssinn das Gefühl, daß diese Indiskretionen ein Vermögen einbringen konnten. Er las sie im engeren Kreise vor, so daß sie bekannt wurden. Die Regierung befürchtete, daß ihre Herausgabe diplomatische Schwierigkeiten mit Preußen herbeiführen würde, und der Minister Herr de Vergenne gab deshalb Beaumarchais den Befehl, sie ungedruckt zu lassen. Sie erschienen denn auch erst 1790 im letzten Bande der Kehler Ausgabe, als Friedrich schon vier Jahre im Grabe ruhte.

Aber bereits von 1784 an waren die Memoiren (nach einer oder der anderen gestohlenen Abschrift) in lebhaftem Umlauf in Paris, und der preußische Gesandte Baron von Goltz versuchte vergeblich, den Absatz zu unterbinden. Es kann auch kein Zweifel darüber herrschen, daß Friedrich sie in seinen letzten Lebenstagen gesehen hat und daß er es gefühlt hat, als ob der Mann, dem er so nahe gestanden und zu dem er bis zu seinem Tode trotz allem das gute Verhältnis bewahrt hatte, sich nun nach dem Tode auf unwürdige Weise an ihm rächte für einen längst ausgeglichenen Zwischenfall, der älter als ein Menschenalter war.

Er erwähnte diese Memoiren niemals. Aber er wollte auch niemals Houdons von ihm selbst bestellte Voltairebüste sehen.

XXII

Die Kehler Ausgabe zerstörte Beaumarchais' Finanzen. Er hatte besonders mit der Korrespondenz als Anziehungskraft für das große Publikum und am meisten auf den Briefwechsel mit Herrschern gerechnet. Man erwartete keinen Protest von Rußland oder Preußen. Als aber Katharinas Briefe gesetzt und gedruckt waren, kamen der Kaiserin Bedenken, und sie wollte nicht, daß Voltaires Leser anderes oder mehr über sie erfuhren, als was sie für unschädlich hielt. Grimm mußte als ihr Vertreter ein mit weißem Papier durchzogenes Exemplar verlangen, in dem Katharina fortstreichen und hinzufügen konnte. Sie feilte und änderte und erweiterte die armen Briefe so stark, daß die Druckkosten durch den Neudruck ungeheuerlich stiegen. Es war Beaumarchais von Rußland versprochen worden, daß er für diese unvorhergesehenen Unkosten schadlos gehalten würde. Aber das Versprechen wurde vergessen.

Dazu kam, daß man in der Hoffnung auf einen starken Absatz 15 000 Exemplare gedruckt hatte; die Zahl der Subskribenten war jedoch nur 2000. Es vergingen drei Jahre, ehe die ersten Bände zur Ausgabe fertig waren, sie wurden 1783 veröffentlicht. 1785 waren noch nicht mehr als dreißig Bände herausgekommen.

Da begannen die Verfolgungen. Der Erzbischof von Paris machte die Ausgabe in einer Bekanntmachung herunter. Ein Conseilbefehl vom 3. Juni 1785 verbot ihren Verkauf. Man mußte also hunderte von Bänden nach Frankreich schmuggeln und versuchen, eine verschärfte Wachsamkeit zu täuschen. Die Regierung wollte die Subskription unterbinden und erließ an die Journalisten ein Verbot, das Werk zu besprechen oder nur den geringsten Hinweis darauf zu bringen. Wie oben angedeutet, brachte das Beaumarchais einen Verlust von einer Million.

Als im August 1792 die Pariser Bevölkerung, der man eingeredet hatte, Beaumarchais habe sein Haus Boulevard Saint-Antoine in ein Zeughaus umgewandelt, in großen Scharen in sein Haus eindrang, um sich dort der Kanonen und Gewehre zu bemächtigen, fand man nur die losen, reingedruckten, nicht abgesetzten Bogen der Oeuvres complètes de Voltaire, einen Berg von Papier.

Nach dem Sturze Napoleons, als die durch die Rückkehr der Bourbonen aufblühende Reaktion von der Intelligenzpartei bekämpft wurde, erschienen von 1817-1829 nicht weniger als zwölf verschiedene Ausgaben von Voltaires gesammelten Werken. Bloß in den ersten sieben Jahren 1817-1824 setzte ein einziger betriebsamer Verleger 1 598 000 Bände von ihnen ab, in den nächsten fünf Jahren kam eine entsprechende Anzahl heraus, was drei Millionen Bände Neudruck für eine Zeit von nur zwölf Jahren ergibt.

Seither haben die Ausgaben, die stets umfangreicher wurden, einander abgelöst.


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